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"Mini-Gehirne" aus Stammzellen
Was denkt ein Organoid in der Petrischale?

Zu jedem Menschen gehört ein Gehirn als Schaltzentrale. Ein menschlicher Körper ohne Gehirn ist nicht vorstellbar. Umgekehrt gilt das inzwischen nicht mehr. Im Labor züchten Stammzellenforscher und Neurowissenschaftler immer bessere, kleine Gehirne.

Von Michael Lange | 01.01.2019
Stammzellenforschung
Wächst im Glasgefäß ein fühlendes und denkfähiges Wesen? (Imago)
Nicht ganz 1,5 Kilogramm schwer. Kaum größer als eine Pampelmuse. Und dennoch: Das Gehirn des Menschen gilt als größte Leistung der Evolution. Wahrnehmen. Denken, Fühlen. Sich erinnern. Alles möglich: mit Gehirn.
"We like the idea of cells organize themselves."
Menschen ohne Gehirn. Nicht vorstellbar. Aber menschliche Gehirne ohne Menschen, die gibt es wirklich. Zumindest etwas Ähnliches. "Mini-Gehirne" schreiben die Zeitungen. "Organoide" sagen die Wissenschaftler.
"Eigentlich ist es nicht wirklich ein Gehirn"
"Es ist absolut faszinierend zu sehen, wie der Überlebenswille dieser Zellen sie dazu treibt, gewebeähnliche Strukturen aufzubauen."
Die kleinen Gehirne will ich kennen lernen. Was machen sie? Was können sie? Wahrnehmen? Denken, Fühlen? Warum werden sie gezüchtet?
"Mein Name ist Michael Heide. Ich bin Wissenschaftler und ich bin sozusagen für die cerebralen Organoide zuständig."
Den Begriff Mini-Gehirne hört man nicht so gerne - am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden. Richtig heißt es: "Cerebrale Organoide".
"Man kann sie natürlich Mini-Gehirne nennen, aber eigentlich ist es nicht wirklich ein Gehirn. Es ist eher ein Gewebeverband, der neuronales Gewebe nachstellt."
Um mir die Organoide aus der Nähe anzuschauen, begleite ich Michael Heide ins Labor.
Autor: "Wir haben jetzt die Laborhandschuhe angezogen."
Heide: "Genau, weil hier alles steril sein muss. Es ist Zellkultur, und die Zellen dürfen nicht kontaminiert werden mit Bakterien oder Ähnlichem."
Autor: "Wir gehen in einen kleinen Raum. Da eine sterile Werkbank und ein Mikroskop. Sie sprühen etwas auf die Handschuhe."
Heide: "Genau, ich sprühe Ethanol auf die Handschuhe, damit die wirklich sauber sind."
Autor: "Wo wachsen hier die cerebralen Organoide?"
Heide: "Die cerebralen Organoide wachsen in Inkubatoren. Das sind kleine Räume, die 37 Grad Temperatur haben. Körpertemperatur. Und eine feuchte Umgebung, damit sie uns nicht eintrocknen."
Autor: "Von außen sieht es aus wie ein Kühlschrank und drinnen ein Schüttler. Kleine Schalen, die werden hin und her geschüttelt."
Heide: "In diesen kleinen Schalen befinden sich die Organoide, und die schütteln, damit sie gut mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt werden.
Autor: "Können wir eine davon mal herausnehmen?"
Heide: "Ja, natürlich."
Menschliche Gehirne kenne ich nur von Bildern oder aus Filmen. Mein eigenes Gehirn habe ich noch nie gesehen. Wie auch?
Autor: "Jetzt öffnen Sie eine Glastür. Und hinter der Glastür sind bestimmt ein Dutzend kleine Schälchen. Darin eine rötliche Flüssigkeit."
Heide: "Diese rötliche Flüssigkeit ist ein Nährmedium, das alle möglichen Komponenten beinhaltet, die die Organoide für ihr Wachstum benötigen."
Autor: "Was einige Mini-Gehirne nennen und Sie Organoide, sind eigentlich nur kleine weißliche Punkte. Die schwimmen in einer rötlichen Suppe."
Heide: "Die müssen wir uns unter dem Mikroskop anschauen, damit wir die Feinstrukturen wirklich sehen können."
Autor: "Durchmesser so etwa ein bis zwei Millimeter."
Heide: "Genau, die sind noch relativ früh. Sie können aber bis zu einem halben Zentimeter im Durchmesser werden."
Ein Modell für die Evolution des menschlichen Hirns
Ehrlich gesagt, ich habe mehr erwartet. Fünf Millimeter Durchmesser, das wäre in etwa Erbsengröße. Aus Zeitungsartikeln kenne ich den Begriff "Erbsengehirn." Die Exemplare, die Michael Heide in ihren Schälchen vorsichtig unter das Mikroskop legt, sind deutlich kleiner, eher wie Stecknadelköpfe. Weißlich trüb schwimmen sie in der rosa Flüssigkeit. Ihre Schönheit entfalten sie erst unter dem Mikroskop. Da erscheinen sie unregelmäßig geformt, fast wie Wolken oder im Wasser treibende Flocken.
"Das Organoid sieht aus wie ein kleiner Klumpen. Und in diesen kleinen Klumpen sehen Sie hellere Bereiche Das sind so genannte Ventrikel. Die Orte, an denen sich die neuronalen Stammzellen befinden."
Bekommen die kleinen Gehirne mit, dass wir sie beobachten? Können Sie vielleicht sogar denken oder fühlen? Schließlich sind es Gehirnstrukturen, wenn auch winzig klein.
Große Fragen, die von den Wissenschaftlern zunächst mit einem Kopfschütteln beantwortet werden. Ich werde sie zurückstellen. Zunächst die Fakten.
Aus Stammzellen werden Gehirnzellen
Die Organoide stammen aus einfachen Blut- oder Hautzellen. Die Forscher haben die Zellen zunächst verjüngt. So entstanden aus reifen Körperzellen vielseitige Stammzellen. Die entwickelten sich weiter zu Gehirnzellen. Und aus denen bestehen die Organoide. Gehirnähnlich, menschlich und irgendwie aktiv. Aber wozu?
Für den Leiter der Arbeitsgruppe Wieland Huttner geht es um die Urzeit des Denkens. Er will verstehen, wie die Evolution das menschliche Gehirn hervorgebracht hat.
"Unsere Großhirnrinde ist etwa dreimal so groß wie die des Schimpansen. Und das ist eine Grundlage für unsere geistigen Fähigkeiten, die uns vom Schimpansen unterscheiden."
Wieland Huttner und sein Team vergleichen Organoide des Menschen mit denen seiner engsten Verwandten aus dem Leipziger Zoo.
"Es werden ja in Zoos Schimpansen und Orang Utans regelmäßig bei Gesundheitschecks untersucht. Und dann kann man von dem Blut ein paar Zellen abzweigen, … und die kann man reprogrammieren in der Regel zu pluripotenten Stammzellen wie wir sagen, aus denen man dann Organoide wachsen lassen kann."
In den Organoiden verknüpfen sich Nervenzellen und Synapsen
In Dresden wachsen Mini-Affen-Hirne und Mini-Menschen-Hirne. Es beginnt mit den Stammzellen. Die vermehren sich als dünne Zellschicht auf dem Boden von Zellkulturschalen. Dort entwickeln sie sich Richtung Nervenzellen oder zu anderen Gehirnzellen. Und wenn sie sich lösen vom Boden, und es eine Gelegenheit gibt, tun sie sich zusammen und bilden kleine Flocken. Das sind die Organoide.
"In den Organoiden, insbesondere in den Organoiden, die etwas länger in Kultur sind und etwas mehr Nervenzellen gebildet haben, da verknüpfen sich die Nervenzellen mit so genannten Synapsen. Und man kann elektrisch von diesen Nervenzellen ableiten und kann zeigen, dass die Nervenzellen elektrische Aktivität haben."
Zellen sind anscheinend kontaktfreudig. Sie kuscheln halt gerne - und wenn Nervenzellen auf andere Nervenzellen treffen, dann halten sie ein Schwätzchen. Natürlich formuliert das ein Wissenschaftler anders. Elektrische Signale jagen hin und her - wie im richtigen Gehirn. Aber der genauere Blick durch das Mikroskop zeigt auch etwas Anderes.
"Die Nervenzellschichten sind nicht so geordnet, (in der so genannten Kortikalplatte), wie sie in einem normal sich entwickelnden Gehirn geordnet sind. Da hat unsere Großhirnrinde sechs Schichten mit verschiedenen Nervenzellen, und diese Schichtung ist bisher noch nicht ordentlich reproduziert in den Organoiden."
Gene allein machen nichts
Organoide sind keine Gehirne, aber gehirnähnlich. Für die Forschung reicht das. Die Wissenschaftler in Dresden interessieren sich vor allem für die Erbanlagen in den Organoiden. Sie suchen nach Genen, die das Gehirn aufbauen.
"Wir haben interessante Gene identifizieren können, die nur der Mensch hat. Diese Gene können ein Gehirn, zum Beispiel, wenn man sie in eine Maus einbringt, größer werden lassen. Und ein offensichtlicher Ansatz ist es, in menschlichen Organoiden ein solches menschenspezifisches Gen auszuschalten, um zu sehen, was dann schlechter läuft. Und andersherum: Ein solches menschenspezifisches Gen in ein Schimpansen-Organoid hineinzubringen, um zu gucken, was jetzt beim Schimpansen-Organoid besser läuft."
Die Gene allein machen nichts. Erst wenn sie aktiv sind, machen sie aus Stammzellen Gehirnzellen und schließlich gehirnartige Strukturen. Das lässt sich an den kleinen schwimmenden Gehirnen wunderbar erforschen.
Können Gehirn-Organoide denken?
Genau das macht die Wissenschaftlerin Barbara Treutlein am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Sie benutzt eine ausgetüftelte Methode, genannt Einzel-Zell-Genomik. Mit ihr erforscht sie das Innenleben der Mini-Gehirne im Detail.
"Diese Methode erlaubt, in einzelnen Zellen zu schauen: Diese Gene sind im Moment eingeschaltet. Dann weiß man: Was für Typen von Zellen sind in dem Organoid zu finden. Und in was für Stadien befinden sich diese Zellen gerade? Welche Zellen teilen sich in dem Moment? Sind die Neuronen aktiv oder nicht? Was für verschiedene Gehirnregionen bilden sich aus? Man kann sehr viele Informationen diesen Experimenten entnehmen."
Im Leipziger Brutschrank wachsen ähnliche Gehirn-Organoide in kleinen Schalen, sogar ein wenig größer als in Dresden. Barbara Treutlein holt eines heraus und legt es unter das Mikroskop.
"Also man kann jetzt diese Regionen sehen, die ein bisschen herauskommen aus dieser Kugel. Und wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass es da drinnen einen Hohlraum gibt. Das ist dieser Ventrikel, den man auch im menschlichen Gehirn findet.
Während ich ins Mikroskop blicke und die feinen Strukturen bewundere, sprechen wir über die unsichtbaren Aktivitäten im Innern des Organoids.
Neuronalen Zellen testen ihre Möglichkeiten
Treutlein: "Es gibt auf jeden Fall Wellen an Signalen, die dieses Organoid durchlaufen. Die neuronalen Zellen testen so ein wenig aus, was ihre Möglichkeiten sind, um mit anderen Zellen zu signalisieren."
Autor: "Und das machen sie jetzt, während wir ihnen zuschauen?"
Treutlein: "Während wir zuschauen, werden da jetzt zufällige Signale von einem Neuron zum anderen wandern."
Die Nervenzellen sind also aktiv. Um zu denken, fehlt ihnen jedoch der Inhalt. Was sollen sie denken?
"Die Zellen kommunizieren miteinander, aber das sind nicht die gleichen neuronalen Netzwerke, die sich ausbilden, wie im menschlichen Gehirn. Ich würde nicht sagen, dass ein Gehirn-Organoid denkt."
Ich weiß: Das Philosophieren über Gedanken der Mini-Gehirne ist reine Spekulation. Wissenschaftler beschränken sich lieber auf Fakten. Und genau die sammeln die Evolutionsforscher in Leipzig. Und zwar massenhaft. Ein Heuhaufen aus Daten.
Zurück zu den Neandertalern
"Now we have a big stack of hay, and we are looking for the needles."
Auch Gray Camp arbeitet als Wissenschaftler mit eigener Arbeitsgruppe am Leipziger Max-Planck-Institut. Er hat immerhin schon ein paar Nadeln im Heuhaufen entdeckt, wenn auch längst nicht alle. Gray Camp interessiert sich für unsere Verwandtschaft: Den Homo neandertalensis, den Neandertaler. Den Unterschied zu unseren Gehirnen will er mit Organoiden erforschen.
"Wir verändern die Stammzellen, aus denen die Organoide entstehen. Mit einer Genschere manipulieren wir einzelne Positionen im Erbgut der Zellen - genau an den Stellen, wo sich Homo sapiens und Neandertaler unterscheiden. Und zwar so, dass einige Gene im Homo sapiens-Organoid ähnlich aussehen wie bei Neandertalern. "
Anders ausgedrückt: Gray Camp hat das Ziel, menschliche Gehirn-Organoide zu "neandertalisieren". Zellen von Neandertalern braucht er dazu nicht. Es reicht ihm zu wissen, wie bestimmte Neandertaler-Gene ausgesehen haben. Das ist gar nicht so schwierig, denn einige Gene haben überlebt. In jedem von uns. In der europäischen Bevölkerung machen Neandertaler-Gene etwa zwei Prozent der Erbinformation aus.
"Es gibt Bereiche in unserem menschlichen Erbgut, die bezeichnen wir als Neandertal-Wüsten. Dort gibt es keine Gene, die von den Neandertalern stammen. Und genau dort liegen die Gene, die das menschliche Gehirn erzeugen. Keines der Gene, die für den Aufbau des Gehirns zuständig sind, stammt vom Neandertaler."
"Unser Gehirn anscheinend vom Homo sapiens, der aus Afrika kam"
Ich schließe daraus. Unser wunderbares Gehirn haben wir anscheinend nicht von den Neandertalern, sondern von anderen Vorfahren. Wahrscheinlich vom Homo sapiens, der viel später aus Afrika kam als der Neandertaler.
Die Evolutionsforschung ist nur eine von vielen Möglichkeiten, winzige Gehirne zu untersuchen. Die meisten Organoid-Züchter arbeiten allerdings in der er medizinischen Forschung. 2013 begann die Erfolgsgeschichte der kleinen Gehirne. Wiener Forscher stellten sie in der Fachzeitschrift Nature vor, und mehr als hundert Arbeitsgruppen schienen auf diese Idee geradezu gewartet zu haben. Sie hatten gerade feststellen müssen: Einfach nur Stammzellen zu vermehren, reicht nicht. Wer wissen will, wie Organe im Körper funktionieren, muss aus Stammzellen Organe züchten, wenigstens Mini-Organe. Auch, wenn das nicht so leicht ist.
"My name is Jay Gopalakrishnan, originally I come from India. Now I have accepted a full professorship in Düsseldorf at the medical faculty. "
Wie die Wiener Kollegen befasste sich Jay Gopalakrishnan mit einer angeborenen Krankheit namens Mikrozephalie. Das Gehirn der betroffenen Menschen ist kleiner als üblich, der Hinterkopf flacher. In ihren geistigen Fähigkeiten sind sie beeinträchtigt. In Deutschland kommen zwei bis drei Prozent aller Neugeborenen mit einer Mikrozephalie zur Welt. Ursache ist ein Schaden in der Erbinformation, und der führt zu einer Entwicklungsstörung.
"Wir haben aus den Zellen der Betroffenen Gehirn-Organoide erzeugt. Im Vergleich mit Organoiden von Gesunden sahen wir, dass die Organoide bei Mikrozephalie kleiner waren. Wir untersuchten das genauer und fanden, dass die verantwortlichen Stammzellen sich weniger teilten."
Zellkulturen, die sehen können
Als sich Zika-Viren in Brasilien ausbreiteten, erforschte Jay Gopolakrishnan auch die Wirkung der Zika-Viren. Denn auch die schädigen das Gehirnwachstum vor der Geburt. Und wie erwartet entwickelten sich die Mini-Gehirne im Labor nicht gut. Die Zika-Viren störten den Aufbau der Organoide. Ob das nun eine bahnbrechende Erkenntnis war, ist unter den Fachkollegen umstritten.
Spannender ist vielleicht eine Entdeckung, nach der Gopolakrishnan gar nicht gesucht hatte: Postdoktorandin Elke Gabriel zeigt mir die Organoide. Mir fällt auf: Statt der Schälchen auf dem Schüttler verwendet sie Flaschen, etwa so groß wie ein Kaffeebecher, gefüllt mit rosa Flüssigkeit. Darin drehen sich Rührstäbe langsam hin und her.
"In einer Rührflasche kann man etwa 40 Organoide heranzüchten und die sind alle etwa gleich groß. Das ist eine 3D-Kultur, und wenn man die langsam rührt mit den Glaspendeln, dann ist das besser für die Organoide, sie werden nicht so gestört und die Scherkräfte sind nicht so stark."
Klingt einleuchtend. Besser gerührt als geschüttelt. Das ist schonender. Dann holt Elke Gabriel die Rührflasche aus dem Brutschrank hinüber zu einer sterilen Werkbank.
Autor: "Eine der Flaschenöffnungen wird aufgemacht, dann kommt die Pipette."
Gabriel: "Dann müssen wir die Spitze abschneiden, weil sie ja doch relativ groß sind, die Organoide."
Autor: "Damit unten eine große Öffnung entsteht von ein bis zwei Millimetern. Da muss das Organoid jetzt durchpassen. Sie versuchen einen zu erwischen in der Flüssigkeit. Und da sehe ich auch schon einige Punkte. Sie schwimmen jetzt in dem Schälchen drin. Jetzt ganz vorsichtig, das Schälchen unter das Mikropskop."
Autor: "Also, das ist jetzt 40fache Vergrößerung. Ich sehe ein kreisförmiges Gebilde."
Gabriel: "Moment. Vielleicht sieht man es hier besser. Das sind zwei dunkle Flecken."
Autor: "Einer etwas größer als der andere. Es sieht fast so aus, weil es da auch noch so eine Ausstülpung gibt, als wären es zwei Augen und eine Nase."
Gabriel: "Ja, genau."
Gehirn-Organoide mit richtigen Augenbechern
Die Nase ist natürlich nicht echt. Nur eine zufällige Ausstülpung im Organoid. Anders die Augen. Es handelt sich tatsächlich um Netzhautgewebe, wie im menschlichen Auge, erklärt mir Jay Gopalakrishnan. Den Experten verwundert das nicht, denn Netzhautgewebe entwickelt sich beim Embryo aus dem Gehirn. Eigentlich wollte Jay Gopalakrishnan die gestörte Gehirnentwicklung bei Mikrozephalie und durch Einwirkung von Zika-Viren erforschen, machte er auch, aber dann erregten die augenähnlichen Strukturen sein Interesse.
"Nach mehr als einem Jahr Forschung haben wir Gehirn-Organoide mit richtigen Augenbechern gezüchtet. Manchmal zwei, manchmal einen Augenbecher. Wir untersuchten sie genauer und fanden viele Strukturen, die denen von sich entwickelnden Augen in einem Fötus entsprechen, mit einer Netzhaut und Fotorezeptoren. Und was noch wichtiger ist: Sie erkennen Licht."
Man könnte sagen: Die Organoide sehen. Licht trifft auf die Netzhautzellen, und die Nervenzellen reagieren mit elektrischen Signalen. Nicht so kompliziert wie im Gehirn, aber das gleiche Prinzip. Was das bedeutet, darüber können die Forscher nur spekulieren. Richtige Wahrnehmung ist es nicht. Schließlich ist das Gehirngewebe recht simpel, eher wie in einem Wurm.
"Wir hoffen, dass wir irgendwann patienteneigene Gehirn-Organoide züchten können."
Gopalakrishnan kommen ständig neue Ideen, was er mit Gehirn-Organoiden alles anstellen kann. Als frisch berufener Professor an der Universität Düsseldorf will er Krebszellen erforschen, die in einem Gehirn-Organoid wachsen sollen. Es geht um das Glioblastom, einen bösartigen Gehirntumor.
"Wir können Glioblastom-Zellen im Organoid heranzüchten und sichtbar machen, wie die Tumorzellen sich vermehren und in das Gehirngewebe eindringen. Diese Forschung ist noch im Gange. Wir hoffen, dass wir irgendwann patienteneigene Gehirn-Organoide züchten können mit dem Glioblastom des Patienten. So lassen sich vor einer Therapie Wirkstoffe testen in einem patientenspezifischen Organoid."
Klingt aufwändig. Aber auch spannend. Bevor ein Patient eine Chemotherapie erhält, wird sein eigener Minitumor in einem Gehirn-Organoid gezüchtet und probeweise behandelt. So lässt sich vorab testen, ob die Therapie anschlägt oder nur unnötige Nebenwirkungen verursacht. Eine von vielen Ideen, die sich mit kleinen Gehirnen umsetzen lassen. Die meisten Organoid-Forscher konzentrieren sich auf Krankheiten oder Störungen beim Embryo. Das liegt in der Natur der Sache. Denn ein Gehirn-Organoid entspricht eher einem frühen, embryonalen Gewebe als einem ausgewachsenen Gehirn. Dabei muss es aber nicht bleiben.
Kleine Gehirne in Fließbandproduktion
Am Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster interessieren sich Wissenschaftler hauptsächlich für Krankheiten des erwachsenen Gehirns. Ihre Organoide sollen altern. Und sie brauchen viele davon. Und besten sehen sie alle gleich aus. Der Stammzellenforscher Jan Bruder führt mich in einen kleinen Laborraum. Der Roboter ist schon bei der Arbeit.
"Das sind Platten mit verschiedenen Vertiefungen. Darin aggregieren die Zellen zu Zellklumpen, die sich dann mit der Zeit zu Organoiden weiter entwickeln."
Wie von Geisterhand gesteuert fährt eine Pipette über die kleinen Platten und spritzt winzige Mengen Flüssigkeit in die Vertiefungen hinein. Darin schwimmen die Organoide.
Bruder: "Der Roboter hat viele Vorteile für uns. Einmal können wir damit verschiedene Organoide herstellen. Das sind mit jedem Schwung 96 Stück auf einmal. Und das viel Wichtigere dabei ist, dass der Roboter das sehr standardisiert macht. Das heißt, er macht dieselben Bewegungen immer in der gleichen Geschwindigkeit auf die gleiche Art und setzt die Zellen immer der gleichen Bewegung aus."
Autor: "Was wird denn hier hinein pipettiert?"
Bruder: "Meist werden die Organoide damit gefüttert. Das heißt: Alle zwei Tage müssen wir die Nährlösung austauschen, damit die Zellen frischen Nachschub an Nährstoffen bekommen."
Autor: "Und was ist der Vorteil, wenn man so einen Roboter verwendet im Vergleich zur Handarbeit."
Bruder: "Sie müssen sich vorstellen, wenn man zum Beispiel sehr kleine Flüssigkeitsmengen austauschen will. Dann nimmt man eine Spritze, und da kommt immer ein Strahl Flüssigkeit heraus. Und dieser Strahl kann, wenn man nicht aufpasst mit der Hand, auch schon einmal sehr empfindliche Strukturen treffen. Wenn man das mit der Hand macht, ist es jedes Mal ein bisschen schneller oder langsamer. Wenn der Roboter es macht, macht er es immer gleich. Und wir können sicherstellen durch eine sorgfältige Programmierung, dass nie die Organoide getroffen werden."
Kleine Gehirne in Massenproduktion – wie am Fließband. Alle gleich.
Mini-Gehirne könnten Tierversuche überflüssig machen
Auf der anderen Straßenseite, im Hauptgebäude des Instituts treffe ich Thomas Rauen. Er ist überzeugt, dass die Winzlinge schon bald viele Tierversuche überflüssig machen können.
"Es gibt halt Erkrankungen, die speziell für das menschliche Gehirn sind. Dazu zählen zum Beispiel Alzheimer oder auch die Parkinson-Erkrankung und andere neurodegenerative Erkrankungen, die man im Mäusegehirn nicht wieder findet. Kurz gesagt: Mäuse bekommen kein Alzheimer und kein Parkinson."
Menschliche Organoide als Testsysteme für Forschung, Medizin und Pharmazie. Gute Idee. Nur einen Haken hat das Ganze. Das Gewebe ist jung und bleibt jung.
"Wir haben das Problem, dass wir als Startmaterial induzierte pluripotente Stammzellen benutzen. Diese Stammzellen wurden hergeleitet aus alten Hautzellen von Patienten, die ein Alter von 60 oder 70 Jahren haben. Und während des Reprogrammierungs-Prozesses werden die Zellen wieder verjüngt. Sie sind dann auf der Ebene eines fötalen Gewebes einzuordnen, und wenn wir daraus Organoide bauen, haben wir es mit einem sehr jungen Gewebe zu tun. Und Föten oder Embryonen bekommen auch kein Alzheimer oder Parkinson."
Die Organoide sollen größer und irgendwie älter werden. Dazu brauchen sie ein Gefäßsystem, das sie mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgt - so wie die Blutversorgung im Gehirn. Ohne Blut können Gehirne, nicht wachsen und Wachsen gehört zum natürlichen Älterwerden dazu. Auch ein Immunsystem besitzen die Organoide nicht. Ganz einfach fangen die Wissenschaftler in Münster damit an, ähnliche Strukturen nachzubilden.
Ersatz-Gehirn aus der Organzucht?
"Wir sehen auch schon, dass es ausreichend ist, wenn einfach Bereiche in den Organoiden frei bleiben, so dass Medien durchströmen können. Ein einfaches Hilfsmittel ist zum Beispiel, dass Fäden eingebracht werden, chirurgisches Nahtmaterial, das einfach die Diffusion befördert von den Substanzen in das Organoid hinein. Das mögen die Zellen sehr gerne, weil dann die Nährstoffversorgung viel besser ist, auch die Sauerstoffversorgung."
Als nächstes sollen Endothelzellen hinzukommen. Das sind die Zellen, die Blutgefäße innen auskleiden. Sie sind wichtig, denn sie liefern Wachstumsfaktoren, damit kleine Organoide größer werden. Noch gehirnähnlicher. Das Züchten größerer Gehirnstrukturen mit Blutgefäßen ist kompliziert. Deshalb haben Forscher vom Salk-Institut in Kalifornien eine Abkürzung gewählt. Sie verpflanzten menschliche Gehirn-Organoide in Mäuse. Das Mäusegehirn trat in Kontakt mit den Organoiden, und das Blutsystem der Maus versorgte das Menschen-Organoid mit allem, was es braucht. Irgendwie beunruhigend, wenn Menschen- und Mäusegehirn gemeinsame Sache machen.
"Sehr interessante Arbeit."
Meint Jan Bruder vom Max-Planck-Institut in Münster.
"Das zeigt, dass die Organoid-Konstrukte, die wir im Labor herstellen können, kompatibel sind mit einem Organismus, dass ein Organismus diese Gewebe annehmen kann und weiterverwenden kann. Und im Maus-Gehirn sind diese Organoide tatsächlich etwas weiter herangereift als wir das im Labor können."
"Was trennt Mensch und Tier?"
Die Transplantation von Gehirngewebe aus dem Labor ist also möglich. Vielleicht irgendwann auch für Patienten, die an Gehirnkrankheiten leiden. Aber es bleiben Fragen: Was machen die fremden Nervenzellen, wenn sie ins Gehirn einer anderen Spezies verpflanzt werden? Die Forscher nehmen an: Das Menschen-Organoid wird Teil des Mäusegehirns, ohne dass die Maus menschenähnlicher wird. Aber was, wenn doch? Beeinflussen verpflanzte Zellen irgendwie das Denken des Empfängers?
"Was trennt Mensch und Tier? Und möchte man diese Grenze überschreiten? Und wenn man sie überschreitet … wie weit möchte man gehen? Und wo zieht man die Linie zum Bewusstsein? Ich glaube, bei Organoiden ist man zurzeit sehr sicher. Ein Organoid hat sehr wenige Zellen. Beim Menschen sind es hundert Milliarden Zellen, sagt man immer. Unsere Organoide haben zwischen 100.000 und 200.000 Zellen. Da fehlt ein Haufen Nullen, um den Unterschied auszumachen."
Die Wissenschaftler erklären es so: Genetisch gesehen handelt es sich um Zellen zweier verschiedener Spezies. Das Gehirn jedoch ist eine Einheit. Ein Netzwerk, das nach Mäuse-Regeln arbeitet, mit einem Mäuse-Bewusstsein. Wo hört der Gewebeklumpen auf und wo fängt das Gehirn an? Wo oder wann beginnt der Mensch? Und darf man Gehirngewebe einfach so verpflanzen wie eine Leber? Die Mediziner warten ab. Die Verpflanzung von Gehirn-Organoiden zur Behandlung von Krankheiten wie Alzheimer oder Parkinson ist bislang nicht geplant. Vielleicht müssen wir uns verabschieden von der Vorstellung, dass hinter einem Gehirn immer ein eigenes Bewusstsein steckt, ein Individuum. So wie Herztransplantationen das Bild vom "Herzen des Menschen" verändert haben. Gehirnartige Strukturen oder Mini-Gehirne sind keine Menschen. Und dennoch bin ich überzeugt: Es gibt eine Grenze. Dinge, die wir mit Gehirnen nicht machen sollten.