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Minusgrade - auf der Suche nach dem absoluten Nullpunkt

Die Frage, ob es besser sei, zu schwitzen oder zu frieren, lässt sich nur salomonisch beantworten: Es kommt auf die Umstände an. Im Winter existiert sich's ohne Heizung schlecht, im Sommer ohne Klimaanlage. Während erstere seit rund zehntausend Jahren zur Grundausstattung der zivilisierten Menschheit gehört, zählt künstliche Kälte zu den Errungenschaften der Moderne. Noch unsere Großeltern kannten den Eiswagen, der das zentral erzeugte Kältemittel in Barren und Stangen ins Haus brachte, weil der heimische Kühlschrank zu den unbezahlbaren Luxusgütern gehörte. Erst nach dem zweiten Weltkrieg erlangte er, zusammen mit der Waschmaschine und noch vor dem Fernsehgerät, die höchste Priorität auf der Wunschliste bürgerlicher Haushalte. Aber Hand aufs Herz: Weiß jemand, wie dieser Kühlschrank funktioniert? Von Zeit zu Zeit macht er lustige Rüttelgeräusche und ist garantiert FCKW-frei ... ansonsten produziert er Kälte.

Florian Felix Weyh |
    "Erwischt!" würde Tom Shachtman ausrufen, der Autor einer "Chronik der Kälte": Wer glaubt, sie lasse sich einfach so produzieren, befindet sich mitten in der Begriffsverwirrung, die fünf Jahrhunderte lang die Entwicklung der Thermophysik blockierte. "Was bitteschön ist Kälte?" fragten sich schon die Humanisten um Sir Francis Bacon und hofften, sich der Antwort über den Antagonisten zu nähern: Wenn man das Wesen der Wärme verstanden habe, könne man sich auch deren Gegenteil erklären. Für Wärme gab es, aus der alchimistischen Phlogiston-Theorie herrührend, ein beruhigend einfach Konzept: "Caloricum" nannte sich das kleine Teilchen, das zwischen warmen und kalten Körpern herflitzte und für den nötigen Temperaturausgleich sorgte. Ein Wärmestoff, dessen einziger Nachteil darin bestand, dass ihn niemand je zu Gesicht bekommen hatte. Dennoch hielt sich die Lehrmeinung bis ins 19. Jahrhundert hinein und machte es den Pionieren der Kälteforschung schwer, auf das Verhältnis zwischen Druck und Temperatur hinzuweisen, das auf einen Schwingungszustand der Materie hindeutete. Ein Paradigmenwechsel, ähnlich mühsam zu bewältigen wie hundert Jahre später der Umstieg von der klassischen Physik auf die Quantentheorie. Auch hierbei spielte die Tieftemperaturforschung eine herausragende Rolle, denn all die Theoreme über Quanten sind bei Zimmertemperatur nicht zu belegen. Erst nahe des absoluten Nullpunkt - unter der atomaren Zeitlupe sozusagen - verhält sich die Materie, wie es die theoretische Physik vorhersagt.

    Ein verlockendes, aber kein einfaches Thema, das sich der amerikanische Wissenschaftspublizist Tom Shachtman ausgesucht hat. Auf den ersten Blick nur für eine spezialisierte Minderheit interessant - ohne profunde Physikkenntnisse läßt sich die Lektüre vor allem im hinteren Drittel kaum bewältigen - wandelt Shachtman in den Fußstapfen von Dava Sobel, die mit ihrer "Geschichte des Längengrades" einen Sensationserfolg feierte. Doch das Rezept, eine heute alltäglich erscheinende naturwissenschaftliche Revolution als Wissenschaftsthriller zu erzählen, lässt sich nicht beliebig kopieren. Shachtman scheitert auf ganzer Linie - nicht weil sein Material so uninteressant wäre, sondern weil er es falsch aufbereitet. Er kann sich nicht entscheiden, was er erzählen will: eine Technik- und Sozialgeschichte der Kälte, die ihr Augenmerk auf gesellschaftliche Veränderungen legt; einen Wettlauf zum absoluten Kältepol oder nur eine redliche Wissenschaftsmonographie für Laien.

    Während das Buch als inspirierte Sozialgeschichte beginnt, verkommt es schnell zum ermüdenden Science-Klatsch über kleinliche Konkurrenzkämpfe. Schon zu Lebzeiten der Kältepioniere dürfte das kaum jemanden interessiert haben, zumal Shachtman kein Beschreibungskünstler ist, seine Protagonisten bleiben blass und austauschbar. Dabei steht ihm ein illustres Personal zur Verfügung, von Lord Kelvin über James Joule, von Francis Bacon über Michael Faraday, von Carl Linde bis Albert Einstein zog die Kälte fast alle bedeutenden Forscher in ihren Bann. Als Ergebnis kam nicht nur der für den Computerbau der Zukunft bedeutsame "Supraleiter" heraus, sondern auch so abseitige Erfindungen wie die Neonröhre - die Entdeckung der Edelgase vom Neon bis zum Helium nämlich war ein Abfallprodukt auf dem Weg zum absoluten Nullpunkt. Man lernt also vieles aus diesem Buch, wenn man sich bis zum Schluss durchkämpft, nur eines bleibt ein Rätsel: Wie der eigene Kühlschrank funktioniert? Aufmerksame Zeitungsleser konnten es neulich erfahren: Weil die Lampe im Inneren die ganze Zeit brennt. Kein Witz - ein besonders energiesparendes Modell der Firma Siemens nutzt die Abwärme der Dauerglühbirne, um das komplizierte Temperaturgefälle im Inneren des Gerätes zu regulieren. Der Rest ist - was sonst? - Magie.