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Minute mit 61 Sekunden

Physik. - In der Silvesternacht werden die Funkuhren kurz innehalten, um eine kleine Portion Extrazeit einzubauen: eine Schaltsekunde. Denn die Erde hinkt der Zeit aus den Atomuhren hinterher. Forschung aktuell beleuchtet den Hintergrund der drastischen Maßnahme.

Von Mathias Schulenburg |
    Die längste Zeit ihrer Geschichte begnügten sich die Menschen mit Zeitmessern, die man im Leibe trug:

    Einen Augenblick, einen Atemzug, einen Herzschlag lang ...

    Im christlichen Abendland wurden Gebete als Zeitmesser sehr beliebt. Harte Eier benötigten drei Vaterunser. Noch im Altadligen Bayer'schen Koch- und Konfektbuch für alle Stände von 1837 heißt es:

    Petersilie, Zwiebel, Spinatblätter et cetera streichst du dann auf den fertigen Hasenbraten, den du noch mal zwei Vaterunser lang in den Ofen schieben sollst.

    Als einen Grund für die Abkehr vom Gemütlichen haben die Gelehrten den Dreißigjährige Krieg 1618 bis -48 ausgemacht, nach dessen Schrecken sich die Europäer nach einem geregelten Gang der Dinge sehnten, nach Art einer Uhr. Die Uhrmacherkünste förderten die Feinmechanik, diese die Wissenschaft, und so entstanden allmählich die Voraussetzungen für eine Industrialisierung der Zeit. Als Goethe mit der Kutsche nach Italien reiste, im September 1786, war das Empfinden noch so:

    Da nun zugleich das Land abfällt, so kömmt man fort mit unglaublicher Schnelle ... Genug, ich war den andern Morgen um zehn Uhr in Regensburg und hatte also diese vierundzwanzig und eine halbe Meile in 31 Stunden zurückgelegt.

    Macht im Mittel sechs Kilometer pro Stunde. Das erlaubte Goethen noch die liebevolle Beschreibung auch ganz unscheinbarer Dinge am Wegesrand, wie Stein und Gras, Busch und Baum.

    Auch hatte jeder Ort seine eigene Zeit; die Kirchturmsuhren richteten sich nach dem jeweiligen Sonnenhöchststand am Mittag: zwölf Uhr in Köln bedeutete mithin zwölf Uhr und fünfundzwanzig Minuten in Berlin. Niemanden störte das; die Langsamkeit der Verkehrmittel ließ die Zeitunterschiede unterwegs gleichsam versickern. Das sollte sich bald einschneidend ändern, was Goethe wohl ahnte:

    Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kommen und treffen.

    Die Eisenbahn begann sich auszubreiten und der bunte Zeitteppich musste einem eintönigen Muster weichen: Um Zuganschlüsse möglich zu machen, wurden zunächst die Uhren entlang der Eisenbahnstrecken synchronisiert. Die Literatur weist aus, wie umständlich das zu Beginn, in England, geschah:

    Jeden Morgen händigte ein Bote der Admiralität dem diensttuenden Beamten des Postzuges von Euston nach Holyhead eine Uhr mit der genauen Zeit aus. In Holyhead wurde die Uhr den Beamten der Kingston-Fähre übergeben, die sie nach Dublin brachten. Auf dem Rückweg wurde die Uhr in Euston, (dem Londoner Bahnhof), erneut dem Boten der Admiralität übergeben.

    Das kuriose Verfahren wurde alsbald durch elektrische Telegrafietechniken abgelöst. Die Synchronisationstechniken verfeinerten sich rapide, und 1884 schon zerteilte in Washington eine internationale Standardzeit-Konferenz die gesamte Erde in Zeitzonen. Und die Eisenbahnzeit, die zunächst nur für Fahrpläne und dergleichen mehr gegolten hatte, wurde zur allgemein verbindlichen Zeit. Und das von Goethe so gefürchtete Maschinenwesen wuchs im folgenden über jedes erwartete Maß.

    Heute erlaubt die Genauigkeit des GPS-Zeitnetzes, die Erde gleichsam atmen, sich unter tektonischen Kräften beulen und winden zu sehen. Wenn im Herbst im waldreichen Norden die Blätter fallen, macht sich der Pirouetteneffekt in der Tageslänge bemerkbar. Mit zeitsynchronen Radioteleskopnetzen werden sich Nachbarplaneten erkennen lassen. Der Preis dafür, eine Schaltsekunde ab und an, scheint nicht zu hoch. Goethens Zauber freilich ist perdü.