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"Mir war die gesamtdeutsche Problematik am wichtigsten"

Er war Verfassungsrichter, Medienrechtler, Direktor des Norddeutschen Rundfunks und Kultusminister des Landes Niedersachsen – der SPD-Politiker Ernst Gottfried Mahrenholz. In der Nachkriegszeit setzte sich Mahrenholz massiv für die Wiedervereinigung Deutschlands ein. Auch heute noch engagiert sich der 80-Jährige politisch.

26.02.2009
    Professor Doktor Ernst Gottfried Mahrenholz, geboren am 18. Juni 1929 in Göttingen, ehemaliger Verfassungsrichter, Medienrechtler. 1967 bis 1970 Direktor des Norddeutschen Rundfunks (NDR) in Hannover. Von 1974 bis 1976 Kultusminister des Landes Niedersachsen. 1981 bis 1994 Richter am Bundesverfassungsgericht. 1987 Vizepräsident des BVG. Mahrenholz gehört seit 59 Jahren der SPD an.

    "Das ist eben wirklich Rechte gibt, die nicht antastbar waren - das fand ich gut."

    Eine Demokratie entsteht in Deutschland

    Rainer Burchardt: Herr Mahrenholz, Sie sind Jahrgang 1929, Sie waren 20 Jahre alt, als die Verfassung auf Herrenchiemsee damals ausgearbeitet wurde. Sie sind Jurist durch und durch, darauf kommen wir auch noch zu sprechen.

    Wie haben Sie es damals erlebt als 20-Jähriger nach dem Zweiten Weltkrieg, dass eine demokratische Verfassung, das Grundgesetz, jetzt aufgelegt wurde?

    Mahrenholz: Wir hatten in Niedersachsen damals schon eine sehr vorläufige Verfassung, rein instrumentell ausgerichtet, und mich hat es damals schon fasziniert, dass es Grundrechte gibt, Grundrechte, die man nicht einfach außer Kraft setzen kann, sondern nach denen sich die Regierung zu halten hatte.

    Ich bin ja, wie man das neuerdings nennt, unter dem NS-Regime sozialisiert worden, das heißt, die Schulen waren natürlich völlig nationalsozialistisch, nicht in der Ideologie, aber in der Ausrichtung. Man wusste: Was der Staat sagt, ist richtig, und das muss gemacht werden. Zu Hause war es ganz anders, denn ich bin Pastorensohn und wir hatten da so ein bisschen Differenzen. Aber dass es eben wirklich Rechte gibt, die nicht antastbar waren - das fand ich gut.

    Burchardt: Haben Sie das damals als exotisch empfunden? Oder, um es mal anders zu formulieren: Wenn Sie gewichten sollten, was war nach Ihrer Meinung das Wichtigere: eine Verfassung für die jetzt zu gründende, neue Demokratie, oder eine Verfassung gegen die Gefährdungen der Diktatur?

    Mahrenholz: Nein, wohl das Erstere, eine Verfassung für eine neu zu gründende Demokratie. Mir fiel damals schon auf das konstruktive Misstrauensvotum, das heißt, Kanzlerabwahl nur durch einen neuen Kanzler. Ich hatte ja in der Schule Unterricht über die Weimarer Republik, wo genau das Gegenteil der Fall war und aus diesem Grunde ja auch ein wichtiger Stützpfeiler, der hätte dieses System tragen können, von vornherein gar nicht eingezogen wurde.

    Burchardt: Sie sagten, Sie seien sozialisiert worden noch während des Zweiten Weltkrieges, da wurden Sie erwachsen. Wie war Ihr Elternhaus bestellt? War man damals in dieser Zeit eigentlich so aufgestellt, dass man sich abgefunden hatte mit dem, was da nun staatlicherseits verbrochen wurde, um es mal so zu sagen, oder gab es auch so etwas wie einen inneren Widerstand?

    Mahrenholz: In meinem Elternhaus fand man sich damit ab, dass es so ist, aber meine Eltern agitierten sozusagen gegen das System, nicht in einer direkten, aber in einer indirekten Art. Wir wussten: Das NS-System ist antikirchlich, und daraus ergab sich von vornherein für mich, der ich also Theologensohn war, eine klare Ausrichtung der Skepsis gegenüber dem Nazireich.

    Burchardt: Waren Sie befangen in der Schule? Wurden Sie von Ihren Lehrern ausgehorcht?

    Mahrenholz: Nein, in keiner Weise. Das Ratsgymnasium in Hannover war stramm national und ich würde fast sagen stramm antinarzisstisch. Wir haben Lehrer gehabt, die Heinrich Heine mit uns gelesen haben, obwohl das natürlich verboten war. Wir haben auch Lehrer gehabt, die sagten, was in der Zeitung steht, ist erlogen. Solche Geschichten kamen bei uns vor. Die Schule war, was das angeht, erstklassig.

    "Mir war die gesamtdeutsche Problematik am wichtigsten."

    Parteipolitisches Engagement

    Burchardt: War denn dann das Grundgesetz auch so etwas wie ein ideologischer Befreiungsschlag? Haben Sie gesagt, jetzt geht es nach vorn, jetzt haben wir alle mehr zu sagen an der Entwicklung dieses Staates oder dieses Teilstaates? Denn wenige Monate später wurde dann ja - und das wurde damals immer wieder so dargestellt - die DDR gegründet.

    Mahrenholz: Ja, wir haben - nicht nur ich allein, sondern meine Freunde -, wir haben sofort empfunden: Jetzt können wir was machen. Und wir haben einen Kreis gegründet, der jahrelang bestand, der sich hier in der Nähe von Hannover in einer Heimvolkshochschule regelmäßig traf, lange Diskussionen hatte.

    Burchardt: Worum ging es da?

    Mahrenholz: Da ging es um den Aufbau, da ging es um den Aufbau - und wir haben uns alle verabredet: Wir gehen in eine Partei. Es mag jedem überlassen bleiben, in welche er geht.

    Burchardt: Und das war überparteilich?

    Mahrenholz: Ja, ja. Das war überparteilich. Die einen gingen zu dieser Partei, die anderen zu jener Partei, und einige gingen auch nicht.

    Burchardt: Stichwort Studieren - was hat Sie in die Juristerei gebracht? War das selbstverständlich? Sie sagten ja selber, Sie kommen aus einem theologischen Haushalt.

    Mahrenholz: Nein, ich habe erst Theologie und Philosophie studiert - und dann auch übrigens mit dem Hintergrund, man muss auch auf diese Weise etwas beitragen, vor allen Dingen als Pfarrer, zum Neuaufbau Deutschlands, und dann allerdings war mir dann doch der ganz direkte Zugriff in die politische und rechtliche Gestaltung, den die Jurisprudenz eröffnete, wichtiger.

    Man sah so gewissermaßen, was man tat, weil man die Folgen direkt überlegte. Damals sagte mir ein Freund: Ja, ja, die Theologen müssen bis zum Jüngsten Gericht warten, um zu wissen, ob sie richtig handeln. Du Jurist hast es besser, du erfährst das gleich.

    Burchardt: Wenn es dann immer so kommt, wie man glaubt. Herr Mahrenholz, Sie selbst sind ja Sozialdemokrat, darauf kommen wir auch noch zu sprechen. Sie waren auch in diesem Lande, in Niedersachsen, mal Kultusminister. Aber zurück zu der damaligen Zeit, Anfang der 50er-Jahre: Es gab damals noch die Gesamtdeutsche Volkspartei, etwa auch mit Gustav Heinemann, der dann später auch zur SPD konvertierte. Wäre das nicht auch eine reizvolle Aufgabe gewesen, sehend auch als Jurist, dass unter Umständen auch eine westdeutsche Verfassung so etwas wie einen Spaltcharakter haben könnte, was die Nation angeht, dann eben einer Gesamtdeutschen Volkspartei beizutreten?

    Mahrenholz: Ich bin in die SPD eingetreten im Juli 1950, vor nunmehr fast 59 Jahren. Wenn es eine GVP, eine Gesamtdeutsche Volkspartei, gegeben hätte damals, die kam doch etwas später erst, dann wäre ich da eingetreten, keine Frage.

    Mir war die gesamtdeutsche Problematik am wichtigsten. Meine Mutter ist Dessauerin, da waren meine Verwandten mütterlicherseits, und ich habe unter dieser Teilung Deutschlands vor allen Dingen damals wirklich gelitten. Das fand ich schon schlimm, und meine Reserve gegenüber der unbestreitbar großen Figur Adenauers beruhte darauf - und die hat sich auch nicht geändert -, dass er es zu schnell aufgab, diese Bevölkerung im Osten zu integrieren in ein demokratisches, gemeinsames Deutschland. Ich erinnere an die Stalin-Note 1952, die ja kaum noch einer kennen wird, aber da gab es das Angebot - und das hätte man ausloten müssen. Angebot: Neutralität, keine NATO-Mitgliedschaft, dafür aber Gesamtdeutschland.

    "Wenn sich zwei Staaten mit feindlich gesonnenen Armeen gegenübertreten, dann weiß man, dass mit der Einheit Deutschlands auf lange Sicht nichts mehr wird."

    Westbindung und Verteidigungsbereitschaft

    Burchardt: War das nicht damals schon zu spät? Denn die Westbindung war im Grunde genommen auf dem Weg, Sie haben es ja selber eben angedeutet, durch Adenauer auch vorangetrieben, vielleicht sogar auf Druck von Washington. Und man hatte den Amerikanern ja auch gewissermaßen einen Dank abzustatten, sie hatten damals ja durch die Blockade 1948 mit den Rosinenbombern Berlin am Leben erhalten, zumindest Westberlin.

    Mahrenholz: Ich glaube nicht, dass das eine ausschlaggebende Rolle gespielt hat für die Politik Adenauers. Wir hatten natürlich, ich vor allen Dingen als junger Mensch, da hatte ich Österreich vor Augen, da klappte das ja: keine NATO, dafür aber ein vereinigtes Vier-Zonen-Österreich. Und ich glaube nicht, dass die Amerikaner, wenn wir energisch gesagt hätten, wir wollen verhandeln, dass die Amerikaner es inhibiert hätten.

    Burchardt: Sie glauben also nicht, dass Deutschland, Westdeutschland als Glacis, auch als ideologisches Glacis hier herhalten musste, dass dieses zum Masterplan der NATO gehörte später?

    Mahrenholz: Ich habe das nicht so empfunden. Ich glaube auch nicht, dass es stimmt.

    Burchardt: Die NATO ist ja ein Stichwort auch gerade aus den 50er-Jahren, es gab ja einen sehr lebhaften Streit damals um die Wiederbewaffnung und die Frage auch, wie weit man und wann man der NATO beitreten sollte. Wie hat es der Jurist Mahrenholz eigentlich empfunden?

    Mahrenholz: Ich glaube, zu dem Zeitpunkt, an dem wir in die NATO eintraten - nachdem die Europäische Verteidigungsgemeinschaft ja gescheitert war durch den Einspruch Frankreichs -, zu dem Zeitpunkt, glaube ich, gab es keine Alternative mehr. Mir scheint, dass dann der Zug abgefahren war. Ich jedenfalls habe einen inneren Protest gegen den Beitritt der NATO bei mir nicht empfunden, ganz anders als bei der Ablehnung der Stalin-Note, von der wir eben gesprochen haben.

    Burchardt: In der Verfassung wiederum ist ja - Sie haben die Grundrechte genannt - immerhin doch die ersten, wichtigsten Artikel, auch die Selbstbestimmung der Menschen. Ist da nicht unter Umständen auch ein Volk hinter einer neuen Politik versammelt worden Anfang der 50er-Jahre - Kurt Schumacher hat das auch mal so ausgedrückt in einer Bundestagsrede -, das im Grunde genommen gar keine andere Wahl hatte, als nur noch nach Amerika zu schauen?

    Mahrenholz: Ich glaube, Anfang, oder sagen wir besser Mitte, gegen Ende der 50er-Jahre, da war das so. Daran ist gar kein Zweifel. Im Übrigen hatten wir dankbare Gefühle gegenüber den Amerikanern. Das war anders als heute, wo man heute aus bestimmten Gründen Reserven hat gegen Amerika - die gab es damals überhaupt nicht.

    Wir haben die Rosinenbomber vor Augen gehabt in Berlin, ich bin zu der Zeit mehrfach in Berlin gewesen, habe das richtig erlebt, und wir hatten natürlich vor Augen, dass die Amerikaner uns im Westen geholfen hatten, mit Lebensmitteln, auch mit dem Zutrauen zu uns, dass wir eine demokratische Regierung und Verfassung wieder zustande kriegen würden wie in Weimar. Das waren schon Voraussetzungen.

    Wenn man sich vorstellt, dass zur gleichen Zeit das Problem von fünf Millionen getöteter Juden - ermordeter Juden - verdaut werden musste, auch in der amerikanischen Öffentlichkeit, dass ich schon sagen muss: Das war vielleicht in gewisser Weise eine Glanzzeit der deutsch-amerikanischen Verständigung oder der Harmonie, das passt beides nicht richtig, aber es war von Volk zu Volk gedacht, unabhängig von den Regierungen.

    Heute fragt man sich: Was macht die Regierung Bush, was macht die Regierung Obama? Da denkt man ganz anders. Aber damals war das lebendige Gefühl: Die Amerikaner sind ein Volk, das uns Gutes getan hat und an dem sich auszurichten uns auf alle Fälle für die Zukunft gut tun wird, gerade auch im demokratischen Behaviour.

    Burchardt: 1956 wurde dann die Bundeswehr gegründet, wieder gegründet, eine deutsche Wehrmacht. Wie passte das zusammen mit den auch in Herrenchiemsee ja doch oft gehörten und dort geprägten Formeln, nie wieder solle es von deutschem Boden aus Krieg geben?

    Mahrenholz: Das passt natürlich zusammen, wenn man davon ausgeht, dass das Grundgesetz auf das Entschiedenste den Angriffskrieg verurteilt hat, dass alles, was passiert – diese Bestimmung kam ja erst nach Herrenchiemsee durch den Bundestag und Bundesrat - rein als Verteidigungssituation verstanden worden ist. Und das ist ja bis heute auch unsere Hypothek auch für das Bundesverfassungsgericht: Ist das noch Verteidigung, wenn wir in Afghanistan sind?

    Burchardt: Oder Kosovo?

    Mahrenholz: Aber damals war die Ausrichtung strikt einfach gegen den heißen Krieg, der möglicherweise von den Sowjets ausgehen könnte.

    Burchardt: Auf der anderen Seite muss man natürlich retrospektiv fragen: Ist nicht auch gerade die Wiederbewaffnung und die Gründung der Bundeswehr ein Beitrag Westdeutschlands für eine Verschärfung des Kalten Krieges damals gewesen?

    Mahrenholz: Ja, die Frage ist berechtigt. Hat das nicht im Grunde dazu geführt? Jedenfalls habe ich empfunden, dass es dazu geführt hat, dass die Teilung Deutschlands zementiert wird, gar keine Frage. Da drüben gab es die Nationale Volksarmee, mit der Wehrpflicht, genau wie hier, und hier gab es eben die Bundeswehr. Dies ist vollkommen klar: Wenn sich zwei Staaten mit feindlich gesonnenen Armeen gegenübertreten, dann vergisst man, oder vergisst man nicht, aber dann weiß man, dass mit der Einheit Deutschlands auf lange Sicht nichts mehr wird. Das ist schon gar keine Frage.

    Burchardt: 1961 wurde die Mauer gebaut in Berlin, trennte dann so richtig alles, was noch gesamtdeutsch zu empfinden war vielleicht oder gerne empfunden worden wäre. Sie haben selber auch auf Ihre Verwandten in Dessau hingewiesen zu Anfang.

    Diese Teilung, damals durch die Mauer vollzogen, war eigentlich ja der Beginn - kann man das so sagen? -, der Beginn auch vielleicht des latenten Misstrauens gegenüber den Amerikanern in Westdeutschland, weil beispielsweise der amerikanische Präsident, damals John F. Kennedy, erst sehr spät kam. Er schickte seinen Vizepräsidenten Lyndon B. Johnson. Auch Adenauer nahm sich sehr viel Zeit, ehe er nach Berlin kam. Stand Berlin damals zur Disposition?

    Mahrenholz: Nein, Berlin hat nicht zur Disposition gestanden. Dass Adenauer spät kam, passt in mein Bild von Adenauer, und dass Kennedy spät kam, gut, darüber wage ich kein Urteil, aber er war da. Dies "Ick bin en Berliner", hat er ja wunderbar aufgesagt.

    Burchardt: Das war 1963, zwei Jahre später.

    Mahrenholz: Ja, es war zwei Jahre später, schon, aber er war da. Und damit war eindeutig klar: Dieses Berlin wird niemals der DDR anheimfallen oder den Sowjets. Dieses "Ich bin ein Berliner" war, wenn Sie so wollen, eine Art von Androhung auch gegenüber den Sowjets: Ihr habt mit dem Krieg zu rechnen in allen Phasen und mit allen Mitteln, wenn ihr hier Westberlin zu nahe tretet.

    Burchardt: Gerade unter Berücksichtigung der aktuellen weltpolitischen Weltwirtschaftskrise: Damals galt ja Westdeutschland als das sogenannte Wirtschaftswunderland. Wie haben Sie das selber empfunden? Waren die Deutschen da auch ein wenig abgelenkt dadurch, dass man eben sagte, mein Gott, erst kommt das Fressen, dann die politische Moral?

    Mahrenholz: Ich habe das nicht so empfunden. Es kann aber durchaus sein, dass es, wenn man es genau beguckt - das wüsste Allensbach besser als ich -, dass es weite Teile Deutschlands gab, die sagten: Uns interessiert die Politik nicht mehr, wir wollen unser Eigenheim. Das kann gut sein. Ich kann das nicht beurteilen und möglicherweise ist der Wahlerfolg der Union, der ja eindeutig war bis in die frühen 60er-Jahre ...

    Burchardt: Ja, 1957 die absolute Mehrheit.

    Mahrenholz: 1957 die absolute Mehrheit, die SPD präpelte 1953, bei der ersten Wahl, unter 30 Prozent mit Ollenhauer. Schumacher war gestorben, Ernst Reuter aufzustellen als Kanzlerkandidaten hatte man einfach schlicht versäumt.

    Ich glaube, dass auch der CDU-Erfolg - und natürlich damit in gewisser Weise die FDP - darauf zurückzuführen ist: Es geht uns doch gut! Was wollen wir denn die Pferde wechseln, gewissermaßen mitten im Strom? Das war auch so ein Schlagwort, was die Union gebrauchte, man wechselt nicht die Pferde mitten im Strom, und ich glaube, die Union hat damit ein psychologisches Moment der deutschen Bevölkerung in der Wahl aufgegriffen. Erst die Figur von Willy Brandt hat überhaupt Bewegung in die Szene gebracht, ist aber auch zwei Mal, 1961 und 1965, nicht zum Zuge gekommen.

    "Das hat sich meines Erachtens verfassungsrechtlich durchaus bewährt."

    Das öffentlich-rechtliche Rundfunksystem

    Burchardt: Sie sind ja auch Medienjurist. Die damalige Zeit war ja für Adenauer, oder so hat er es jedenfalls empfunden, eine gute Gelegenheit, angesichts der Situation, wie wir sie eben geschildert haben - der Rundfunk war seinerzeit ja doch ein probates Mittel der Propaganda, auch dem Staat einigermaßen dienlich -, zu sagen: Machen wir doch eine Bundesrundfunkanstalt. Es gab ja damals dann, 1962, das sogenannte Fernsehurteil, und Sie haben da in diesem Zusammenhang ja durchaus schon eine Rolle gespielt. Wie empfinden Sie das nachträglich?

    Mahrenholz: Das, was mir dabei einfällt ist, dass Hinrich Wilhelm Kopf, mein damaliger Chef und Ministerpräsident von Niedersachsen - mitten aus der Kabinettssitzung wurde er rausgerufen und dann sagte ihm seine Beauftragte in Karlsruhe telefonisch: Wir haben gesiegt, Hinnerk. Und dann kam er zurück und offenbarte seine ganze humanistische Bildung mit dem Satz: Nenikekamen! Das heißt, wir haben gesiegt. Das wurde gesagt, als die Stadt geschlagen wurde der Griechen gegenüber den Persern und dann rannte einer die berühmte 42-Kilometerstrecke, kommt daher, sagt "Nenikekamen!" und bricht zusammen.

    Burchardt: Marathon.

    Mahrenholz: Das war also Marathon, und so hat Hinrich Wilhelm Kopf das gefeiert.

    Burchardt: Und Sie?

    Mahrenholz: Und ich mit! Aber ja, natürlich, denn den Eindruck hatte ich doch ganz stark, dass die ARD und die Sender selber eine unabhängige Anstalt… Nun bin ich Norddeutscher, hier jedenfalls war es so. Es war eine unabhängige Anstalt. Und das hätte man von einer Bundesanstalt, die Adenauer errichtet hat, nicht sagen können.

    Die CDU-Ministerpräsidenten haben es ja mit ihm zusammen besprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Geschichte wie ich meine in einem höchst souveränen Urteil... Nicht alle Urteile sind so gut begründet wie dieses, weil es so durch und durch einen freiheitlichen Geist für den Journalismus atmet und einen freiheitlichen Geist der Information, und das ist das Großartige an diesem Urteil gewesen. Und es war ebenso für mich bemerkenswert damals, wie Adenauer mit einer Chuzpe sondergleichen im Bundestag sagte: "Glauben Sie mir, meine Damen und Herren, das Urteil ist falsch!" Das habe ich bewundert, so zu reagieren. Aber es blieb bei dem Urteil und es blieb damit beim öffentlich-rechtlichen System und das private hatte noch lange Zeit zu warten.

    Burchardt: Ja, das ZDF wurde ja dann 1963 gegründet sozusagen als, ich sage jetzt einfach mal, pseudodemokratische Institution oder pseudoföderale Institution, zumindest aus dem Denken Adenauers heraus. Wie hat sich das nach Ihrer Meinung verfassungspolitisch bewährt, dass wir zwei große, öffentlich-rechtliche Rundfunksysteme seither haben?

    Mahrenholz: Das hat sich meines Erachtens verfassungsrechtlich oder verfassungspolitisch durchaus bewährt, weil alles mit zwei Stimmen inzwischen kommentiert wurde. Man hatte die Wahl zwischen dem einen oder dem anderen.

    Mir ist das ZDF etwas zu konservativ damals vorgekommen, es ist ja auch so besetzt worden, derselbe Intendant, den Adenauer vorgesehen hatte für seinen Rundfunk, wurde dann auch der Intendant des ZDF, und das hat bis heute eigentlich einen gewissen Schlag zur rechten Mitte hin, oder sagen wir, genauer gesagt, das wäre vielleicht nicht der richtige Ausdruck, zum Konservativen hin, anders als die ARD.

    Ich war lange im Fernsehrat des ZDF tätig: Kabarett kam nicht vor. Das war einfach unfein, das machte man nicht, im Gegensatz zum ARD-System, wo das ohne Weiteres möglich war. Aber sonst habe ich das Ganze einfach als Bereicherung empfunden, weil es immer zwei Stimmen sind, und zwei Stimmen sind besser für die Information als eine.

    Burchardt: Sie haben gerade eben das Stichwort Privatfernsehen gebracht, dass dann Mitte der 80er-Jahre aufgelegt wurde, gleichzeitig haben sich schon in den 70er-Jahren die Öffentlich-rechtlichen - viele haben das als Sündenfall bezeichnet - schon zur Werbung durchgerungen. Ist das ein Systemfehler?

    Mahrenholz: Ich würde sagen, ja, es wäre besser gewesen, wenn das öffentlich-rechtliche System völlig bei den Gebühren geblieben wäre und der private Rundfunk bei der Werbung. Ich habe für den privaten Rundfunk damals überhaupt nichts übrig gehabt, weil, wie wir alle wissen, wenn es ums Geld geht, natürlich die Frage "Was biete ich?" die Hauptsache ist.

    Im privaten Rundfunkbereich spricht man nicht vom Programm, sondern vom Werbeumfeld, und damit zeigt man deutlich: Was ist eigentlich der zentrale Punkt? Gut, und das ist ja auch so gekommen, die berühmte Sexualisierung des Fernsehens ist durch das private System gekommen, andererseits muss ich auch mal sagen, es kam natürlich ein gehöriger frischer Wind in die Programm-Macherei überhaupt.

    Die ARD-Anstalten waren im Hörfunk und Fernsehen ein bisschen verstaubt, und das hat sich geändert in dem Augenblick, als der private Rundfunk eine ganz andere, frische Art hat und unkonventionelle Art hat, sich zu verbreiten.

    Burchardt: In dem Haus, in dem wir jetzt sitzen, im Funkhaus Hannover des NDR, da waren Sie mal Direktor, bis zum Jahre 1970, bevor Sie dann auch Kultusminister wurden. Später wurde dann ja versucht, vom nachfolgenden Ministerpräsidenten Ernst Albrecht, von Niedersachsen aus sozusagen, unter Juristen würde man sagen, in Tateinheit mit dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Stoltenberg, den NDR zu zerschlagen.

    War das auch ein Angriff auf die Verfassung, nicht nur die Rundfunkverfassung, auch auf die Staatsverträge und vielleicht auch auf Artikel fünf des Grundgesetzes?

    Mahrenholz: Das nachzuweisen wäre schwer, aber es ist gar keine Frage, dass Albrecht damit dem in Hamburg stationierten NDR in die Quere kommen wollte, weil er meinte, dieses Programm ist viel zu linksorientiert.

    Burchardt: Rotfunk hieß es damals.

    Mahrenholz: Rotfunk hieß es beim WDR, oder wie das bei der CDU hieß: Die Entautorisierung des öffentlich-rechtlichen Systems muss endlich stattfinden. Die haben sich wirklich eingebildet - ich habe ja die Rundfunkdebatten mitgemacht, auch im Rundfunkrat -, die haben wirklich gemeint, es gibt eine Schiefertafel und der NDR gräbt mit unverwechselbaren und unverwelklichen Lettern seine Botschaften in das Gemüt dieser Menschen, die selbst nur mit Schiefertafeln sich vor dem Fernsehschirm befinden.

    Eine Naivität sondergleichen! Die Wahlerfolge der einen und der anderen Partei sprachen überhaupt nicht dafür, dass irgendwie der Rundfunk eine große Rolle gespielt hätte, sondern es war so, dass die SPD - der ich also nun angehöre und intern natürlich auch die Information hatte -, die war unglücklich über dieses Programm und die CDU war auch unglücklich. Und ich habe immer gefunden: Dann ist das Programm gar nicht so verkehrt. Wenn beide Seiten damit nicht zufrieden sind, dann ist es gut.

    Burchardt: Herr Professsor Mahrenholz, wir sitzen ja hier in dem Gebiet, in der Region, wo Hugh Carlton Green in den 40er-Jahren den öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus der Taufe hob, nach dem Vorbild der BBC, wie er damals sagte, von Hamburg aus nämlich.

    20 Jahre später bemächtigten sich dann die Landesregierungen in Kiel und in Hannover zumindest eines Teiles dieser ARD, nämlich des NDR, oder versuchten, sich zu bemächtigen. Ist dies nicht letztendlich dann auch gewissermaßen das Waterloo für ein partei- und politikfernes öffentlich-rechtliches System?

    Mahrenholz: Nein, soweit würde ich nicht gehen. Einmal hat das Bundesverfassungsgericht durch einige klare Urteile - wir haben über eines gesprochen, dem folgten noch einige weitere - dafür gesorgt, dass die Parteien nicht meinen könnten, sie wären die Herren. Allerdings muss ich natürlich sagen, es wurde sehr genau darauf geachtet, welche ... Beim NDR war es so: Der Fernsehdirektor gehört der CDU an, also gehört der Hörfunkdirektor der SPD an, und wenn der Intendant der SPD angehört, muss der Stellvertreter der CDU angehören.

    Es war eine Revolution, als die SPD sagte, nachdem ihr Hörfunkprogrammdirektor in den Ruhestand trat: Wir sind zufrieden mit einem Mann, in den wir Vertrauen haben, der gar kein Parteibuch hat. Und da ging das langsam los, das hat sich fortgesetzt überall, dass die Parteibücher nicht die ausschlaggebende Rolle spielten. Schon die gesellschaftliche Ausrichtung ... Man weiß von den Leuten ungefähr: Sind sie liberal oder sind sie eher konservativ? Das sind die beiden großen Ausrichtungen, die im Rundfunk eine Rolle spielen. Aber das Parteibuch, glaube ich, schrumpft an sich in seiner Bedeutung. Und insofern ist hier von Waterloo nicht zu sprechen, sondern eher, würde ich sagen, von einem Fortschritt der Vernunft innerhalb aller Parteien, was die Versuche betrifft, den Rundfunk zu beherrschen.

    Burchardt: Wie stabilisierend war denn vor dem Hintergrund dessen, was Sie gerade gesagt haben, der Proporz, wie es damals so schön hieß? War das stabilisierend oder nicht?

    Mahrenholz: Der Proporz war stabilisierend insofern, als dass erst mal Ruhe war, aber insgesamt war natürlich jeder Proporz ein Unfug, weil die Qualität eigentlich die allererste Linie sein sollte. Und dieser parteilose Programmdirektor für den Hörfunk war das Beispiel dafür, Wolfgang Jäger, mit Namen hier im NDR noch wohlbekannt. Da wusste man: Qualität, aber liberal und nicht konservativ, und das reichte dann.

    Burchardt: Sie haben ja abgehoben auf weitere Folgen der Rundfunk-Verfassungsgerichtsurteile. Eines aus jüngster Zeit sagt ja, die Ministerpräsidenten haben sich bitte sehr nicht in die Gebührendiskussion einzumischen. Das haben sie ja versucht vor ein paar Jahren.

    Wird das nicht immer wieder diese Versuche geben, dass - da der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit der Mischfinanzierung natürlich auch relativ schlechte Karten hat durch Werbeeinnahmen einerseits, Gebühren andererseits -, dass diese Versuche immer wieder - obwohl es eine überparteiliche Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs gibt -, dass es immer wieder diese Versuche geben wird von Seiten der Politik?

    Mahrenholz: Immer wieder, weiß ich nicht, aber ich würde sagen, nach ein paar Jahren wird man es wahrscheinlich wieder versuchen, denn man darf nicht vergessen: Es gibt eine Legitimität der Ministerpräsidenten, sich darum zu kümmern, die Landtage müssen nämlich die Gebühren festsetzen. Und wenn die Landtage die Gebühren festsetzen müssen, ist das ein politischer Akt.

    Also hat die Politik Legitimerweise etwas damit zu tun, wie hoch die Gebühren sind. Das Bundesverfassungsgericht sagt in Kürze: Solange diese unabhängige Kommission, die das zuvor untersucht, plausible Ergebnisse abliefert, habt ihr keinen Grund, euch nicht danach zu richten. Erst, wenn die anfangen, exzessiv nach der einen oder der anderen Seite, also zu sparsam oder zu verschwenderisch, ihre Voten abzugeben, dann darf die Politik das korrigieren. So etwa darauf läuft es hinaus, und das finde ich eine ganz gescheite Mittellinie, die das Gericht der Politik vorgezeichnet hat.

    Burchardt: Herr Mahrenholz, Sie haben die ARD, das ZDF genannt. Wir können leider nicht ganz vorbeigehen an unserem Hause, in dem dieses Interview ausgestrahlt wird, nämlich an dem Deutschlandradio mit dem Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur. Wie ordnen Sie eigentlich diese dann doch bundesweite Anstalt verfassungspolitisch ein?

    Mahrenholz: Das ist, wie ich meine, eine notwendige, eine geradezu unausweichliche Veranstaltung des Rundfunks. Es muss ein Hörfunkprogramm für ganz Deutschland geben. Hier gibt es zwei, was noch viel besser ist, denn das eine Programm kann sich auf die aktuelle Information werfen, und das andere auf Kultur inklusive erstklassiger Musik und so weiter.

    Ich meine, dass das Deutschlandradio eine unausweichliche Institution war und ist, und dass, wie ich ja hoffe, auch keine Regierung mehr anfängt, weder auf Landes-, noch auf Bundesebene, an dieser Institution zu nagen. Man kann nur hoffen, dass das unbeschädigt so weitergeht und dafür spricht, dass es einen bestimmten Gebührenanteil des Deutschlandradios bereits im Gesetz steht, dass meine Gebühren zu, ich glaube, sieben Prozent von vornherein im Hörfunk dem Deutschlandfunk gehören. Das ist für mich eine gewisse Beruhigung. An solche Gesetze geht man nicht so leicht heran.

    Burchardt: Trotzdem tun sich immer wieder, allgemein auch für den Öffentlich-rechtlichen, Politiker schwer, wenn von Ihnen so etwas wie eine Bestandssicherung verlangt wird. Ist das nicht eigentlich ein verfassungspolitisches Gebot, auch vor dem Hintergrund der Meinungs- und Informationsfreiheit und Vielfalt, dieses zu garantieren?

    Mahrenholz: Ich sehe eine bessere Bestandssicherung als das gegenwärtige Recht, was existiert, sehe ich nicht. Man kann den Deutschlandfunk oder das Deutschlandradio, wie ja die Anstalt genau heißt, nicht in die Verfassung selbst reinschreiben. Die Bestandssicherung von 16 Ministerpräsidenten plus 16 Landtagen, die sagen, wir wollen diesen Sender mit zwei Programmen und mit einem festen Anteil an Gebühren - eine bessere Bestandssicherung lässt sich kaum denken.

    "Es war deren Revolution."

    Die deutsche Vereinigung

    Burchardt: Gut, wieder weg von unserem eigenen Hause, zurück zu dem, was eigentlich ja Geburtshelfer dieses Hauses ist, nämlich die Deutsche Einheit. Wir haben vorhin über den Mauerbau, über die Teilung Deutschlands gesprochen. Wie eigentlich… war es verfassungsrechtlich anstößig oder auch nicht anstößig, dass es hier ja quasi zu einem kalten Anschluss gekommen ist innerhalb der deutschen Einheitsprozedur?

    Mahrenholz: Damals war ich ja nun schon im Bundesverfassungsgericht als Richter. Die Verfassung sprach in der damaligen Fassung davon, dass dieser Wille zur Einheit zum Grundgesetz gehört. Infolgedessen haben wir das natürlich im Gericht so betrachtet, wie das ganze deutsche Volk es betrachtet hat, als eine fabelhafte Sache, und ich entsinne mich noch, dass ich meinem Kollegen und meiner Kollegin damals gesagt habe: Es ist doch eine fast erlösende Geschichte, dass wir von Deutschland reden können. Bisher konnten wir immer nur von Deutscher, Demokratischer Republik reden oder von Bundesrepublik Deutschland, jetzt kann man sich unter uns verständigen, indem wir einfach das Wort "Deutschland" benutzen, schlicht sprachlich.

    Burchardt: Wenn Sie DDR-Jurist gewesen wären - hätten Sie es genauso gesehen?

    Mahrenholz: Das wage ich nicht zu beurteilen, ich nehme an, dass die DDR-Juristen wussten, es geht ihnen an den Kragen, dass sie keine Chance haben, bei einem Anschluss - und das war ja ein Anschluss -, dass sie keine Chance haben, bei dem Anschluss so ungeschoren davonzukommen. Es gibt ja eine ganze Reihe von Juristen, die haben weiterarbeiten können, die nicht belastet waren, und andere, vor allen Dingen im anwaltlichen Bereich, die gab es natürlich, die haben sich dann gesagt, wir schaffen es als Anwälte, die wir nie im Staatsbetrieb gewesen sind.

    Ich habe vor der Dresdner Anwaltskammer einen Vortrag gehalten damals, und da wurde mir vorher gesagt - das war Anfang der 90er-Jahre -, aber bitte reden Sie nicht wie ein Kolonialoffizier. Das waren sie nämlich gewohnt, dass die aus dem Westen kommen und ihnen sagen, wo es langgeht. Infolgedessen habe ich die These vertreten und habe das auch ausgesprochen: In dieser Situation des Novembers 1989 gab es nicht einen Kanzler der Einheit, sondern es gab etwa 100.000 Kanzler der Einheit, die saßen aber alle in Leipzig, Ostberlin und Dresden. Und so habe ich es auch empfunden.

    Es war deren Revolution, und es war die einzig friedliche, und dieser November hat ja jedes Jahr ganz schreckliche Erinnerungen: die Kapitulation Deutschlands 1918, das Judenpogrom nicht zu vergessen 1938. Und jetzt kommt mit einem Male im November ein Lichtblick in diesen Monat, entschuldigen Sie, es klingt ein bisschen sentimental, aber für mich war eben der November immer ein, wenn man das geschichtlich betrachtet, ein belasteter Monat, und jetzt wurde es einer, der mit - und zwar nur aufgrund der Bevölkerung drüben - uns die Einheit Deutschlands gebracht hat. Wir haben dazu nichts getan, seien wir mal ganz ehrlich, sondern die.

    Burchardt: Oftmals, gerade in den Folgejahren 1989 plus oder 1990 plus genauer gesagt, gab es ja nun erhebliche Rechtsstreitigkeiten auch gerade über Rückübereignung von westlichem Eigentum innerhalb der DDR. Hätte man da nicht von Seiten des Verfassungsgerichts erwarten müssen und können, dass man sagt: Leute, ihr habt ja jetzt durch den Lastenausgleich schon einiges zurückbekommen, nun lasst mal gut sein und wir versuchen alle, nach vorne zu schauen. War das nicht dann eigentlich auch, sozusagen rechtlich abgesichert, wieder der - vielleicht unvermeidbare - Blick zurück?

    Mahrenholz: Was die Vermögenswerte betrifft, Herr Burchardt, das ist so kompliziert, da wage ich nicht, in Kürze einen Satz zu zu sagen. Das Gericht hat - ich war nicht beteiligt, deswegen kann ich das ganz objektiv aus Distanz sagen - das Gericht hat das, was es vom verfassungsrechtlichen Standpunkt mit gutem Gewissen sagen kann, auch gesagt. Der Rest muss dann Politik sein, weise Politik sein.

    Burchardt: Weise Politik ist ein gutes Wort, nur wie sehr haben denn diese Anspruchsprozesse, die sich ja bis in den heutigen Tag hineinziehen, auch wieder zu einer inneren Spaltung des Volkes geführt oder die Spaltung teilweise ja auch wieder vertieft?

    Mahrenholz: Ich sehe das nicht so. Ich sehe das nicht so. Da, wo diese Gefahr bestand, glaube ich, ist sie inzwischen überwunden, und ich stimme Ihnen allenfalls darin zu: Ein Unbehagen an dieser Sache bleibt.

    "Die Politik im Rahmen des Grundgesetzes zu halten - es hat keine andere Aufgabe außer der. Die Politik muss sich im Rahmen der Verfassung bewegen."

    Politik und Rechtswesen

    Burchardt: Sie als Verfassungsrichter, der Sie ja auch waren, Sie waren auch Vizepräsident des Bundesverfassungsgericht, haben ja mit erheblichen, auch interessanten, auch politischen Urteilen zu tun gehabt. Ich will jetzt nicht jedes einzelne Urteil nehmen, aber vielleicht mal beispielhaft der letzte Spruch, etwa Zurücknahme der Pendlerpauschale, der politisch verfügten. I

    st das ein Zeichen dafür, dass wir in den letzten Jahren, vielleicht sogar in den letzten Jahrzehnten, viel zu sehr an transferpolitischer Entscheidung mit Delegation an das Bundesverfassungsgericht gehabt haben? Ist nicht das Bundesverfassungsgericht so etwas - um es mal überspitzt zu fragen - wie die heimliche Regierung dieses Landes?

    Mahrenholz: Andere haben gesagt, die vierte Lesung findet dort statt. Ich sehe es nicht so. Ich sehe es nicht so. Es wurde immer ... Ich habe das schon als Student gelernt von einigen Professoren: Das Bundesverfassungsgericht macht den politischen Spielraum kaputt durch seine Urteile, die übrigens manchmal wirklich zu lang sind. Das gebe ich zu, ich bin daran mitschuldig.

    Aber in Wahrheit, wenn man genau hinguckt, hat das Verfassungsgericht nur eine einzige Aufgabe: die Politik im Rahmen des Grundgesetzes zu halten. Es hat keine andere Aufgabe außer der. Die Politik muss sich im Rahmen der Verfassung bewegen, das ist etwas ziemlich Neues für Deutschland, übrigens auch für die anderen Länder außerhalb Deutschlands. Und dies hat allerdings das Gericht mit größter Sorgfalt - vielleicht nicht immer richtig, Fehlurteile kommen überall vor und beim Bundesverfassungsgericht auch -, aber dies hat das Gericht mit größter Sorgfalt versucht zu differenzieren: den politischen Spielraum, der bleiben muss, und den verfassungsrechtlichen Raum, den man judizieren muss.

    Herr Schäuble hat jetzt gerade in Karlsruhe einen Vortrag gehalten und hat für den Entscheidungsspielraum der Politik geworben. Das braucht er nicht zu tun. Dieses Gericht wird - wenn es gut ist und bisher hat sich das eigentlich die 50 Jahre hindurch so gehalten -, wird nicht weitergehen als das, was es von der Verfassung wegen begründen kann, und der Rest ist Politik. Und ich habe nicht den Eindruck, dass die Politik irgendwie durch das Gericht auf eine schnöde Weise gehindert wird, volle Politik zu machen.

    Dass aber natürlich mehr Sachen zum Gericht kommen, hängt mit der Kompliziertheit der Materie zusammen. Wir haben nicht mehr die ersten Jahre der Bundesrepublik, wo die Prinzipien von Meinungsfreiheit und Vermögenssicherung und so weiter eingeschlagen wurden wie Pflöcke auf einer Weide. Jetzt wird es komplizierter. Jetzt müssen aufgrund dieser damaligen Grundsatzurteile ganz neue Probleme geschaffen werden, und so sehr ich dieses Pendlerpauschal-Urteil gut begründet finde, so muss ich sagen: Gut begründet war auch die politische Meinung, zu sagen, wir kassieren von den unteren das normale, und die oben, die mit 20 oder 30 Kilometer Entfernung, ich weiß gar nicht mehr genau ...

    Burchardt: Die Grenze waren 21 Kilometer.

    Mahrenholz: ... 21 Kilometer, die begünstigen wir. Das ist, finde ich, eine auch gut begründete Geschichte gewesen, aber sie hat den gerichtlichen Nachprüfungen nicht standgehalten, gut und schön. Aber die prinzipielle Freigabe des politischen Raumes für die Politik, die sehe ich nicht gefährdet.

    Burchardt: Sie haben ja eben über den Proporz, auch bei der Besetzung von Stellen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, gesprochen. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass es ja einen ziemlichen, politischen Streit gab um einen neuen Bundesverfassungsrichter, der der SPD angehörte. Wie weit sind denn hier Proporzgedanken, auch parteipolitische Proporzgedanken, die eigentlich ja nun nicht unbedingt dazugehören sollten, vorhanden?

    Mahrenholz: Die sind da.

    Burchardt: Sind die unvermeidbar?

    Mahrenholz: Unvermeidbar? Weiß ich nicht. Seit 50 Jahren haben sich die beiden großen Parteien darauf geeinigt: Jeder besetzt die Hälfte in jedem Senat mit Mitgliedern oder Nicht-Mitgliedern, und wenn man mit einer Partei koaliert, wie die SPD mit den Grünen, dann haben die Grünen eben auch mal einen Vorschlag. Und wenn jetzt die Regierung sich ändert, die gegenwärtige, dann hat eben eine andere, kleine Partei auch einen Vorschlag.

    Das ist im Grunde höchst dubios, wenn man das von außen betrachtet. Guckt man sich die Leute an, muss ich sagen, haben die Parteien - die gucken nämlich nicht mehr auf das Parteibuch, das war früher ganz anders -, haben die Parteien nur einen einzigen Ehrgeiz: vernünftige Leute, die wirklich Erfahrung haben, Intellekt haben und auch, wie ich meine, ein gewisses moralisches Bewusstsein haben für das, was sie tun, in das Gericht zu bringen. Und damit sind wir im Prinzip gut gefahren. Ich spreche natürlich auch ein bisschen für mich.

    Burchardt: Wir haben gerade eben nun in diesem Gespräch unausgesprochen über Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit geredet, teilweise auch eine Disparität, die sichtbar ist. Wenn Sie einen Wunsch hätten, was würden Sie noch gern in diese Verfassung reingeschrieben sehen?

    Mahrenholz: Ich würde in die Verfassung gerne reingeschrieben sehen, das wird Sie vielleicht überraschen, dass nicht nur ein Drittel der Abgeordneten ein Gesetz zur Nachprüfung beim Gericht vorlegen kann, sondern jede Bundestagsfraktion. Wir haben zurzeit eine Situation, wo wir drei Oppositionsfraktionen haben und keine kann verlangen, ein bestimmtes Gesetz nachprüfen zu lassen vor Gericht.

    Das geht er dann wieder, wenn eine große Partei in der Opposition ist - und ich meine, die kleinen Parteien sind im Prinzip genauso klug wie die großen. Und deswegen sollte man eigentlich sagen: Der politische Betrieb ist fair erst dann, wenn dieses Gericht, das nun eine Rolle spielt, die wir nicht kleinreden können, wenn dieses Gericht angegangen werden kann von denjenigen, die ihre Bedenken haben und im politischen Konzert eine Rolle spielen.

    Burchardt: Herr Mahrenholz, Sie sind sehr präsent, Sie werden in diesem Jahr 80 Jahre alt, kaum zu glauben. Würden Sie sich stark machen für ein neues Gesetz, Rente ab 85?

    Mahrenholz: Wäre nicht schlecht.

    Burchardt: Vielen Dank.