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Mirjana Stančić: Manès Sperber. Leben und Werk

Nur langsam erfasse ich, dass den Menschen verleugnet, wer ihm das Recht abstreitet, schwach zu sein, für sich und die Seinen zu fürchten. ... Wer die Menschheit nicht mit liebevoller Geduld betrachtet, der hat nichts von ihr verstanden und wird unausweichlich ihr Feind werden.

Brigitte van Kann |
    Nur langsam erfasse ich, dass den Menschen verleugnet, wer ihm das Recht abstreitet, schwach zu sein, für sich und die Seinen zu fürchten. ... Wer die Menschheit nicht mit liebevoller Geduld betrachtet, der hat nichts von ihr verstanden und wird unausweichlich ihr Feind werden.

    Manès Sperber schrieb das in seiner fiktiven Selbstreflexion "Wie eine Träne im Ozean". Im Frankfurter Stroemfeld Verlag ist jetzt eine Biographie des Autors und Psychologen erschienen, der sich in den 30er Jahren in einem schmerzhaften Prozess vom Kommunismus löste.

    Die Literaturwissenschaftlerin Mirjana Stančić ist auf Sperbers Spuren durch halb Europa gereist, hat Archive durchforstet und Nachlässe gesichtet. Das Ergebnis ihrer Forschungen widerspricht Manès Sperbers Autobiographie, veröffentlicht in den Jahren 1974 bis 77, keineswegs, sondern vervollständigt und vertieft, was der Autor damals aus Zeitmangel, subjektivem Blick oder Bescheidenheit verschwiegen haben mag.

    Mirjana Stančić hat keine Biographie geschrieben, die zum Schmökern einlädt oder die Neugier an ihrem Gegenstand erst wecken will. Die Autorin hat eine umfangreiche wissenschaftliche Arbeit vorgelegt, die einen Leser mit besonderem Interesse an Manès Sperber oder an jüdischen Lebenswegen im 20. Jahrhundert voraussetzt. Dieser Leser wird mit einer immensen, klug organisierten Fülle an Material belohnt, die alle Phasen und Etappen von Sperbers Leben und Werk mit der gleichen akribischen Sorgfalt dokumentiert. Hatte Sperber in seiner Autobiographie "All das Vergangene" die Nachkriegszeit merkwürdig summarisch, ja geradezu oberflächlich abgehandelt, erfährt man hier erstmals Einzelheiten und Hintergründe seiner kulturellen Aufbau- und Erziehungsarbeit im Auftrag des französischen Generalkommissariats für die besetzten Gebiete und bekommt einen Überblick über sein Wirken als Lektor im traditionsreichen Pariser Verlag Calmann-Lévy.

    Beide Bücher, die Erinnerungen und die wissenschaftliche Biographie, machen eines auf unterschiedliche Weise eindrucksvoll deutlich: Alles, was den Autor und politischen Akteur Sperber ausmachte, ruht auf dem Fundament seiner Kindheit. 1905, im galizischen Schtetl Zablotow geboren, verlebte er seine ersten Jahre in einer traditionellen ostjüdischen Welt. Auch wenn er als 13-jähriger endgültig den Glauben seiner Vorfahren ablegte – die inbrünstige Zuversicht, mit der sie den Messias erwartet hatten, übertrug er auf das Kommen einer besseren und gerechteren Ordnung. In seinen Erinnerungen bekannte Sperber:

    Unser messianisches Gegenstück hieß revolutionäre Aktivität. Es mag sein, dass ich, seit ich denken kann, keiner Idee begegnet bin, die mich so überwältigt und meinen Weg so stetig bestimmt hat wie die Idee, dass diese Welt nicht bleiben kann, wie sie ist, und dass sie ganz anders, besser werden kann und dass sie es werden wird.

    Die strenge, fordernde Frömmigkeit seiner Umgebung weckt früh jene Fähigkeit zu Widerspruch und Zweifel, die ihn später immer wieder aus den Fallen des Dogmatismus befreien wird. Im Schtetl erfährt er die Bedeutung des Lernens, auch wenn es sich zunächst nur auf die biblischen Schriften bezieht: Zeit seines Lebens wird Manès Sperber ein Lernender bleiben. Im Schtetl taucht er ein in die Sprachenvielfalt seiner Umgebung – Hebräisch, Jiddisch, Deutsch, Ukrainisch –, ein Reichtum, der später sein genaues, schönes Deutsch befruchten wird.

    Der Erste Weltkrieg bedeutete für Manès Sperber das Ende der Kindheit und den Beginn seiner Ortswechsel und Fluchten durch Europa. Von marodierenden Kosaken bedroht, verlässt die Familie 1916 Zablotow und zieht nach Wien, wo sie einen rasanten sozialen Abstieg erlebt. Nicht nur die Flüchtlinge aus dem Osten des Habsburger Reiches, auch viele Wiener leiden unter den Folgen des Kriegs. Der Anblick hungernder, frierender Menschen ist die erste Schule des Sozialismus für den Jungen. Die zweite wird die jüdische Pfadfinderorganisation "Haschomer Hazair", die unter dem Eindruck der Russischen Revolution einen zunehmend kommunistisch orientierten Zionismus vertritt.

    Entscheidend wird die Begegnung mit Alfred Adler, dem Begründer der Individualpsychologie. Er nimmt den jugendlichen Sperber als Schüler auf und macht ihn zu einem seiner engsten Mitarbeiter. Erste Risse erhält das Bild des verehrten Lehrers, als der junge Psychologe einen Geisteskranken als geheilt präsentieren soll, obwohl er weiß, dass sein Leiden mit den Mitteln der Psychologie nicht zu heilen und die erreichte Besserung nur vorübergehend ist. Erst Jahre später geht die Saat des Zweifels auf, und Sperber wendet sich von der psychologischen Praxis ab, deren Begrenztheit er erkannt hat. Schon zuvor entzieht ihm Adler, immer mehr ein Guru der eigenen Lehre, seine Gunst. Sperber seinerseits bricht nicht mit der Psychologie. Mirjana Stančićs Biographie macht deutlich, wie sehr alle seine Arbeiten, die essayistischen und die erzählerischen, vom geschulten Blick des Psychologen geprägt sind.

    1927 geht Sperber nach Berlin, wo er die marxistische Ausrichtung der dortigen Individualpsychologischen Gesellschaft sicherstellen soll. An dieser Stelle sei eine Richtigstellung an die Adresse der Biographin erlaubt: 1927 hat Sperber keineswegs noch ein "russisches Berlin" mit bis zu 300.000 russischen Emigranten vorgefunden. So viele dürften es in den Jahren 1919-1923 gewesen sein. Doch nach der Währungsreform zogen die Berliner Russen weiter, nach Prag, nach Paris, oder sie gingen zurück in die neugegründete Sowjetunion. Und Vladimir Nabokov, der die Revolution und alles, was aus ihr folgte, zutiefst verabscheute, gehörte keineswegs zum "roten Berlin". Er hätte es sich verbeten, mit Gorki und Ehrenburg in einem Atemzug genannt zu werden.

    Doch zurück zu Manès Sperber: Er wird Mitglied der KPD und stürzt sich mit einer, wie er schreibt, "das Gesichtsfeld einengenden Zielstrebigkeit" in die Parteiarbeit. Darüber hinaus ist er als Experte für die Berliner Wohlfahrtspflege tätig, lehrt an Fachschulen und berät Heimerzieher. Als die inzwischen vollkommen moskauhörige Partei 1931 aufruft, mit den Nationalsozialisten für den Sturz der sozialistischen Koalitionsregierung Preußens zu stimmen, beschleichen den Parteisoldaten erste Zweifel an der Urteilskraft seiner Genossen. Schon davor hatte ihn deren Sprache abgestoßen,...

    ...ihre wie unter einem unwiderstehlichen Zwang wiederholten Wort- und Satzklischees.

    Im selben Jahr erfährt er bei einem Besuch der Sowjetunion vieles, was ihn zur Umkehr bewegen könnte. Doch noch hat er das starke Bedürfnis, zu glauben und zu hoffen. In seiner Autobiographie schreibt er vierzig Jahre später:

    Neben der Frage der Gewalt hat die der selbstgewählten Verblendung nie aufgehört, mich zu beschäftigen.

    Den Bruch vollzieht Sperber erst 1937 auf dem Höhepunkt der Schauprozesse, die viele seiner Freunde das Leben kosten. Manès Sperber ist nun kein Parteifunktionär mehr, sondern ein Renegat, ein Abtrünniger wie Arthur Koestler und André Gide. In seiner großen Romantrilogie "Wie eine Träne im Ozean" hat Sperber die bedrohte Situation eines Berufsrevolutionärs und Untergrundkämpfers geschildert, der während des Zweiten Weltkriegs ins Fadenkreuz von Moskaus Geheimdienstschergen gerät und gleichzeitig der Verfolgung durch die Faschisten ausgesetzt ist. Im Vorwort schrieb der Autor, sein Buch richte sich an die Ungeborenen, die jungen Menschen der Zukunft:

    Den Jungen mag es leichter fallen als so vielen meiner durchaus wohlwollenden Kritiker, dass ich keine Gewissheiten zu bieten habe, sondern nur Fragen spruchreif mache. ... Wie so viele andere Schriftsteller vor ihm, hat der Autor seinen Lesern nur eines angeboten – mit ihm seine Einsamkeit zu teilen. Vielleicht ist dies die einzige Form der Gemeinschaft, in der jene zueinander finden, die aus der gleichen Quelle den Mut schöpfen müssen, ohne Illusionen zu leben.

    Ohne Illusionen zu leben, bedeutete für Manès Sperber nicht Gleichgültigkeit. Bis ins hohe Alter hat er in seinen Essays den Zustand der Welt kritisch begleitet und abseits gängiger Ideologien an ihrer Verbesserung gearbeitet.

    Den Mut, gegen herrschendes Einverständnis zu verstoßen, bewies er noch einmal kurz vor seinem Tod. Während deutsche Schriftsteller wie Heinrich Böll gegen den Nato-Doppelbeschluss protestierten, plädierte Sperber 1983 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels für ein wehrhaftes Europa und erteilte dem "modischen Pazifismus" eine Absage. Der Skandal und der Beifall von der falschen Seite blieben nicht aus.

    Den Brüchen in Manès Sperbers Denken und Handeln, den feinen Haarrissen, in denen sie sich oft schon Jahre vorher ankündigten, hat die Biographin besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Damit ist sie ihrem Gegenstand auf schöne Weise gerecht geworden: Schließlich sind es gerade diese Halt- und Wendepunkte, die den Erzähler, Essayisten und politischen Akteur Sperber zu dem machten, der er war. Wäre er einer seiner früh eingeschlagenen Richtungen treu geblieben – er wäre ein frommer Jude, ein engstirniger Individualpsychologe oder verbohrter Parteifunktionär geworden. Keinesfalls aber der Manès Sperber, über den eine Biographie wie diese hätte geschrieben werden können.

    Brigitte van Kann über Mirjana Stancics Biographie, "Manès Sperber: Leben und Werk". Der Band ist im Frankfurter Verlag Stroemfeld/Nexus überschrieben, umfasst 687 Seiten und kostet 48 Euro.