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Missbrauch auf der Bühne

Die Missbrauchsdebatte in Deutschland ist im vollen Gange. Und auch auf der Bühne wird sexuelle Gewalt gegen Kinder thematisiert. Am Wiener Burgtheater hatte gerade das neue Missbrauchsdrama "Das Begräbnis" von Thomas Vinterberg Premiere.

Von Christian Gampert |
    In Thomas Vinterbergs ansonsten nicht sehr gelungenem Bühnenstück "Das Begräbnis" gibt es eine Szene, in der ein pädophiles Geisterwesen auftaucht, um einer normal gestrickten Frau die Verführungskraft junger Leiber plastisch zu machen: "Feste, straffe Oberkörper" hätten die Schüler im Schwimmbad, in der Umkleide "wollen sie in dich rein, sie halten dich fest und fassen dich überall an". Während die Frau masturbierend auf dem Bett liegt, preist das männliche Gespenst alles, "was verboten ist", und rechtfertigt seine eigene strafbare Lust an Knaben mit einem unschlagbaren Argument: "Ich finde das Reine so anziehend. Das Unschuldige."

    Diese ziemlich schmuddelige, auf höchst kalkulierende Art aber auch verstörende Szene brachte bei der Uraufführung im Wiener Burgtheater das Publikum in Rage; es gab Buh-Rufe für den Regisseur und Autor Vinterberg, der schon Ende der 1990er-Jahre mit seinem Dogma-Film "Das Fest" die Missbrauchsdebatte neu angestoßen hatte. Im Film war es der Vater, der jahrelang Sohn und Tochter sich sexuell gefügig macht und dann auf seiner eigenen Geburtstagsfeier zur Rede gestellt wird. Im Bühnenstück ist es nun der einst missbrauchte Sohn, der sich als Erwachsener an seinem Neffen vergeht – und zu seiner Lust an Kindern steht.

    Vinterbergs Pointe ist höchst anfechtbar: Es ist, nach allem was wir aus der Psychologie wissen, eben gerade nicht so, dass ehemalige Missbrauchsopfer nun zwanghaft selber zu Tätern werden. Es ist meist genau andersherum: Missbrauchte Kinder tendieren als Erwachsene dazu, sich in ihren Beziehungen immer wieder neu ausnutzen zu lassen, in welcher Form und in welcher Intensität auch immer. Und sie leiden unter dem Trauma des Missbrauchs ein Leben lang.

    Vinterbergs Verführungsszene ist aber in ganz anderer Hinsicht aufschlussreich. Sie stellt nämlich die Frage: Was, wenn wir alle heimliche Tabubrecher wären? Weil doch das Verbotene uns gerade scharfmacht und uns den letzten Kick gibt? Doch auch diese These ist angreifbar. Es ist eine traurige Tatsache, dass eine permissive Gesellschaft kleine Nymphchen und Knäblein auf die Titelseiten bringt und die pädophile Klientel sich im Internet austoben darf – und manchmal eben auch im Internat. Aber wer Sex mit Minderjährigen nötig hat, mit Abhängigen, der bricht nicht nur ein Tabu, sondern er bricht auch den Stab über sich selbst. Und auch die, die ihn decken, Kollegen und Kirchenvertreter, sind dringend behandlungsbedürftig.

    Der bevorzugte Ort sexueller Übergriffe ist immer noch die Familie. Es fällt aber auf, dass die jetzt bekanntgewordenen Missbrauchsfälle alle in Schulen und Internaten stattgefunden haben, die eine besonders intensive Förderung, eine familiäre Nähe versprachen – und in dieser Intimität leben dann nicht nur die Kinder, sondern auch die Erzieher. Erwachsene mit unreifer Sexualität suchen solche Schutzräume. Je ideologisierter ihr Auftrag ist, je mehr sie sich als Heilsbringer für ihre Schutzbefohlenen wähnen, desto inniger ist die Zuwendung, die sie diesen angedeihen lassen. Dabei ist es unerheblich, ob als weltanschauliche Vorgabe das "Leben in Jesus Christus" dient oder die Reformpädagogik der Nach-68er-Phase.

    Zu große Nähe scheint in der Schule aber ebenso kontraindiziert wie abweisende Kälte. Wieso, mit Verlaub, brauchen wir "pädagogischen Eros", der in der Abgeschiedenheit der Internate offenbar besonders gut gedeiht? Ist Pädagogik allein nicht genug? Wozu brauchen wir Konfessionsschulen? Haben die Staatsschulen mit ihrem Neutralitätsgebot nicht auch ein paar Vorteile?

    Der pädagogische Erotiker, der erotisierte Kleriker: Sie ähneln jenem Gespenst, das Thomas Vinterberg durch sein Stück geistern ließ - der böse, perverse Vater, der Kinder vergewaltigt. Komischerweise scheint es ihn an den langweiligen Staatsschulen kaum zu geben. Dort wird einfach Wissen vermittelt, möglichst jenseits der Ideologie, aber auch, bitte sehr, jenseits der Liebe. Katholische Anstalten und Reforminternate können da nur lernen – oder sie müssen schließen.