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Missbrauch
Heiligenschein mit Schatten

Polens katholische Kirche spielt das Thema Kindesmissbrauch herunter. Marek Lisinski, selbst Opfer eines Priesters, sucht die Öffentlichkeit und kritisiert den früheren polnischen Papst Johannes Paul II. - auch ein Tabu.

Von Florian Kellermann | 30.08.2018
    Papst Johannes Paul II. am 03.05.1987 während seines Kölnaufenthaltes
    Der frühere Papst Johannes Paul II. amtierte von 1978 bis 2005. (imago stock&people )
    Wenn bei Marek Lisinski das Telefon klingelt, dann bittet er wegzuhören. Die meisten Anrufer wollen nicht öffentlich mit ihm in Verbindung gebracht werden. Das gilt auch renommierte polnische Stiftungen:
    "Sie haben Angst, offen über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche zu sprechen", erzählt Lisinski. "Denn fast alle sind auf die eine oder andere Art mit der Kirche verbunden. Nehmen wir Psychologen: Sie fürchten, dass sie keine Aufträge mehr bekommen. Selbst viele Medien, die über die Situation in Pennsylvania schreiben, schreiben anders als die US-amerikanischen Medien. Sie stellen nicht heraus, dass die Kirche seit Jahrzehnten systematisch Kindesmissbrauch vertuscht. Anders als in Deutschland oder Irland nennen sie die Dinge nicht beim Namen."
    Mehr noch: Immer wieder komme es vor, das Gemeindemitglieder ihren Pfarrer öffentlich verteidigen - auch dann noch, wenn er des Kindesmissbrauchs schon überführt ist.
    Marek Lisinski wurde selbst von einem Pfarrer missbraucht, damals war er Ministrant. 30 Jahre dauerte es, bis er darüber sprechen konnte. Dann, vor fünf Jahren, gründete er eine Stiftung und gab ihr als Namen ein Bibelzitat: "Fürchtet euch nicht". Darin steckt eine Provokation: Es war eines der Lieblingszitate von Papst Johannes Paul II.
    Mädchen, denen der Teufel ausgetrieben werden soll
    Marek Lisinski ist auf den polnischen Papst nicht besonders gut zu sprechen:
    "Nehmen wir den Fall von Marcial Maciel Degollado. Der mexikanische Mönch hat Angehörige seines Ordens missbraucht. Das ist dem Vatikan mehrmals mitgeteilt worden. Trotzdem hat ihn unser Papst als Vorbild für die Jugend dargestellt. Ich weiß nicht, wie gut er informiert war, aber muss doch etwas mitbekommen haben!"
    Das Ansehen, das Johannes Paul II in Polen genießt, erschwere seine Aufklärungsarbeit, sagt Marek Lisinski. Denn viele wollten verhindern, dass ein schlechtes Licht auf den mittlerweile heilig Gesprochenen und sein Pontifikat fielen.
    Fast jeden Tag riefen Missbrauchsopfer bei ihm an, sagt Marek Lisinski. Die zwölf Verfahren, die derzeit gegen Geistliche vor polnischen Gerichten anhängig sind, hält er für die Spitze des Eisbergs. Das Problem sei mindestens so groß wie in anderen Länder. Denn nicht nur genießt die Kirche in Polen eine unvergleichliche Autorität. Der Glaube sei auch weniger aufgeklärt.
    "Wir betreuen Opfer, die während exorzistischer Praktiken missbraucht wurden", erzählt Lisinski. "Mädchen, die sich in ihrer Familie gegen die Eltern auflehnen und denen deshalb der Teufel ausgetrieben werden soll. Ich habe mit so einem Mädchen gesprochen. Sie wurde in einem Keller auf einem Tisch festgebunden. Da wurde ihr das Kreuz in den Mund gesteckt. Die Geistlichen haben ihr intime Körperteile eingeölt. Jemand hat sich auf ihren kleinen Rücken gesetzt."
    "Die freie Liebe ist schuld"
    Die Kirche in Polen reagierte so gut wie gar nicht auf die neuesten Enthüllungen aus den USA. Auf der Internetseite der Bischofskonferenz erschien lediglich eine Erklärung: Kindesmissbrauch sei "ein gewichtiges moralisches Übel", ist dort zu lesen - und werde streng verfolgt. Tatsächlich aber übergibt die Kirche Geistliche, die Kinder missbrauchen, nicht der Polizei. Sie berufe sich dabei auf das Beichtgeheimnis, so Lisinski.
    Auch konservative katholische Beobachter warnen: Wenn sich die polnische Kirche dem Problem nicht stelle, könnte sie durch ähnliche Skandale erschüttert werden. Diese Beobachter diskutieren das Probleme allerdings auf ihre Weise, so in einer Sendung des erzkatholischen Publizisten Tomasz Terlikowski im öffentlichen Radio. Terlikowski sah das Hauptproblem darin, dass viele Geistliche eine homosexuelle Orientierung hätten. Sein Gesprächspartner Andrzej Kobylinski, Professor an der katholischen Universität UKSW in Warschau, fügte hinzu:
    "Das Problem des Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche in den USA wuchs Ende der 1960er Jahre. Die Hauptursache dafür war die sexuelle Revolution, die Hippie-Bewegung, die Akzeptanz der freien Liebe. Das hat dazu geführt, dass sich auch das moralische Leben der Pfarrer und Mönche zutiefst verändert hat. "
    Für Marek Lisinski von der Stiftung "Fürchtet euch nicht" führt diese Argumentation weit am Problem vorbei. Er fordert schlicht die Bereitschaft der Kirche ein, Missbrauch öffentlich aufzudecken, die Täter zu bestrafen und sich auf die Seite der Opfer zu stellen. Doch genau das passiere nicht:
    "Nehmen wir das Beispiel einer Zwölfjährigen. Der Pfarrer sagte den Eltern, Alkoholikern, dass er sie mitnimmt in eine größere Stadt, wo sie zur Schule gehen könne. Aber er hat sie eingesperrt und ein ganzes Jahr lang missbraucht. Er ist mit ihr auch gereist, aber kein anderer Pfarrer hat sich gewundert. Der Geistliche wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Als er entlassen wurde, kehrte er in seinen Orden zurück und durfte wieder Messen abhalten. Erst nach Protesten von Gläubigen verschwand er von der Bildfläche."
    "Geistliche bekommen eine Einzelzelle"
    Letztendlich werde sich der Wind erst drehen, wenn sich auch die Politik des Themas annehme, meint Lisinski. Noch vertuscht sie es lieber: Als die Regierung beschloss, ein Register von Straftätern zu veröffentlichen, die wegen Kindesmissbrauchs verurteilt wurden - eine Art virtueller Pranger -, fand sich darin kein einziger Geistlicher. Und doch: Irgendwann werde sich das Thema in Polen Bahn brechen, da ist sich Lisinski sicher.