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Missionare in Staatsfragen

Der Begriff "Statebuilding" bezeichnet den Aufbau eines funktionsfähigen Staates. "Illusion Statebuilding" heißt hingegen das Buch zweier Politikwissenschaftler, die einer bestimmten Ausprägung dieses Phänomens kritisch auf den Zahn fühlen: Das Übertragen des westlichen Demokratiemodells auf andere Staaten.

Von Marc Thörner | 21.02.2011
    "Wenn die Militärs zu Beginn des Afghanistan-Feldzugs mit den Warlords zusammengearbeitet haben – schön und gut. Sie waren ja die einzige Macht, die gegen die Taliban am Boden vorgehen konnte. Aber Afghanistan steht heute immer noch unter der Kontrolle dieser Handvoll Warlords. Mohammed Atta im Norden. Ismael Khan im Westen. Ahmed Wali, der Bruder Karzais, im Süden. Nicht zu vergessen Dostum, ebenfalls im Norden. Das sind die Leute, in die die USA und der Westen im Allgemeinen investieren."

    Was Abaceen Nasimi beschreibt, ein politischer Analyst aus Kabul, führt uns ins Zentrum der Problematik, mit der sich Berit Blieseman de Guevara und Florian Kühn in ihrem Buch befassen. Gut gemeinter Anspruch und harsche Wirklichkeit, das ist eine ihrer Thesen – immer stößt sich beides aneinander. Die Fassade eines Staates aufzubauen, der westlichen Standards genügt, so meinen die Autoren, sei relativ einfach ...

    "Machtvolle lokale Akteure können zwar staatliche Institutionen übernehmen, es besteht jedoch die reale Gefahr, dass sie sich den demokratisch-rechtsstaatlichen Regeln des neuen Staates, die eine Beschneidung ihrer Macht bedeuten würden, nicht unterordnen."

    Nachdem sie beschrieben haben, auf welchem Boden das Erfolgmodell, die westliche Demokratie, gewachsen ist, wenden sie sich den verschiedenen Versuchen zu, mithilfe dieses Modells zerfallende Staaten zu retten. Begonnen habe dies Anfang der 1990er-Jahre, nachdem der Ostblock sich aufgelöst und die westliche Staatsauffassung triumphiert habe. Zwei Beispiele der letzten Jahre heben die Autoren besonders hervor: Bosnien-Herzegowina und Afghanistan. Scharfsichtig zeichnen sie nach, woran das Afghanistan-Engagement von Anfang an krankte. Vor allem daran nämlich, dass die USA, die dort zuerst präsent waren, sich bei ihrem Krieg gegen die Taliban auf Warlords und Milizenführer stützten – also gerade auf die Kraft, die von einem afghanischen Zentralstaat nichts wissen wollte.

    Und als dann später die internationale Gemeinschaft unter dem Dach der UNO mit ins Boot geholt wurde, sei, so Bliesemann und Kühn, der zweite Sündenfall geschehen: 2001, bei der Bonner Petersberg-Konferenz, wurden die Milizenführer als Repräsentanten des afghanischen Volkes hofiert. Der Aufbau eines demokratischen Zentralstaats mit einem funktionierenden Rechtssystem musste mit diesem Personal allerdings scheitern, denn:

    "Die alten Warlords und Menschenrechtsverletzer bleiben zumindest mittelbar an der Macht. Sie können sich vor Verfolgung schützen, während Menschenrechtsaktivisten und jene, die auf die Verbrechen hinweisen, mundtot gemacht, bedroht oder umgebracht werden."

    Hätte man sich nicht auf andere Partner stützen können? Nein, meinen die Autoren. Und machen das Dilemma all jener deutlich, die versuchen, den Aufbau staatlicher Strukturen nach westlichem Vorbild und mit im Westen eingeübten Methoden voranzutreiben und dabei zwangsläufig scheitern müssen:

    "Moderate Akteure sind mächtigen Interessengruppen oft unterlegen."

    Durchweg skeptisch beurteilen die Autoren auch die anderen Beispiele des Statebuildings, die sie beschrieben: Kambodscha, Somalia, Ruanda, Haiti, Guatemala, Kongo, Osttimor, Kosovo, Irak und Sudan. Nirgendwo sei es gelungen, nachhaltig das zu schaffen, was man als einen Staat im Sinne westlicher Standards definieren könnte. In diesem langen Tunnel öffnen sich nur wenige Lichtblicke. Zu ihnen gehört beispielsweise der Aufbau einer Armee über die ethnischen Grenzen hinweg, wie er in Bosnien geglückt sei – dem zweiten Modellfall, der neben Afghanistan in aller Ausführlichkeit geschildert wird. Die deprimierende Bilanz bewirkt bei den Autoren jene Desillusionierung, die schon im Titel ihres Buches anklingt.

    Am Ende steht eine eindeutige Empfehlung: Westliche Staaten sollten sich davor hüten, nichtwestlichen Gesellschaften ihr Konzept eines Gemeinwesens aufzupfropfen. Letztlich, so meinen Bliesemann und Kühn, widerspreche diese Politik auch den eigenen westlichen Idealen von Demokratie und vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. In anderen Ländern eingreifen sollte man ihrer Meinung nur, um auf humanitäre Katastrophen zu reagieren. Gleichzeitig sei es aber wichtig, dass diesen Interventionen dann keine unerfüllbaren Ansprüche übergestülpt werden.

    "Wenn die Interventionen die letzte Möglichkeit zu sein scheinen, Bürgerkriege und massive Menschenrechtsverletzungen bis zum Genozid zu verhindern, dann sollten sie nicht als etwas anderes gelten."

    Nämlich nicht als Demokratisierung. Der klare Blick der Autoren bei der Beschreibung der Symptome ist durchaus bestechend. Hinter ihre Schlussfolgerung aber lässt sich ein dickes Fragezeichen setzen. Was daran liegen könnte, dass sich ihre Prämisse anzweifeln lässt: Ist der Export westlicher Staatsmodelle wirklich, wie sie voraussetzen, eine Erscheinung der 1990er-Jahre? Eine Begleiterscheinung des überbordenden Optimismus, des Ideals der neuen Weltordnung am vermeintlichen "Ende der Geschichte?" Ohne Zweifel wird Statebuilding immer auch von idealistischen Zielen beflügelt. Andererseits gehört es schon seit langem zum Instrumentarium von Großmächten.

    Um nur ein Beispiel zu nennen: Schon 1920 konzipierte Großbritannien nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches den Irak und Transjordanien samt den dazugehörigen Verfassungen, Monarchen und Fassadenparlamenten. Dafür verfügten die Briten über ein Mandat des Völkerbundes. Diese Art von Staatsaufbau folgte zwar einem idealistischen Ziel – der neuen Weltordnung des US-Präsidenten Wilson, der die im Völkerbund organisierte internationale Gemeinschaft samt dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen etablieren wollte.

    Tatsächlich aber hatte das britische Engagement sehr wenig mit diesen Vorgaben zu tun. Allerdings konnte man nur durch einen Staatsaufbau zum Wohle der Araber den kriegsmüden eigenen Bürgern erklären, warum man nach wie vor Truppen im Nahen Osten unterhalten sollte. Und 1992 in Bosnien? Und 2001 in Afghanistan? Hat sich damals plötzlich politischer Idealismus unter westlichen Politikern Bahn gebrochen? Ein Idealismus, der bis zum heutigen Tag lediglich an den Beharrungskräften rückständiger Gesellschaften abprallt? Nein: Der Staatsaufbau nach westlichem Vorbild in anderen Ländern, das lehrt die historische Erfahrung, ist von Großmächten selten ernst gemeint gewesen.

    De facto läuft dieser Versuch in den labilen Ländern in der Regel auf ein "Teile und Herrsche" mit lokalen Machthabern hinaus. Und an der Heimatfront dient das vorgeschützte Ziel meistens dazu, eine militärische Interventionen als humanitäre Hilfsaktion zu verbrämen. Dass solche Unterfangen immer wieder scheitern, liegt weniger an den archaischen Elementen in einer fremden Gesellschaft. Es liegt zuerst an den archaischen Elementen in unserer eigenen politischen Kultur. Das zu erläutern versäumt dieses ansonsten lesenswerte Buch.

    Berit Bliesemann de Guevara; Florian P. Kühn: "Illusion Statebuilding. Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt." Edition Körber-Stiftung, 215 Seiten, 14 Euro ISBN 978-3-896-84082-0