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Missverständnisse und Fehleinschätzungen der Medien

Der niederländische Journalist Joris Luyendijk hat nach fünf Jahren als Auslandskorrespondent im arabischen Raum das aufgeschrieben, was ihn während dieser Zeit und danach am meisten beschäftigt hat. Sein Buch wurde in den Niederlanden ein großer Erfolg und verkaufte sich binnen eines Jahres 120.000 mal. Der Tropen Verlag hat es ins Deutsche übersetzt. "Wie im echten Leben. Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges", heißt es.

Von Annette Brüggemann | 20.12.2007
    "Wenn es einen Terrorangriff gibt, dann geben wir immer das Wort an die Radikalen. Und der israelische Radikale sagt: Der Terrorangriff beweist, dass die Palästinenser keinen Frieden wollen. Und der Palästinenser sagt: Nein, es ist die israelische Regierung, die der wirkliche Verbrecher ist. Aber wir könnten auch sagen: Nach einem Terrorangriff werden wir das Wort geben an einen Aktivisten für die Friedensbewegung. Und dann werden wir ein ganz anderes Bild bekommen. "

    Ein Zitat von Leonhard Cohen eröffnet das Buch Joris Luyendijks: "Es herrscht Krieg zwischen denen, die sagen, es gibt einen Krieg, und jenen, die sagen, es gibt keinen." Wenn Joris Luyendijk von seiner Zeit als Korrespondent schreibt, dann geht es ihm um Missverständnisse und Fehleinschätzungen der Medien. Darum, wie wir den Nahen Osten sehen und warum. Welche Nachrichtenauswahl wurde getroffen? Welche Bilder dringen vor bis in unser gemütliches, europäisches Wohnzimmer? Was das Buch Joris Luyendijks von zahlreichen politischen Analysen unterscheidet, ist seine Hingabe und sein Wille, die von ihm aufgeworfenen Fragen zuallererst sich selbst zu stellen und damit seine Rolle als Journalist auf ehrliche Weise zu reflektieren. Es ist ein Buch erlebter Geschichte, eines, das von der ersten bis zur letzten Seite spannend ist wie ein Krimi.

    "Ich war so erstaunt von sehr vielen Sachen. Die erste Sache war, dass die Mehrheit der Korrespondenten kein Arabisch spricht. Robert Fisk, der so berühmt ist, er spricht kein Arabisch. Wahnsinn! Auch "New York Times". Und auch "Newsweek". Und auch "Süddeutsche Zeitung". All diese Medien können nicht sprechen mit den Leuten, über die sie sprechen. Und ich habe gedacht, das ist unmöglich."

    27 Jahre ist Joris Luyendijk, als er Nahost-Korrespondent wird ohne journalistische Ausbildung. Er hat Sozialwissenschaften und Arabisch studiert und sich ein Jahr lang in Kairo mit Menschen in seinem Alter beschäftigt. Darüber hat er ein Buch veröffentlicht: "Die Kinder der Midaq-Gasse". So sind die niederländische Tageszeitung "de Volkskrant" und die Redaktion der Nachrichtensendung "Radio 1 Journaal" auf ihn aufmerksam geworden.

    Ein Jahr vor den Anschlägen vom 11. September geht Joris Luyendijk in den Libanon. Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern hatte sich in einem neuen bewaffneten Konflikt, der zweiten Intifada, festgefahren. Und Joris Luyendijk erfährt an eigener Haut, wie sehr das Fernsehen unser Bild von der Wirklichkeit prägt. Die Redaktion schickt ihn nach Ramallah. Auf CNN hat er bereits die Bilder von den Steinwerfern gesehen, über die er jetzt berichten soll, die Krankenwagen, die Verwundeten.

    "Ich dachte, ich gehe jetzt wirklich in den Krieg, vielleicht werde ich sterben? Und dann habe ich das Taxi genommen durch Syrien und Jordanien, acht Stunden und mehr Angst, mehr Angst, mehr Angst und endlich erreiche ich Ramallah und dort ist es wie in Köln und Amsterdam. Es ist ein ganz normaler Alltag. Die Kinder laufen aus der Schule und die Busse machen ihre Runde und die Tomaten sind im Sonderangebot. Und ich sage: Leute, wo sind die Steinwerfer denn? Ah, immer gerade aus und dann nach links und wieder gerade aus und beim City-Hotel, dort finden Sie die Steinwerfer nach zwei Uhr. Man sieht eine Nahaufnahme auf CNN und das impliziert, dass die Nahaufnahme die Essenz der Situation ist. Aber oft ist das nicht wahr. Wenn man die Nahaufnahme größer machte, sah man zum Beispiel alle Zuschauer, sah man dass vor zwei Uhr es keine Steinwerfer gibt, dass all diese Zuschauer auch ein Falafel essen. Es gab einen ambulaten Falafel-Verkäufer, der gedacht hat: Ja, wenn es so viele Zuschauer gibt, dann kann ich vielleicht etwas verkaufen."

    Er wird eingesetzt als Parachute-Journalist im Israel-Palästina-Konflikt, reist von einem Brennpunkt zum nächsten. Und auch wenn er die Kunst der Aussparung durchschaut hat, fühlt er sich irgendwann wie in der "Truman-Show". Als seien alle Strippen im Hintergrund schon gezogen und als sei der Sprung raus aus dem System fast unmöglich: "The medium is the message."

    "Man kommt an und man braucht einen Dolmetscher und einen Fixer. Und dieser Fixer kann Termine organisieren und er sagt zum Beispiel: Okay, wir sind jetzt in Gaza-Stadt und ich habe eine Witwe, die ihren Mann verloren hat bei einem israelischen Angriff und ich habe auch ein kleines Mädchen, die ihre Familie verloren hat, aber trotzdem immer noch ihre Schule verfolgt und das ist eine Geschichte der Hoffnung. Und dieser Fixer arbeitet auch für die "New York Times" und auch für die "BBC" und auch für die "Süddeutsche Zeitung". Und er versteht, dass es sehr wichtig ist, vor allem bei Television, sind diese O-Töne. Man hat nur zwölf Sekunden für ein Zitat. Und so bekommt man eine Welt, die entfernt ist von der richtigen Welt und das ist die Medienwelt. Wo es Experten gibt, von denen alle wirklichen Experten bei der "World Bank" und den "Vereinten Nationen" und Diplomaten sagen, das ist ein Vollidiot, der weiß nichts! Aber er kann in 15 Sekunden ein Zitat liefern."

    Joris Luyendijk betreibt in seinem Buch eine Wahrnehmungsschule. Er zerlegt das gezeichnete Porträt vom Nahen Osten in seine Einzelteile. Betrachtet das Bild, die Menschen auf dem Bild und sucht nach dem, was dahinter verborgen liegt. Was bleibt, ist die Sprache und die nimmt er wie eine Fliege im Glas unter die Lupe.

    "Wenn Bashar al-Assad, der Präsident Syriens, eine Politik auswählt, die gegen die Interessen des Westens gehen, dann sagt man: Er ist anti-westlich. Aber niemals gibt es einen amerikanischen Präsidenten, von dem gesagt wird: Er ist anti-arabisch oder anti-iranisch. "Anti" impliziert dieses irrationelle Element: "Anti" - er hasst uns! "

    In dem Film "Apocalypse Now" von Francis Coppola, der auf der Novelle "Heart of Darkness" von Joseph Conrad beruht und im Vietnam-Krieg spielt, ist der U.S. Army-Offizier Benjamin Willard am Ende seiner Suche angekommen. Mitten im kambodschanischen Dschungel trifft er auf Mr. Kurtz, einen ehemaligen Offizier, der wie man sagt, dem Wahnsinn verfallen sei. Er wird gespielt von Marlon Brando, einem schweigenden Riesen mit Glatze, der zum Filmende nur noch zwei Wörter über seine Lippen haucht: "The horror!" Auch Joris Luyendijk schien im "Herzen der Finsternis" angekommen zu sein und er hat nicht geschwiegen, sondern ein Buch geschrieben. Das, was er beschreibt, ist nicht neu und trotzdem ist die Weise, wie er es macht, besonders. Er, der mit seiner Freundin und seinen zwei Kindern in Amsterdam lebt, wünscht sich zur Aufklärung von Missverständnissen vor allem eines: mehr Zeit.

    " Ist das Publikum bereit, zu akzeptieren, dass man in 20 Minuten die Tagesschau nicht verstehen kann? Die Nachrichtenindustrie verkauft die Illusion, dass man "Instant-Verständnis" haben kann. Und die Nachrichtenindustrie ist sehr groß geworden mit dieser Illusion. Aber mehr und mehr bezahlen wir dafür einen schrecklichen Preis. Ich glaube, wir müssen offener mit dem Publikum teilen, dass wir eine Auswahl machen und dass das eine Version der Wahrheit ist. Und das ist das Höchste, was wir machen können. "

    Das Buch "Wie im echten Leben. Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges" ist als Hardcover im Tropen Verlag erschienen zum Preis von 19, 80 Euro (ISBN: 978-3-932170-25-6).