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Misswahl mit Mongolinchen

Kann, soll, darf ein Mongolinchen an einer Misswahl teilnehmen? Selbstverständlich ja, das steht für Josefien außer Frage, als an der Schule ihres kleinen Bruders Jens die Wahl zur Miss Holland ansteht. Denn selbstbewusst ist die mongoloide junge Frau und lebensfroh. Sie liebt Zigarillos und ab und zu ein Bier. Und den Rauch kann sie ganz elegant in kleinen Wölkchen in die Luft blasen; wie eine richtige Dame, stellt ihr Papa fest. Also was spricht dagegen, dass sie am Schulwettbewerb teilnimmt?

Von Martina Wehlte | 08.07.2006
    "Eigentlich ist es überhaupt nicht schön", sagte Jens. Josefientje gab keine Antwort. Sie hörte zu. "Ich mache mit, weil ich muss", sagte Jens. "Aber Spaß macht es nicht. Du musst superordentlich aussehen. Und du musst eine Menge erzählen. Das ist ganz schön schwierig. Und die Jury ist sehr streng ... die ganze Turnhalle ist voll. Alle Eltern dürfen kommen. Die sitzen alle da und begaffen dich. Ist nicht schön oder? "Ist bestimmt ganz toll", sagte sie. "Nein, nein!", sagte Jens ... "Wenn du einen Fehler machst, lachen sie dich aus. Oder sie rufen buh. Findest du das schön?" Josefientje nickte gleich dreimal hintereinander. "Super, Jens. Ich mache mit."

    Ja, Josefien weiß, was sie will; und schließlich findet auch Jens, es spreche nichts dagegen, dass sie beim Wettbewerb mitmacht. Trotzdem fällt es ihm ganz schön schwer, seinen Lehrer um Erlaubnis zu fragen, und das nicht etwa, weil Josefientje nicht an seiner Schule ist. Sondern weil es eben Mut kostet, sich für jemanden so Anderes einzusetzen - nicht als Zurückgebliebene und Schutzbedürftige sondern als Gleichberechtigte.

    Wie anders die Zwanzigjährige allein aussieht, hat Birte Müller in ihren Schwarz-Weiß-Illustrationen zu "Josefinchen Mongolinchen" mit warmherzigem Strich aufs Blatt gezaubert: ein kugelrundes Gesicht, Schlitzaugen und ein breiter Smiley-Mund. Pummelig ist sie und unbeholfen, mit verträumtem Blick, nicht ganz von dieser Welt. Dolf Verroen hatte für seine Hauptfigur ein lebendes Vorbild, Marjolijn van Kleveren, die ihn inspiriert hat. Von ihr und ihrem Vater gibt es am Ende des Bandes ein Foto. Es macht auf einen Blick anschaulich, worum es dem Autor geht: unsere Denkbarrieren, unsere Maßstäbe und Vorbehalte zu sprengen. In seiner einfühlsamen Geschichte passiert nichts Spektakuläres, Spannendes. Sie gibt vielmehr ein Porträt von einem unverstellt ehrlichen, lieben Menschen, der so gar nicht unseren Erwartungen an Normalität entspricht. Denn Josefientje malt wie eine Achtjährige, sie kann nicht so gut lesen und schreiben, reagiert intuitiv und abrupt. Sie lebt in einer betreuten Wohngemeinschaft, hat dort eine Busenfreundin und, worauf sie ganz besonders stolz ist, endlich eine Arbeit wie die Erwachsenen.

    Dolf Verroen ist es in schlichten Alltagsszenen und mit unprätentiösen Dialogen gelungen, die Perspektive eines Ausnahmemenschen, wie es Josefientje ist, ein Stück weit nachvollziehbar zu machen und den respektvollen, nicht betulichen Umgang mit ihr als etwas Selbstverständliches zu vermitteln. Eine besondere Rolle kommt dabei dem elfjährigen Jens zu, dem Ritter dieser außergewöhnlichen Prinzessin, der an der Herausforderung seiner Schwester wächst, Verantwortung übernimmt und dabei eine innere Freiheit gewinnt, um die ihn so mancher Erwachsene beneiden dürfte. Besonders deutlich wird das im italienischen Restaurant, wohin Josefien die Familie zum Essen eingeladen hat. Sie sucht einen Wein aus.

    " Der Kellner schaute, als sähe er ein Baby ein Glas Wein trinken. "Darf ich einschenken?" "Ich möchte erst das Etikett sehen", sagte Josefientje. Der Kellner wusste nicht, was er tun sollte. "Sie kann gucken", sagte Jens giftig. "Ihre Augen sind ganz in Ordnung. Sie kann auch reden. Sie ist ein ganz normaler Mensch.""

    Eine wachsende Herausforderung für andere wird auch die Titelfigur in Saskia Hulas schmalem Band "Oma kann sich nicht erinnern". Anfangs ist sie eine Bilderbuchoma, bei der Miriam und Jakob Streuselkuchen und selbstgemachte Marmelade essen, am Wochenende übernachten und in ihrem großen Garten zwischen Himbeersträuchern und Apfelbäumen herumtollen. Dann aber stirbt der uralte Dackel Wasti und mit Oma geht's zusehends bergab, denn sie hat keine wirkliche Aufgabe mehr. Unkonzentriert und schusselig wird sie, verwechselt die Wochentage und Salz mit Zucker, legt die Geldbörse in den Backofen - das übliche Programm eben, das liebenswürdige und hilfreiche Senioren zu strapaziösen Greisen macht, bis - ja bis die entnervte Tochter oder Schwiegertochter beschließt, so gehe es nicht weiter: die Oma muss ins Heim.

    Damit bricht der klassische Mutter-Tochter-Konflikt ein allerletztes Mal mit voller Wucht aus, zumal sich die Männer in solchen familiären Grenzsituationen meist zurückhalten. Zumindest macht es Saskia Hulas Toni so, als Oma für das Pensionistenheim Haus Waldesruh begeistert werden soll und wutschnaubend mit-mir-nicht aus der Haustür fegt, - Jakob hinterher. Unmöglich, sich ganz auf ihre Seite zu schlagen oder auf die von Jakobs Mutter. Wir sind in der Zwickmühle wie Jakob, aus dessen Position heraus uns die Autorin das Dilemma miterleben lässt. Mehr Sympathie bekommt allerdings doch die Oma in ihrer Mischung aus Altersstarrsinn und Altersweisheit. Ihr entwirklicht sich die Welt zunehmend, nicht nur weil sie geistig abbaut sondern auch, weil sie nicht mehr gefordert wird. Als sie durch Jakob überraschend zur Ziehmutter eines Eichhörnchenbabys wird, gewinnt sie wieder Oberwasser, denn in Haus Waldesruh nehmen sie keine Haustiere, wie Jens' Mutter feststellen muss.

    ""Dann soll diese sture alte Frau doch sehen, wie sie das macht", hat sie mit zusammengebissenen Zähnen gemurmelt, während die Oma das Eichhörnchen Kobold in die Tasche gepackt und sich auf den Weg nach Hause gemacht hat. Ohne sich zu verabschieden."

    Mit gutem Spürsinn und einem Augenzwinkern hat Saskia Hula das sensible Thema des Altwerdens aufgenommen, ohne ins Rührselige abzugleiten oder sich witzig anzubiedern. Die Figuren sind lebensnah, nicht überzeichnet. Und - ohne den moralischen Zeigefinger, der sich so leicht in Bücher mit diesem Sujet einschleicht - gibt ihre Geschichte wie "Josefinchen Mongolinchen" einen Anstoß darüber nachzudenken, dass auch die vermeintlich nicht Normalen, voll Leistungsfähigen ihren Platz im Leben ausfüllen und unser Miteinander bereichern.

    Über die Autoren
    Dolf Verroen (geb. 1928 in Delft) ist als Kinder- und Jugendbuchautor in den Niederlanden eine Institution. Sein erster Band mit Geschichten erschien 1955; er hat in den Niederlanden insgesamt rund achtzig Bücher veröffentlicht und wurde dreimal mit dem Silbernen Griffel, der höchsten Kinderbuchauszeichnung in den NL, ausgezeichnet. Sein vor kurzem im Peter Hammer Verlag erschienenes Kinderbuch "Wie schön weiß ich bin" erhielt den Luchs.

    Saskia Hula (geb. 1966 in Wien) arbeitet dort als Sonderschullehrerin. Von ihr erschienen 2005 "Basti bleibt am Ball" und "Romeo macht was er will".

    Bibliographie
    Dolf Verroen: Josefinchen Mongolinchen. Mit Zeichnungen von Birte Müller. Aus dem Niederländischen von Rolf Erdorf. (Orig. bei Van Goor, Amsterdam, 2003). Verlag Freies Geistesleben. 110 S., Preis: 13,50 Euro. Ab 9 Jahren.

    Saskia Hula: Oma kann sich nicht erinnern. Illustrationen von Karsten Teich. Dachs Verlag 64 S., Preis: 9,60 Euro. Ab 8 Jahren.