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Mit Abscheu und Ehrfurcht

"Hijrah" werden Menschen in Indien genannt, die nicht richtig Frau, nicht richtig Mann sind. Sie werden angestarrt und begrabscht, aber auch spirituelle Kräfte sagt man ihnen nach. Die Autorin A. Revathi ist ein Hijrah. Mit ihrem Buch "Die Wahrheit über mich" beschreibt sie ihr ungewöhnliches Leben.

Von Sonja Ernst | 15.08.2011
    "In meinem Führerschein stand nichts darüber drin, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Stattdessen wurde ich darin bezeichnet als: Revathi, die Doraisamy ist."

    Doch den Jungen Doraisamy gibt es nicht mehr. Er heißt heute Revathi und ist eine Hijrah. Eine Hijrah ist weder Mann noch Frau, sondern zählt in Indien zum sogenannten dritten Geschlecht. Sie werden als Mann geboren, doch sie leben als Frauen. Sie hüllen sich in Saris, tragen die Haare lang und schminken sich. Die meisten von ihnen sind kastriert; ihre Sexualität teilen sie mit anderen Männern oder mit ihresgleichen. Die heute 42-jährige Revathi ist eine von schätzungsweise einer Million Hijrahs in Indien – die Gesellschaft betrachtet sie mit Abscheu und Ehrfurcht zugleich. Mit ihrer Biografie "Die Wahrheit über mich" gewährt Revathi den Lesern einen tiefen und schonungslosen Einblick in das Leben der Hijrahs. Sie schildert die strenge Hierarchie der Gemeinschaft der Hijrahs mit ihren alten, ureigenen Traditionen sowie die Erfahrung von Gewalt und Hass. Revathi:

    "Ich gehöre zu jenen Menschen, die marginalisiert werden, weil sie als Mann geboren wurden und als Frau leben möchten. "Die Wahrheit über mich" erzählt von meinen alltäglichen Erfahrungen von Diskriminierung, Hohn und Schmerz. Das Buch erzählt auch von meiner Beharrlichkeit und meiner Lebenslust."

    Diese Beharrlichkeit unterscheidet Revathi von vielen anderen Hijrahs. Sie ist heute eine Aktivistin und fordert Gleichberechtigung. Doch bis hierhin war es ein langer Weg.

    Ihr Leben beginnt als Junge in einem Dorf im Süden Indiens. Ihr männlicher Körper wird bald zur Qual, sie will als Frau leben. Ihre Familie und das Dorf reagieren mit Spott und Demütigung. Mehrmals läuft sie von zu Hause weg. Sie schließt sich einer Gemeinschaft von Hijrahs an und lässt sich kastrieren. Sie prostituiert sich, sie wird von Polizisten missbraucht und von Freiern auf offener Straße verprügelt. Sie hadert mit ihrem Schicksal. Revathi:

    "Konnte mich Gott nicht als Mann ODER als Frau erschaffen? Wieso hat er mich SO geschaffen? Warum gefällt ihm dieses Spektakel, das er kreiert hat? Voller Wut schlug ich meinen Kopf gegen die Wand und begann zu weinen."

    Will man Hijrahs nach modernen westlichen Begriffen verorten, dann sind es Transgender, die als Mann die weibliche Geschlechterrolle anstreben. Doch das greift zu kurz. Die Gesellschaften des indischen Subkontinents kennen die Kultur der drei Geschlechter seit Jahrtausenden. In Indien werden den Hijrahs spirituelle Kräfte nachgesagt. Sie tanzen auf Tempelfesten und auf Hochzeiten. Man wünscht sich ihren Segen, aber nicht ihren Fluch. Hijrahs wie Revathi leben vorwiegend in Kommunen – unabhängig von Kasten und Religionen. Jeder Lebensgemeinschaft steht eine sogenannte Guru vor. Sie gibt quasi als Mutter den Ton an. Die Hijrahs ihrer Gemeinschaft sind wie ihre Töchter und zugleich ihre Altersversorgung. Sie tanzen und singen, sie gehen betteln, sie prostituieren sich. Für Hijrahs gibt es in Indien sonst keine Arbeit. Von ihrem Lohn bleibt ihnen ein Taschengeld, der Rest gehört ihrer Guru.

    Revathi lebte in Delhi und Mumbai in verschiedenen Kommunen an der Seite von liebenswerten und auch von herzlosen Gurus. Doch immer ersetzen die Hijrah-Häuser die eigene Familie; hier erlebt Revathi heitere Momente, Nähe und Akzeptanz.

    Doch sie will mehr: Sie will ein normales Leben führen und sie will eine normale Arbeit. Schließlich findet sie in der Stadt Bangalore eine Anstellung bei einer Menschenrechtsorganisation für sexuelle Minderheiten. Sie lernt viel über sich selbst und über andere Minderheiten, und sie beginnt zu kämpfen. Revathi:

    "Die Zeit ist lange vorbei als wir in Angst lebten und in der Dunkelheit. Der Tag, an dem unsere Rechte anerkannt werden, wird bald kommen. Wenn wir uns zusammentun und kämpfen, dann werden wir von unseren Rechten profitieren."

    Am Ende der Biografie steht eine kämpferische Frau, die dennoch gebrochen scheint. Nicht alle Enttäuschungen und Erniedrigungen heilen. Doch Revathi kämpft weiter. Mit ihr gehen seit wenigen Jahren immer mehr Hijrahs in Indien an die Öffentlichkeit. Das bedeutet auch mehr Transparenz für ihre Gemeinschaft, die sich nicht alle wünschen. Dem Buch "Die Wahrheit über mich" hätte mehr Kürze gut getan, an einzelnen Stellen verliert sich der Text in Details und Wiederholungen. Dennoch schildert hier erstmals auf Englisch eine Insiderin das Leben der Hijrahs – offen und schonungslos auch sich selbst gegenüber. Und mehr noch: Die Biografie gibt den Blick frei auch auf das Leben in den Slums und die Verletzung der Menschenrechte. Denn Indien, die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt, hat weiterhin auch seine blinden Flecken.

    A. Revathi: The truth about me. A Hijra Life Story. Penguin Label, 312 Seiten, Euro 9,99