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Mit aller Gewalt in den Untergang

Der britische Historiker Richard Evans hat sich als eine Art deutsch-britischer Botschafter verdient gemacht, in dem er für die Leser in seinem Heimatland die Geschichte des Dritten Reichs erzählt. Drei große und viel gelobte Bände sind dabei in den vergangenen zehn Jahren entstanden.

Von Niels Beintker |
    Einen Grund zur Klage hatte der Herr Professor eigentlich nicht. Die Stadt Posen gefiel ihm, ebenso die neu gegründete Reichsuniversität, an der er den Lehrstuhl für Anatomie erhalten hatte. Und schließlich störte es Hermann Voss nicht im Geringsten, dass die Geheime Staatspolizei die Kontrolle über das Krematorium seiner Abteilung übernommen hatte und dort in der Nacht regelmäßig die Leichen ermordeter Polen verbrennen ließ. Im Gegenteil. In seinem Tagebuch vermerkte der Mediziner im Mai 1941, wie es doch wäre, wenn man – Zitat – "die ganze polnische Gesellschaft veraschen könnte". Das polnische Volk müsse ausgerottet werden, sonst gebe es keine Ruhe im Osten. Die schrecklichen Bekenntnisse eines gut besoldeten deutschen Hochschullehrers, eine von vielen Stimmen, die Richard Evans in seiner Geschichte des Dritten Reiches zitiert: Sie sind Ausdruck der ungeheuren mörderischen Gewalt, die der Nationalsozialismus in Deutschland entfalten konnte. Für den britischen Historiker war diese Ideologie von Anfang an ein Glaube, der vor allem auf Gewalttätigkeit und Hass beruhte. Schon im ersten seiner drei umfangreichen Bände über das Dritte Reich hob er dieses Kennzeichen der jungen und aufstrebenden nationalsozialistischen Bewegung besonders hervor.

    "Die Gewalttätigkeit auf der Straße, mit den täglichen politischen Morden. Auch in den angeblich stabilen mittleren 20er-Jahren der Weimarer Zeit gab es immer noch Unruhen auf der Straße, Mordversuche, Schlägereien – und das ist dann in den frühen 30er-Jahren, als der Nationalsozialismus aufgestiegen ist, fast ins Unermessliche gestiegen, fast in bürgerkriegsähnliche Zustände."

    Dieser brutalen Ära folgten bekanntlich die Jahre, in denen sich die gewaltvolle Diktatur festigte, schließlich die absolute Entfesselung der Gewalt im Zweiten Weltkrieg, Thema des letzten Bandes von Richard Evans großer Trilogie. Seit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 bis zur bedingungslosen Kapitulation der deutschen Armee am 8. Mai 1945 bestimmte vor allem Gewalt das Leben der meisten Menschen in Deutschland und Europa.

    Die vielen Zahlen, die Evans in seinem Buch auflistet, sprechen für sich: allein beim Polen-Feldzug wurden bei standrechtlichen Erschießungen durch die Angehörigen der neu gegründeten Einsatzgruppen, zwischen 16.000 und 27.000 Menschen ermordet. In Sobibor, einem der drei Vernichtungslager der sogenannten "Aktion Reinhardt" im Generalgouvernement Polen, kamen mehr als 250.000 Menschen ums Leben, in Auschwitz über eine Million. Die mentalen Ursprünge dieser ungeheuren Eskalation sind, aus der Sicht von Richard Evans, auch im ersten großen und totalen Krieg des 20. Jahrhunderts zu finden.

    "Erstens hat der Weltkrieg in der Frontgeneration die Erfahrung eingebracht, sich gewalttätig für das Vaterland zu betätigen. Zweitens hat auch die junge Generation, die zu jung war, um am Krieg teilzunehmen, eine Art Nachholbedürfnis eingebracht. Man sieht unter vielen späteren führenden Gestalten – der zweiten Führungsriege des Nationalsozialismus – doch die Ergebnisse dieser generationellen Erfahrung, dieser jüngeren Generation."

    Je länger der Krieg dauerte, auch das ist bekannt, umso mehr richtete sich die Gewalt der Deutschen gegen die Deutschen selbst, denn die Gegner schlugen zurück. Durch den Luftkrieg der Alliierten, ihre Bombardements auf deutsche Städte kamen 400.000 bis 500.000 Menschen ums Leben, zum überwiegenden Teil Zivilisten. Etwa 40 Prozent des Wohnungsbestandes in Deutschland wurde zerstört, in Köln und Hamburg sogar zwei Drittel. Auch diesen Aspekt der Geschichte des Dritten Reiches beschreibt Richard Evans detailliert in seiner Darstellung, wie immer gestützt auf eine Vielzahl von wichtigen neuen Forschungsergebnissen, hier etwa die von Richard Overy und Anthony Grayling. Interessant ist Evans Urteil über den sich immer stärker ausweitenden strategischen Bombenkrieg der Engländer und Amerikaner. Der Luftkrieg habe, so schreibt Evans, zwar dazu beigetragen, die zivile Moral der Deutschen zu untergraben. Doch auch wenn man von der Notwendigkeit der Bombenangriffe überzeugt sei, müsse man sich fragen ob, sie nicht im letzten Kriegsjahr zu wahllos geführt wurden – und sich nicht mehr rechtfertigen ließen.

    "Es hat immer Meinungsunterschiede gegeben unter den britischen Historikern über die Gerechtigkeit des Bombenkriegs. Und es erscheinen immer wieder Bücher, die auf der einen Seite oder auf der anderen Seite stehen. Also, der Bomber-Harris, der Chef der Bomber-Schwadrone, ist noch immer sehr umstritten in England."

    Die Zurückhaltung bei kontroversen Themen wie diesem ist wohltuend und macht Richard Evans Geschichte des Dritten Reiches sehr lesenswert. Noch mehr aber seine bewundernswerte erzählerische Begabung und sein Bemühen, die großen und weitgehend bekannten Ereignisse dieser Zeit immer wieder mit den Stimmen der sogenannten kleinen Leute zu verbinden. Viele Selbstzeugnisse, Memoiren und Briefe hat Evans für sein Projekt gesammelt und ausgewertet. Die meisten von ihnen wie die Tagebücher von Victor Klemperer oder dem Wehrmachtsoffizier Wilm Hosenfeld liegen gedruckt vor, einige wenige Dokumente, so das umfangreiche Tagebuch der Hamburger Lehrerin Luise Solmitz wird erstmals einem breiteren Publikum in Auszügen präsentiert. Ein Gewinn, denn die Geschichte des Dritten Reiches wird damit lebendig und erhält eine viel größere Tiefenschärfe. Das Leben der Menschen im Zeitalter der Gewalt bleibt nicht abstrakt, sondern wird konkret fassbar, mit allen Widersprüchen. Richard Evans wollte mit seinem Buch vor allem, gegen die Vorurteile im eigenen Land anschreiben.

    "Seit einigen Jahren gibt es, in gewissen Teilen der Bevölkerung eine weitgehende Identifikation der Deutschen mit den Nazis, wie das heißt. Das führt zu großen Vereinfachungen, wenn die Durchschnittsengländer über die Deutschen nachdenken. Und man liest auch immer noch in den Zeitungen solche Vereinfachungen – dass sie es als unvermeidlich betrachten, dass die Nationalsozialisten an die Macht kamen, eben weil es Deutschland war."

    Geschichte als Aufklärung, bei Richard Evans im besten Sinn des Wortes. Sein dreibändiges Werk über das Dritte Reich ist, in der Gesamtheit, nicht nur für die britischen, sondern auch für die deutschen Leser ein Glücksfall. Ein großartig geschriebenes Buch, eine im besten Sinne des Wortes fesselnde historische Erzählung über Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der nationalsozialistischen Diktatur. Man wünscht sich viel mehr historische Bücher mit einer solchen darstellerischen Qualität, frei von jeglichem Obergelehrten-Ton und einem allzu großen, überfrachtendem theoretischen Überbau. Und dem Autor ist zu wünschen, dass er mit seinem Engagement für die Vermittlung der deutschen Geschichte auch in seiner Heimat Erfolg hat.


    Richard Evans dreibändige Geschichte des Dritten Reiches ist, in der Übersetzung von Udo Rennert und Martin Pfeiffer, bei der Deutschen Verlags-Anstalt München erschienen. Zuletzt wurde der dritte Band mit dem Titel "Krieg" veröffentlicht, über die Jahre des Zweiten Weltkriegs. 1151 Seiten kosten 49,95 Euro (ISBN 978-3-421-05800-3).