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Mit Ball, Walze und Würfel

Friedrich Fröbel gründete 1840 den weltweit ersten Kindergarten in Bad Blankenburg in Thüringen. Bereits damals ging der Pädagoge davon aus, was heute die Forschung bestätigt: Kinder lernen vor allem durch spontane, lustvolle Beschäftigungen.

Von Barbara Leitner |
    Donnerstagmorgen im Fröbelhaus in Jena, einer kommunalen Kita der Stadt. Die Erzieherin Bettina Querengässer schaut mit den Kindern eine Bildgeschichte an und fordert sie zum Erzählen auf.

    "Der Fröbel ist ja von Bad Blankenburg nach Keilhau und hat diese Landschaft gesehen und diese Weite und dann ich hab's, Heureka, Kindergarten soll es heißen, so wie der Gärtner das Pflänzchen zieht und auch mal festbindet an einen Stab, so soll die Erziehung der Kinder sein. Das finde ich ganz fantastisch. Ich habe immer mit Fröbel zu tun gehabt."
    In der Bundesrepublik spielten Friedrich Fröbel und seine Ideen über die Frühpädagogik in der Kindergartenpraxis lange Zeit keine Rolle. Bettina Querengässer aber wurde in den 1980er-Jahren an einer Fachschule in der DDR zur Kindergärtnerin ausgebildet. Fröbels Ideen über das Spiel gehörten dort zu der vermittelten Didaktik. Auch heute finden sich viele der von ihm entwickelten Materialien in der Kita.

    "Ich glaube, diese Verbindung von abstrakten, auch theoretischen Gedanken bis hin zu konkreten Spielmaterialien hat den Klassiker ausgemacht."

    Ludwig Liegle, Erziehungswissenschaftler von der Universität Tübingen und Experte für die Bildung in der frühen Kindheit. Er sieht Friedrich Fröbel als einen Klassiker für seine Disziplin.

    "Was Fröbel sehr früh erkannt hat und am Beispiel diese Spielgaben konkretisiert hat, dass Wissen durch eigene Erfahrung, durch Selbsttätigkeit zu ihrem Eigenen wird. Sonst ist es aufgesetzt. Sie können schon Dinge auswendig lernen und manches muss man vielleicht auch auswendig lernen, das wird dann auch vergessen. Das macht den Fröbel so modern, dass sagt heute die Hirnforschung auch: Man kann Wissen nicht übertragen. Wissen muss in jedem Hirn neu erschaffen werden."
    Bereits bei der Gründung seines Kindergartens 1840 in Bad Blankenburg ging Fröbel davon aus, was heute die Lehr- und Lernforschung bestätigt: Gerade in der frühen Kindheit lernen Kinder vor allem durch spontane, lustvolle Beschäftigungen - durch das Vorbild, in einer zugewandter Atmosphäre, in anregungsreichen Räumen. Sie brauchen keine Unterweisung, allerdings Anregungen.
    Dafür erdachte Fröbel seine "Gaben" - Dinge, die die Mutter oder die Erzieherin dem Kind reicht: Als Erstes den Ball, dann die Walze, dazu mehre Spielkästen mit Würfeln und Quadern und Stäbchen. Durch die Art und Weise, wie sie sich damit beschäftigen, vermitteln die Kinder den Erwachsenen zugleich eine Idee von ihren Vorstellungen und Gedanken, geben ihnen etwas zurück.

    "Das soll das Kind im Grunde genommen selber herausfinden, dass man unterschiedliche Typen, Formen bauen kann und das etwas Mathematisches und Schönes da ist. Das muss A das Kind finden und B muss die Kindergärtnerin noch ein bisschen mitmischen, in dem sie sagt, ah, das ist ja eine schöne Form, schau, wie sich das ändert."
    Helmut Heilland. Pädagoge, Fröbelforscher und Herausgeber seiner Werke. Als dieser weiß er: Dem freien Spiel gebührt in der Philosophie des Thüringer Erziehers eine zentrale Funktion für seine Idee der Menschenerziehung. Spiel ist für ihn niemals Spielerei.

    "Ich kann die acht Würfelchen auf dem Tisch schmeißen, da liegen die ungeordnet da. Es ist keine Lebensform, keine mathematische Form, keine Schönheitsform. Das soll es gerade sein, Grundstrukturen der Existenz. Da genau aber fängt es an, dass ich lerne, Strukturen zu erkennen und zu verstehen, dass die gesamte Wirklichkeit Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Stimmt ja auch, überall steckt ein Gesetz."
    Um Kinder in diesem Lernen zu begleiten, lud Fröbel seit 1842 zu Kursen für Kindergärtnerinnen ein und gründete bald seine eigene Schule. Kindergärtnerinnen - so Fröbel - müssen das Wesen des Kindes erkennen und achten, wie es Anderen kaum möglich ist und gerade deshalb in guter Beziehung zu sich selbst, also professionell sein.

    "Dahinter steht eine Wirklichkeitsauffassung, die für uns etwas schwierig ist nachzuvollziehen. Es ist eine Kosmologie, die den Kosmos als Schöpfung sieht und alles Seiende, hat einen göttlichen Funken. Aus dem kleinen winzigen Keimling entwickelt sich mal ein Baum, entsprechend entwickelt sich der Mensch und das, sagt er, ist etwas Sphärisches. Im Grund her hat der Mensch, jeder Mensch in sich ein Agens, einen Selbstbildungstrieb in sich, aus sich das Optimale zu machen und das heißt nicht in erster Linie Leistung oder marktspezifisch und alles das, was wir heute gesellschaftlich verrechnen. Das ist nicht sein Problem."
    Gerade diese religiösen, kosmologischen, ganzheitlichen Ideen erschwerten in den zurückliegenden 200 Jahren die Rezeption von Fröbels Werk. Weder zur Aufklärung, der Romantik, noch zum Vormärz ließ sich der Thüringische Nationalheld einfach zuordnen.

    "Der Fröbel hat sich etwas getraut, der Vorwurf der Verschrobenheit kommt auch daher: Er hat auch kompliziert gedacht."
    Michael Winkler, Professor für allgemeine Pädagogik und Theorie der Sozialpädagogik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

    "Das denke ich, ist ein ganz großes Problem, was wir in der Pädagogik haben: Man tut immer so, als wäre Pädagogik so einfach. Man könnte mit ganz einfachen Techniken, Methoden, Erziehungsmitteln, Erziehungszielen, man muss nur die Stellschrauben verändern, so könnte man Pädagogik denken und da sagt Fröbel, ne, liebe Leute, es geht so nicht. Ihr müsst erst einmal begreifen, wie kompliziert, wie komplex das Geschehen ist und dann könnt ihr erst sehen, wie wir das Geschehen gestalten können."
    Von der Warte des Fröbelschen Ansatzes schaut Michael Winkler mit historischer Distanz auf die heutige Pädagogik: Welche Leitideen für die Bildung und Erziehung gibt es, außer dem Wunsch nach Steuerung und Messung und der Orientierung am Arbeitsmarkt, fragt er kritisch? So wichtig Bildungspläne und Bildungsstandards auch sind – wer ahnt, was Kinder Wissen müssen, um in einer globalisierten, unsicheren Welt verantwortungsbewusst agieren zu können?

    Fröbel verstand Pädagogik als eine lebendige Praxis. Er wollte die Gesellschaft verändern, indem sich die Menschen veränderten – sie sich als "freie, denkende selbsttätige Menschen" bilden und auch die Lehrenden sich wandeln. Auch das, so Winkler, ist ein heute vernachlässigte Geisteshaltung, wie beispielsweise die Debatte um den sexuellen Missbrauch zeigt.

    "Freiheit im pädagogischen Prozess heißt die unbedingte Anerkennung der Subjektivität des Kindes. Wir wissen aus der empirischen Forschung der Entwicklungspsychologie, wie ein Säugling, wenn der geboren wird, wie er die Welt verändert. Er verändert seine Eltern, er gestaltet die Welt. Man denkt immer: hilfloses Kleinkind. In Wirklichkeit sind das Gestalter der Welt und Gestalter seiner selbst. Eine ganz elementare Freiheit: Ich bin Herr meiner Selbst und Gestalter meiner, brauche dazu aber immer wieder Unterstützung und brauche die Anregung der Welt und das genau ist das Zentrum des Fröbelschen Denkens, zumindestens in meiner Wahrnehmung. Und natürlich besteht darin eine aktuelle Botschaft. Die Pädagogik hat über weite Bereiche nicht begriffen, dass sie diese Freiheit, die Anerkennung der Subjektivität, die Mitwirkung, dass sie das als Gestaltungsprinzip zu verwirklichen hat. All das, was wir gegenwärtig diskutieren: Missbrauch in Einrichtungen, sind Grundvergehen gegen pädagogisches Handeln, weil damit die Freiheit vernichtet wird, weil da Menschen Zwang angetan wird und das kann nicht Pädagogik sein."
    1848, zur bürgerlichen Revolution in Deutschland, stellte Fröbel sein Bildungskonzept dem Nationalkonvent vor. Doch die Revolution scheiterte. Die preußische und andere Regierungen verboten seine Kindergärten. Fröbel starb, aber seine Lehrer und Sympathisanten gingen nach England und Amerika, verbreiteten die Idee in Israel, Russland, Japan, Thailand, Korea. Überall dort entwickelten sich ganz eigene Fröbelpädagogiken. Denn anders als bei Maria Montessori beispielsweise gibt es keine reine Lehre, auch kein richtig und falsch.

    "Das Regelhafte hat die Japaner sehr interessiert, auch das strukturelle Moment. Das Religiöse vielleicht weniger."

    "In Südkorea habe ich gesehen, dass man sich bemüht, den Eltern diese Materialien zu erläutern und den Bildungsgehalt und dass die Kinder mit einer Vorbildung in die Schule kommen und dass der Start eben gelingt."
    Der Fröbelkenner Helmut Heiland und Margitta Rockstein, Leiterin des Fröbel-Museums in Bad Blankenburg.

    So klar Fröbel zur Erziehung eines neuen Menschengeschlechtes auf den Kindergarten setzte. Er wusste: Das geht nur in Verbindung mit der Familie.

    "Er hat nicht nur ein System im Kopf gehabt, wie Kinder sich entwickeln könnten, sondern er hat ganz konkret Vereine von Familien im Blick gehabt, hat die Zeitverhältnisse gesehen, die die Familienverhältnisse gesehen, dass die Eltern keine Zeit mehr haben für die Kinder, weil das Fabriksystem entstanden ist. Heute sagt man Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das hat Fröbel nicht sogenannt, aber genau das gemeint und wollte dadurch nicht die Familie ersetzen, sondern sogar mit Elternarbeit verbinden."
    Der Erziehungswissenschaftler Ludwig Liegle. Mütterlichkeit, so war es bereits zu Beginn der Industrialisierung, sah Fröbel nicht mehr von Natur aus gegeben. Deshalb ersann er seine Mütter- und Koselieder, um Eltern zu zeigen, wie sie Kinder trösten und ermuntern und mit Phänomen des Lebens vertraut machen können.
    Auch mit dieser Art Liedern greift er vor, was die Bindungsforschung heute belegt: Jede erfolgreiche Erziehung und Bildung beginnt mit Bindung.

    "Wir gehen so weit zu sagen, dass so ein Kind eine emotionale Balance braucht, um überhaupt den Mut zu haben, sich aufzumachen, die Welt zu erkunden. Das ist das Bindungskonzept. Bindung steht komplementär zu Bildungsdrang und Neugier."
    Liselotte Ahnert, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Wien.

    "Ursprünglich haben wir mal gedacht in der Bindungsforschung, dass sich das ganz klar darstellt, dass sich eine sichere optimale Bindungsstruktur sofort spiegelt in besserer Intelligenzleistung. Aber das hat sich nicht bewahrheitet in dieser platten Form."
    Heute sehen die Wissenschaftler in Langzeitstudien: Auch Kinder mit weniger optimaler Bindung erkunden klug ihre Welt. Aber sie tun es für einen höheren Preis und unter der Gefahr, langfristig ihre Motivation zu verlieren – eine Befürchtung, die für sicher gebundene Kinder nicht zutrifft. Sie schöpfen aus der Bindung die Kraft für neue Kreativität, ein Leben lang. Das ist ein Zusammenhang, den viele bildungsbewusste Eltern übersehen, wenn sie ihre Kinder bereits im frühesten Alter mit Sprach-, Kunst- und Sportangeboten überfüttern.

    "Es ist schon so, dass wir in unserer deutschen Kultur immer stark die Leistungsbereitschaft betonen und die Funktionstüchtigkeit und nicht so sehr die Geborgenheit und die emotionale Nähe. Die investieren praktisch in die falschen Grundlagen, weil sie es von ihrer eigenen Entwicklung nicht so erlebt haben. Dass es zu kurz gegriffen ist zu denken, man muss ein Kind mit allen möglichen Bildungsangeboten vollstopfen. Das Kind wird daraus nichts entnehmen, wenn nicht die soziale Vermittlung da ist. Da geht das in das eine Ohr rein und in das andere raus."
    Davon ging im gewissen Sinn auch Fröbel bereits aus. Er ahnte, dass es die Stimmigkeit der Haltung und des Hineinversetzens aller Erziehenden in das Kind braucht, um ihm die Gesamtheit und die Zusammenhänge des Lebens begreiflich zu machen. Seiner Sphärenphilosophie entsprechend kann sich die Individualität nur im Wechselspiel mit der Gemeinschaft und der Gesellschaft entfalten. Das verlangt seiner Auffassung nach, dass die Bildungseinrichtungen - vom Kindergarten, über die Schule bis zur Universität – bruchlos aufeinander aufbauen. Gleichzeitig sollten horizontal familienähnliche Gemeinschaften so zusammenwirken, dass der Zögling ganz seine Eigentümlichkeit entwickeln kann. Beide Ansätze sind bis heute in Deutschland – anders als in anderen Ländern - uneingelöst.

    "Der war ja selbst mal Hauslehrer von drei Kindern und wurde von der Mutter dieser drei Kinder sehr geschätzt und da hat es auch sehr philosophische Auseinandersetzungen gegeben und Diskussionen im Umfeld von Erziehung, sodass das für ihn ganz selbstverständlich war, dass man als Zusatzerzieher von Kindern in einer Familie in dem partnerschaftlichen Austausch sein muss."

    Fröbel suchte nach gemeinsamen Lebensformen mit den Kindern. Seine Kindergärten sollten nicht nur Lernorte für die Jüngsten sein, sondern auch "Republiken im Kleinen". Von privater wie öffentlicher Seite sollten Kinder die gleiche Aufmerksamkeit erhalten. Statt die Heranwachsenden irgendwo neutral "abzugeben", strebte er eine Erziehungspartnerschaft an - so wie sie Eltern von heute auch dringend brauchen. Auf der einen Seite ermöglicht ihnen die Wissensgesellschaft den Zugang zu vielen neuen Erkenntnissen auch über das Aufwachsen von Kindern. Das erhöht die Anforderungen an und den Druck auf Eltern.

    "Das andere ist, dass wir allein damit sind, dass wir nicht mehr in natürlich erlebten Gemeinschaften aufwachsen und das ist für Eltern ganz schmerzlich. Wir erleben es heute bei Müttern, und das ist ein Thema, das mit Armut zu tun hat, Armut ist, man kann sagen Beziehungsarmut, das ist nicht nur Geldarmut. Arme Mütter, die in den Statistiken als Problemfamilien auftauchen, sind fast immer Mütter mit einem begrenzten Beziehungshorizont."
    Michael Opielka, Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena.
    Für diese Eltern lohnt es sich – gerade da jetzt das System für die Bildung, Erziehung und Betreuung für Kinder unter drei Jahren weiter ausgebaut wird – neue Formen der Gemeinschaft zu ersinnen. Spielkreise und Familienzentren, in denen Eltern mit ihren Kindern einander begegnen, etwas tun, voneinander lernen, Anleitung bekommen – und wo auch die Kinder länger verweilen können.

    "Die Frage, die Fröbel sich vor 160 Jahren stellte und sich heute wieder stellt und hier gibt es gute Programme, die sehr nützlich sind, aber viel zu wenig angeboten werden, leicht zugänglich. Das können sie nicht machen hinter hohen Mauern, sondern dass müssen sie in den Stadtvierteln machen wo die Menschen sind und es muss einen leichten Zugang geben."