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Mit dem Bohrkopf durch die Felswand

Die Schweizer wollen bis 2015 den längsten Eisenbahntunnel der Welt quer durch das Gotthard-Massiv bauen. Die Bahn muss dann keine Höhenmeter mehr erklimmen. Die Fahrt von Stuttgart nach Mailand verkürzt sich auf viereinhalb Stunden. Und viele Millionen Tonnen Güter können von der Straße auf die Schiene verlagert werden. In diesen Tagen feiern die Schweizer Halbzeit: Die Hälfte der Kilometer ist geschafft. Thilo Kössler berichtet.

    Die Gemeinde Wassen zwischen Altdorf und Andermatt. 480 Einwohner, ein Marktplatz, eine Schule, ein Altersheim. Und den ganzen Tag tosender Verkehrslärm.

    "Wir wohnen dort in dem Haus neben der Sustenstraße und der Autobahn. Im Sommer ist das sehr starker Verkehr - die Töff, die tönen furchtbar, die Motorräder von morgens bis abends"

    Über dem Ort windet sich die Gotthardbahn in Kehren und Kurven dreimal um die Kirche herum - ein paar hundert Meter weiter unten kriechen LKW die Nordrampe zum Gotthardtunnel hoch. 200 pro Stunde. 3500 am Tag. 1,2 Mio im Jahr. Gäbe es nicht das Nachtfahrverbot, es wäre gar nicht mehr auszuhalten in Wassen.

    "Wenn man weg ist ein bisschen, dann ist es besser, sonst ist sehr laut. Die Fenster haben wir meistens geschlossen."

    Bis 2009 sollen nur noch 650.000 LKW im Jahr über die Schweizerischen Transitstrecken rollen. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Dafür müssen die Güter von der Straße auf die Schiene. Das Schlüsselwort heißt NEAT - die Neue Alpentransversale. 10 Mrd Euro investieren die Eidgenossen insgesamt in den Ausbau der Bahnstrecken vom Norden in den Süden: In 15 Jahren sollen dann per anno 30 Mio Tonnen Frachtgut auf ebenem Gleis durch die Schweizer Alpen fahren. Das Herzstück ist der Basistunnel durch den Gotthard.

    Gebohrt wird in Amsteg im Norden und in Bodio im Süden. Und in Sedrun und in Faido wird der Gotthard von innen ausgehöhlt.
    Sprengen, buddeln, sichern, schützen, so arbeiten sich die Tunnelbauer in Faido Meter für Meter vorwärts: Mit Sprengstoff, Spezialmaschinen, Muskelkraft. Es ist laut, es ist heiß - und es ist gefährlich: Noch nie hatte ein Tunnelprojekt so viele Unbekannte.

    "Vor allem wegen der großen Überlagerung, der großen Drücke, der unterschiedlichen Geologie und den vielen Störzonen. Es ist ein sehr, sehr schwieriges Projekt hier, das stimmt."

    Georg Pyttlik, Bauleiter in Faido, Bergingenieur, Saarländer: Als es dort im Steinkohlebergbau immer enger wurde, wechselte er vom Flöz in den Fels. Und arbeitet weiter unter Tage, 1400 Meter tief im Berg.

    "Wir haben hier eine Störung angefahren, die nicht vorher erkennbar war und zwar war das Gestein so schlecht, so kakerisiert - der Name sagt schon: Kacke - eine Art Gesteinsmehl, das immer wieder hereinbrach, das sich plastisch verformte und der Stahleinbau durch die plastische Verforumg zu fließen anfing und selbst unter der Last einbrach."

    Georg Pyttlik, schiebt sich den Helm ins Genick und leuchtet mit der Grubenlampe an die Stollenwand: das Gestein ist hier so schlecht, dass alle paar Zentimeter tiefe Anker gesetzt werden müssen.

    "Das Ankerraster ist dermaßen verkleinert, d.h. alle 50 cm ist ein Anker von acht bis 12 Meter eingebaut worden. Der Berg ist richtig vernagelt hier"

    Der Berg scheint sich zu wehren: Georg Pyttlik ist mit dem verbeulten Geländewagen von der West- in die Oströhre gefahren. Dort bleibt er an einer Stelle stehen, wo die Betonverkleidung der Stollenwand tiefe Risse zeigt. Im Januar und noch einmal im Juni hat es hier schwere Bergschläge gegeben - das Schreckensszenario für jeden Mineur und Tunnelbauer.

    "Eine schlagartige Entspannung des Gebirges hat hier stattgefunden. Das hört sich an wie eine Sprengung, nicht einmal, nicht zweimal - das ist eine Serie von Detonationen. Sobald sich der Staub gelegt hat, hat man das Ausmaß gesehen, dass die Bögen sich hochgedrückt haben, sich in sich verdreht haben, die Anker abgerissen waren und die Rohrleitungen in Fahrbahnmitte lagen."

    Damals ist niemand zu Schaden gekommen. Und die in Faido verlorene Zeit wurde woanders wieder wettgemacht, sagt Peter Zbinden von der Schweizer Alptransit.

    "Für diese 57 Kilometer Gotthard Basistunnel müssen wir 153 Kilometer ausbrechen und wir haben jetzt genau die Hälfte geschafft, das heißt über 77 Kilometer."

    So rechnen die Schweizer Bauherren und Ingenieure fest damit, dass Ende 2015 die ersten Personen- und Güterzüge durch den Tunnel rasen können. Die Strecke Stuttgart-Mailand wird dann in viereinhalb Stunden zu machen sein - ebenerdig durch die Alpen. Da hält kein LKW mehr mit. Und doch ist die Anwohnerin in Wassen noch skeptisch, ob es dann wirklich besser wird mit dem Verkehrslärm auf der Autobahn.

    "Vielleicht, dass es weniger wird, vielleicht auch nicht. Besonders die alten, kranken Menschen macht es nervös. Die sollen zum Teufel fahren!"