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Mit dem Bollerwagen auf die Insel

Heute fahren Wochenendausflügler mit Bollerwagen, Kühltasche und Sonnenschirm auf das kleine Eiland d'Aix. Am Strand der autofreien Insel lassen sie es sich gut gehen. Doch, auch wenn es nicht so scheint, die Insel hat in der Vergangenheit Prominenz angelockt: Den Schriftsteller Georges Simenon, die Schauspielerin Catherine Deneuve. Und Napoleon verbrachte auf der Ile d'Aix seine letzten Tage in Freiheit.

Von Franz Nussbaum |
    Das Inselchen d'Aix liegt versteckt zwischen den viel größeren und auch bekannteren Atlantik-Inseln Re und Oleron. Den Hinweis auf Ile d'Aix bekam ich von Madame "Martine". Sie ist meine Vermieterin, eines sogenannten Chambre d'Hotes hier am beschaulichen Flüsschen Charente. Chambre d'Hotes sind Gästezimmer in Privathäusern. Und von Madame erfahre ich, wann Sonntag vormittags das kleine Fährschiff nach Ile d'Aix ablegt. Und dass man spätestens um 17 Uhr mit dem letzten Boot wieder von der autofreien Insel runter muss.

    Und so stoßen wir - hier - im kleinen Fischerei-Hafen von Fouras auf eine schon längere Schlange französischer Großfamilien - mit Kind und Kegel und Hund und Bollerwagen, hoch beladen für ein sonntägliches Picknick im Grünen: Kühltaschen, Baguette, Fußbälle, Liegen und Sonnenschirme. Und warum es ratsam ist, das alles selber mitzunehmen auf Napoleons Insel, auch diesen Tipp gibt Madame. Denn die Preise seien auf der Insel wie der Atlantik - stark gesalzen!
    Leinen los, wir legen ab. Wir kommen immer wieder vorüber an winzigen Eilanden - und alle tragen Festungen. Sie gehören zu einem verflochtenen System von Bollwerken, begonnen in der Zeit Ludwig XIV.. Und schließlich kommt die kleine Ile d'Aix näher. Die beiden Leuchttürme, der gleißend weiße Strand, wir erkennen auch das Inseldörfchen. Rund 300 Leute sollen hier fest wohnen, jedenfalls in den Sommermonaten. Und wir sehen - auch hier auf der Insel - Festungsanlagen, Forts, Kasematten, wehrhafte Tore. Sabine Estor:
    "Im 18. Jahrhundert waren La Rochelle und besonders Rochefort Ausgangshäfen für den Überseehandel nach Nordamerika - und das in starker Konkurrenz mit Großbritannien. Das war ein richtiger Handelskrieg. Und deshalb hat der große Finanzminister Colbert seinen König, Ludwig XIV. überzeugt, dass der wichtige Handel mit den Kolonien sehr leicht durch die Engländer gestört werden kann. Und Colbert war auch der Minister für die Marine. Und deshalb plant er mit Marschall Vauban ein strategisches System von Forts. So können sich die Inseln gegenseitig durch Kanonen sperren, damit kein feindliches Schiff hier eindringen kann."

    Und Sie zeigen mir dazu eine alte Zeichnung mit rund zwölf bis 15 englischen Karavellen mit Kanonen, unter Segeln. Ein Schiff explodiert gerade mit einem Volltreffer wohl in seine Pulverkammer.

    "Und Spötter sagen, dass Ludwig XIV. für dieses Sicherungssystem - hier - fast genauso viel ausgegeben hat wie für sein neuen Schlossbau in Versailles. Colbert war ein Finanzgenie, in seine linken Hosentasche verwahrt er die Steuereinnahmen. Und in der anderen Tasche hatte er die Extrawünsche seines Monarchen. Und den muss er immer bei Laune halten."

    Vor genau 80 Jahren geht hier, wo wir angelegt haben, auch der damals 25-jährige Schriftsteller Georges Simenon an Land. Sein Markenzeichen wird später der Kommissar Maigret. Für Simenon ist die Reise hierher aber mehr eine Flucht, denn ein Sonntagsausflug: eine Flucht vor einer gefährlichen Liebschaft. Eine Liaison mit der 20-jährigen Tänzerin und Sängerin Josephin Baker, die dann später mit dem Bananenröckchen Weltkarriere macht. Und es bedarf nicht allzu viel Fantasie sich eine wilde Romanze mit der lasziven Baker auszumalen. Er flieht im Spätherbst auf dieses abgelegene Inselchen und kuriert seine "Leiden des jungen Simenon" mit Romanentwürfen und Novellen. Er notiert:
    Es regnet, anhaltend und durchdringend. Einer dieser Regen, die nie aufhören wollen. Und es ist kalt. Viele der flachen Häuschen des Inseldorfes sind, weil die Saison beendet ist, unbewohnt. Männer und Frauen arbeiten trotz des Wetters unten am Strand. Sie sammeln Austern in Säcken. Eine Insel für arme Leute, die froh sind, wenn sie die Austern verkaufen können, nachdem sie sich dabei am Strand schmerzlich und tief in die Finger geschnitten haben.
    Schmerzlich und tief sitzen die Vernarbungen, die zur Leidenschaft dazu gehören. Georges Simenon beginnt hier auch die ersten "Maigret-Krimis". Er wohnt unter dem Namen "Christian Brulls" in irgendeinem dieser Häuschen. Und er verarbeitet seine Beobachtungen der Insulaner auch in einer romantischen Novelle: eine stürmische Liebschaft zwischen einem einheimischen Fischer und einem blutjungen Mädchen.

    Und bleiben wir bewusst literarisch bei dem Begriff "gefährliche Liebschaften". Unter den Militär-Ingenieuren, die gegen 1800 hier auf Ile d'Aix die Festungsbauten und Kanonen modernisieren, ist auch Hauptmann Choderlos de Laclos. Die Tage sind lang und langweilig. So beginnt Laclos sein "Buch des Feuers" - wie es heißt - in Form des damals populären Briefromans. Nebenbei, auch Goethes Leiden als junger Werther war ja ein Briefroman. Laclos schreibt 1780/81 "Les Liaisons dangereuses", die "gefährlichen Liebschaften". In der Literaturkritik ist das Buch "die zynische Perversion des Bösen", wie ich lese. Und es heißt:
    Eine infame, skandalöse Abrechnung mit der korrupt-blasierten aristokratischen Gesellschaft, acht Jahre vor Beginn der französischen Revolution. Laclos beschreibt eine adelige Clique, die sich einen Spaß damit inszeniert, ein Fräulein erotisch zu verführen, sie in Verruf zu bringen und zu ruinieren. Man macht sie - kalt inszeniert - 'fertig' und amüsiert sich an ihren Qualen und Erniedrigungen
    Heinrich Mann übersetzt 125 Jahre später, also 1905, den Roman ins Deutsche. Der Stoff wird auch verfilmt mit Gerard Philippe und Jeanne Moreau und auch in eine Bühnenfassung umgeschrieben.
    Wir gehen über das grob gepflasterte Hauptsträßchen des kleinen Inseldörfchens. Längst sind die Tagesurlauber mit den aufgeregten Kindern und ihren Wägelchen aus unserem Blickwinkel zu ihren Strandabschnitten gerollt. Die kleinen Häuschen, weiß und rosa oder gelb gestrichen, alle mit kleinen Vorgärtlein, mit Weinlaub oder rosa Stockrosen. Einige der Häuser sind auch Boutiquen für Kitsch, Ansichtskarten oder Klamotten. Andere Häuschen kann man mieten.

    Catherine Deneuve oder Gene Kelly sollen hier gewohnt haben. Ein fauler Hund schläft mitten auf der Straße wie zu einer Demonstration, dass hier der Hund nicht vergraben ist. Denn immerhin sind hier die gefährlichen Liebschaften ausgedacht, geschrieben - und am Bespiel Simenons "Der Fischer und das Mädchen" auch gelebt worden.

    Einige Insel-Besucher studieren die aushängenden Speisekarten der Restaurants, andere nehmen alternativ lieber ihr Menu an einer Fast-Food-Bude ein. Die kleine Inselkirche, innen dunkel, romanisch, einige Stufen führen zu einer Krypta hinunter:
    "Es waren die ersten Siedler, es waren Mönchen aus Cluny, und sie haben hier auch eine Abtei gebaut. Vorher war die Insel ein Stützpunkt der gefürchteten Wikinger, die zu ihren Raubzügen mit ihren Booten in die französischen Flüsse einbogen, also in der Charente aufwärts gerudert sind. Und sie haben die Städte und reichen Klöster geplündert."
    Am Ende der "Rue Napoleon" steht jenes Haus, in dem der abgedankte Napoleon seine letzten Tage auf französischem Boden im Juli 1815 verbringt. Heute ein kleines Museum. Wir lesen über Bonaparte, aus allerdings deutschem Blickwinkel:
    Napoleon war zuerst Konsul, dann Kaiser der Franzosen. Seine Vision der revolutionären Freiheit für Europa erweist sich als ein trügerisches Versprechen. Als er vor Moskau, bei Leipzig und in Waterloo nach militärischen Fehlern scheitert, ist er erst Mitte 40. Eine gebrochene Figur. In Paris deutet ihm das Kammerpräsidium an, dass er endgültig abdanken müsse. Der 73-jährige preußische Marschall Blücher soll ihn mit leichter Kavallerie gefangen nehmen. Und die Engländer setzen eine unermessliche Summe für seine Verhaftung aus.
    Und was nun in den Julitagen 1815, auch hier auf dem Inselchen d'Aix, folgt, ist eine hochdramatische Parabel über Machtverlust, Realitätstrübung und Größenwahn. Es erinnert an die letzten Tage unter der Berliner Reichskanzlei oder Erich Mielkes letzten Auftritt in der Volkskammer der DDR. Aus Literatur, die nicht der Mythenbildung anhängt, zusammengefasst.
    Napoleon befielt, noch in Paris, dass zwei Kriegsschiffe im Atlantikhafen von Rochefort zusammengezogen werden. Er liebäugelt mit einer Flucht und einer Aufgabe in Nordamerika. Er erwartet von den Alliierten des Wiener Kongresses Rücksicht zur Wahrung seines Nachruhmes. Schließlich proklamiert er seinen vierjährigen Sohn zum neuen Kaiser Napoleon II. und dankt ab. Napoleon setzt sich nach Südwest Frankreich ab. Blücher nimmt die Fährte auf.
    Auf dem Weg nach Rochefort soll er hier und da in der Kutsche noch bejubelt worden sein, denn die Bevölkerung war nicht über alle Einzelheiten von Napoleons militärischen Pleiten informiert. Dann wirft das gewiefte Schlachtross, so lese ich, stolz den Kopf in den Nacken. Bleibt der Jubel aus, verfällt er in Agonie. Er erfährt schließlich hier auf der Insel d'Aix, dass der Fluchtweg über das Meer von einem britischen Kriegsschiff abgeschnitten sei. Bonaparte stellt beleidende Forderungen an die Engländer, gleichzeitig verhandeln seine Unterhändler um politisches Asyl, um eine Lösung in Ruhm und Ehre.

    Napoleon verkennt, dass er längst für "vogelfrei" erklärt ist. Schließlich besteigt er, in sich selbst verfangen, in den frühen Morgenstunden des 15. Juli 1815 - hier auf diesem Inselchen - jenes britische Kriegsschiff, das ihm die Flucht verstellte. Man bringt Napoleon erst nach Plymouth und dann nach Sankt Helena.
    Wir sind nun in den Räumen des kleinen Museums. Hier ist der dramatische Ablauf jener Tage im Juli 1815 aber nicht dokumentiert. Hier ist nur alles bis zur letzten Haarlocke des Kaisers aufbewahrt, alles was seinen Nachruhm erhalten soll. Eine Kopie seiner Abdankungsurkunde oder inszenierte Bilder mit Triumphgesten. Ein hochbäumendes Ross, darauf der unbesiegbare Feldherr, mit Trikolore drapiert, der seine Soldaten mitreißt. Und auch das darf man vielleicht anmerken, die Krüppel der Gefechtsfelder sind den Schlachten-Malern verborgen geblieben. Ein anderes glorioses Bild: Napoleons Selbstkrönung zum Kaiser.

    Ein Bildnis spricht mich dann nachdenklicher an. Es zeigt Napoleon auf Sankt Helena. Er diktiert einem militärischen Begleiter, vielleicht sein Testament? Sein Gesicht ist aufgedunsen, er ist wenig ordentlich angekleidet, bauchige Figur, seine Füße stecken in roten Pantöffelchen. Er mag da höchstens 52 sein, sieht aber zehn Jahre älter aus. Vielleicht sollte das Bild vom Kränklichen auch den gestreuten Verdacht vom vergifteten Imperator nähren. Sechs Jahre lebt Napoleon mit seiner kleinen Entourage im Entzug von der "Droge Macht" in Verbannung auf der Insel Sankt Helena. Und seine Legendenschreiber und Unsterblichkeitsmacher umstehen, hier auf dem letzten Bild sein Sterbebett - und sorgen schließlich für seine grandios inszenierte Rückführung nach Paris.
    Und hier draußen, auf der Rue Napoleon sehen wir auf alten Schwarz-Weiß-Postkarten, dass es hier zum Gedenken an Napoleon im Juli 1815 auch jährlich kleine Militärparaden ablaufen.
    "Es war damals eine Mischung von Nationalfeiertag am 14. Juli, Erstürmung der Bastille. Dann der 15. Juli, als Napoleon hier abreisen muss. Und auf dem alten Foto sehen Sie die Damen mit großen Hüten, elegant gekleidet, die Kinder im Matrosenanzug und die Herren in Uniform. Und nach den Reden hat man ein Essen serviert und sich danach an das Meer zurückgezogen."
    Ich habe noch gute vier Stunden Zeit auf der winzigen Insel d'Aix, dann legt auch mein letztes Schiff ab. Ich suche mir ein gleich Plätzchen in die Nähe der Bollerwägelchen-Urlauber am Atlantik-Strand. Einige Familien sitzen beim ausführlichen Picknick. Väter demonstrieren ihren Kindern die hohe Schule französischer Fußballkunst. "Gefährliche Liebschaften" sind am Strand nicht direkt auszumachen. Und um 17 Uhr werde ich unumstößlich Napoleons Insel für immer verlassen. Es wird nicht in die Geschichte eingehen.