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Mit dem Cyber-Helm gegen Magersucht

Psychologie. - Italienische Psychotherapeuten gehen neue Wege in der Behandlung von Suchtpatienten. Statt in Gesprächen oder gar Hypnose lernen die Betroffenen, ihre Ess- oder Magersucht auf einem virtuellen Spaziergang in den Griff zu bekommen. Dabei setzen die Wissenschaftler auf Cyberspace, Datenhelm und virtuelle Welten.

    Von Thomas Migge

    Unsere Patienten lernen, ich will es mal so nennen, mit innovativen Methoden und Technologien auf sich und ihren Körper aufmerksam zu werden. Sie erfahren sich selbst. Das ändert ihr Bewusstsein und führt zur Heilung. All das ist natürlich nur mit Computern möglich.

    Monica Bacchetta ist Psychotherapeutin. Eine ungewöhnliche Therapeutin. Im Unterschied zu anderen Fachärzten behandelt sie ihre Patienten nicht nur auf traditionelle Weise: also auf einem Sofa liegend oder sich gegenüber sitzend und über das Problem sprechend. Signora Bacchetta ist Mitverantwortliche eines europaweit einmaligen Projekts zur Bekämpfung zweier Krankheiten, die in vielen Ländern immer mehr Patienten finden: der Mager- und der Esssucht. Zusammen mit Informatikern und anderen Psychotherapeuten entwickelte sie am Auxologischen Institut in Piancavallo am Lago Maggiore in Norditalien einen, wie sie es nennt, virtuellen Spaziergang des Patienten auf dem Weg zur Bewusstwerdung und zur Heilung. Bacchetta:

    Wir haben nach einer neuen Methode zur Krankheitsbekämpfung gesucht, in der, auf ganz didaktische Weise, der Patient in eine virtuelle Welt eintritt und mit Realitäten konfrontiert wird, die anschließend auf traditionelle Weise im Gespräch zwischen Arzt und Patient thematisiert werden.

    Das Projekt sieht vor, dass die jeweiligen Mager- und Esssuchtpatienten mit einer Art Helm ausgestattet werden, der es ihnen erlaubt, über einen vor den Augen ablaufenden dreidimensionale Film in eine virtuelle Welt einzutreten. Eine Welt aus verschiedenen Räumen. Jeder dieser Räume konfrontiert den Patienten mit ganz bestimmten Realitäten. Raum eins zum Beispiel: der Patient bewegt sich in einem runden Zimmer, an dessen Wänden acht Spiegel acht verschieden dicke und dünne Menschen reflektieren. Der Patient hat sich ein ideales Abbild auszusuchen. Interessant ist, dass in sämtlichen Testreihen die Betroffenen ausschließlich schlanke und keine krankhaft dünnen oder dicken Körper auswählten. An diesem Punkt setzt die Arbeit des Therapeuten ein: er führt den Patienten in einen zweiten Raum, in dem das Idealbild mit dem eigenen Bild konfrontiert wird. Im Gespräch analysieren der Arzt und der Kranke - der sich dabei aber immer noch im virtuellen Raum aufhält - das Problem der eigenen physischen Selbsteinschätzung. Auf diese Weise, so Monica Bacchetta, wird der Patient ganz langsam dahin gebracht, zu begreifen, dass sein Äußeres von seinem Essverhalten abhängig ist: Bacchetta:

    Uns geht es darum, den Betroffenen auf eine Reise zu schicken in alltägliche Situationen, die mit dem Essen zu tun haben. Er oder sie durchlebt seine Realitäten im virtuellen Raum und wir als Ärzte sind gleich anwesend und können therapierend eingreifen. Das ist ja normalerweise nicht möglich.

    Nicht möglich, weil die Patienten in der Regel allein leben und Ärzte in den kritischen Momenten von Mager- und Esssüchtigen in der Regel nicht anwesend sind. Im Institut von Monica Bacchetta aber gehen die Kranken Lebensmittel einkaufen, kochen, essen, sehen Lebensmittel in Restaurants und Schaufenstern und in der Werbung - immer in einer virtuellen Welt, in der sie von Fachärzten begleitet werden. Das in Norditalien entwickelte virtuelle Programm bietet 14 virtuelle Räume: darunter auch ein Bad, einen Strand, eine Kneipe und ein Kleidergeschäft. Die Auswahl dieser Räumlichkeiten ist im Vorfeld des Projekts, das mit EU-Geldern finanziert wird, im Zusammenarbeit mit den ersten Patienten zustande gekommen. Diese ersten zehn Patienten haben jetzt ihre Therapien abgeschlossen. Sie dauerte sechs Monate. In acht Fällen dieser zehn Fälle führte sie zum Erfolg: die Betroffenen konnten geheilt werden und fanden zu einem relativ normalen Essverhalten.