Freitag, 17. Mai 2024

Archiv


Mit dem Zug in die Waldeinsamkeit

Zwischen Sankt Pölten und Mariazell in Niederösterreich fahren die ältesten Elektroloks der Welt. Sie wurden Anfang des 20. Jahrhunderts für die schmalspurige Mariazellerbahn gebaut. Doch die Loks sind nicht die einzige Sehenswürdigkeit in dieser voralpinen Landschaft: Ein Haltepunkt an der Strecke besteht eigentlich nur aus einem eleganten Hotel - eine Art Zauberberg auf österreichisch.

Von Stefan May | 21.05.2009
    "Meine Damen und Herren, wir erreichen in Kürze Sankt Pölten Hauptbahnhof. Ihre nächsten Anschlussmöglichkeiten: Regionalexpress nach Mariazell, Abfahrt 8:35 Uhr. Ladies and Gentlemen: In a few Minutes we arrive at Sankt Pölten."

    Hier, in der niederösterreichischen Landeshauptstadt, wird umgestiegen: Von der Westbahn auf die Schmalspurbahn, 85 Kilometer hinein ins Voralpenland, Richtung Wallfahrtsort Mariazell. Auf schmaler Spur wartet der Ötscherbär, ein als Express benannter Bummelzug im dunkelbraunen Design seiner Entstehungszeit. Der Ötscher ist der höchste Berg entlang der Strecke, und ein Bär hält sich tatsächlich in der Gegend auf.

    Die schmale E-Lok aus dem Jahr 1910 zieht den Sieben-Wagen-Zug bald recht flott durch eine Ebene aus Obstgärten und Sonnenblumenwiesen zwischen verstreuten Bauerndörfern. Wenn nicht eine Beschränkung die Geschwindigkeit auf 35 Stundenkilometer begrenzt, ist der Express mit Tempo 70 unterwegs, und die Stangen an den Rädern der Lok stampfen gleichmäßig wie die Arme einer Nähmaschine. An Straßenkreuzungen stößt sie schnatternde Triller aus, draußen riecht es nach Land und gedüngten Feldern.

    Drinnen ist der Zug gefüllt mit Ausflüglern, Familien und Reisegruppen. Bärengesichter zieren die Polsterung der Sitze. Gleichmäßig holpert der Zug durch das Pielachtal. Das Ehepaar Schachner aus Wien fährt einem Wanderwochenende entgegen. Für Christian Schachner ist die Fahrt mit dem Ötscherbären etwas Besonderes:

    "Also die Mariazellerbahn ist sicher eine der schönsten Schmalspurbahnen Österreichs. Und des Weiteren für den Touristen ist natürlich das Schöne, dass sie noch mit so altem Wagenmaterial unterwegs ist wie vor 50, 60 Jahren. Sie ist ein ideales Verkehrsmittel, um zu einem Ausgangspunkt zu gelangen, und dann kann man die Wanderung so anlegen, dass man woanders entweder wieder in die Mariazellerbahn einsteigt oder in die Stichbahn, die von Obergrafendorf nach Mank führt, oder man geht hinüber ins Traisental. Also es gibt da viele Varianten, um hier die Bahn zu nutzen für eben Ausflüge am Wochenende."

    Und was ist für Renate Schachner das Besondere an der Mariazellerbahn?

    "Das Buffetwagerl."

    Also sehen wir uns mit dem Ehepaar Schachner den Buffetwaggon einmal näher an: Er besteht aus ein paar Stehtischen und einer Durchreiche aus der Küche im Hintergrund.

    Die Bauern der Umgebung bewirtschaften die Buffetwaggons der Mariazellerbahn mit selbsterzeugten Produkten. Heute ist es Monika Pichler aus der Gemeinde Mank, die die Fahrgäste versorgt und weiß, was bei ihnen am Besten ankommt:

    "Speckbrot, Most, Kaffee und die selbst gemachten Mehlspeisen."

    Most, das ist vergorener Apfelsaft oder Birnensaft aus den Obstgärten rechts und links der Bahnstrecke. Mehr als 100 Jahre ist sie alt. Gebaut wurde sie, weil der Wallfahrtsort Mariazell im 19. Jahrhundert zu den beliebtesten Pilger- und Touristenzielen der österreichisch-ungarischen Monarchie gehört hatte und man deshalb die Westbahn mit ihm auf dem Schienenweg verbinden wollte. Um die Jahrhundertwende kam die damals revolutionäre Idee auf, die Strecke zu elektrifizieren. An den Flüsschen in den Bergen wurden mehrere Kraftwerke gebaut, die bald die ganze Region mit Strom versorgten.

    Zwischen 1907 und 1911 wurden jene Loks angeschafft, die auch heute noch die Züge ziehen. Heute sitzt Manfred Ott im Führerstand, normalerweise fährt er die Schnellzüge auf der Westbahn. Schon sein Vater war Lokführer und ist lange Zeit auf der Mariazellerbahn gefahren. Die Einsätze auf der Strecke ins Bergland mit Spurweite 760 Millimeter weiß er zu schätzen

    "Die Entstehung von der Bahn ist eigentlich richtige Handarbeit, wenn man da eine fährt: Es eine wunderschöne Gegend, es ist was Besonderes. Die 1099 ist eine schützengesteuerte Maschine. Das ist alles anders zu bedienen. Man hat beim Aufschalten Fahrstufe für Fahrstufe. Man braucht ein Gefühl. Man hat eine andere Bremsbedienung. Man fahrt da noch mit der Saugluftbremse für den Wagenzug."

    Das Tal wird enger, das Gebirge rückt näher. Ungefähr in der Hälfte der Strecke beginnt die Bergstrecke. In drei weiten Kehren arbeitet sich der Zug in die Höhe. Wenn man den Waldweg bergab nimmt, ist man mitunter schneller als der talwärts fahrende Zug. Die Lok plagt sich hörbar. Im Winter ist es noch schwieriger. Da wird den Maschinen ein Pflug vorgeschnallt. Manfred Ott zeigt aus dem Fenster: Meterhoch kann dann der Schnee liegen.

    "Wenn Winter kommen, haben wir halt da sehr viel Schnee. Man muss halt immer aufpassen und schauen auf alles. Gefahren sind halt, was weiß ich, dass hie und da einmal Lawinen abgehen können. Das muss man halt berücksichtigen. Wenn es einmal von der Witterung oder vom Geschehen her nicht mehr zulässt, dann kann man eh nichts machen. Dann kann es passieren, dass man stecken bleibt."

    Wie durch einen Urwald schlängelt sich die Strecke am Hang an rostigen Oberleitungsmasten entlang. Manfred Ott steuert mit dem hölzernen Geschwindigkeitsrad vor sich das Tempo. Ein paar klobige Messgeräte für Primärstrom, Motorstrom und Rückmeldung machen das ganze Armaturenbrett aus. "Bremscylinder" ist noch mit "C" geschrieben. Es knirscht und knarrt, der Motor singt, mit Tempo 40 schiebt sich Lok bis auf fast 900 Meter.

    Die Haltstelle Winterbach wird von einem Hotel dominiert, das am Pilgerweg nach Mariazell liegt. Früher war es ein Ferienheim des Elektrizitätsunternehmens für seine Belegschaft. Drinnen hängen historische Fotos von der Bahnstrecke und ein geschichtlicher Überblick.

    Selbst der Speisesaal ist dem Star der Region gewidmet: An den Fenstern entlang fährt, aus der Küche kommend, eine Modellbahn und hat auf den Güterwagen die bestellten Salate und Vorspeisen für die Gäste geladen.

    Draußen nimmt das Original die letzte Steigung unter die Räder und durchfährt den fast einen Kilometer langen Gösingtunnel. Pilgerweg und Bahnbau sind die Gründe für eine Reihe von Gasthäusern und Hotels entlang der Bahn. Wie in Winterbach auch in Gösing, gleich hinter dem Gösingtunnel, ein paar Kilometer vor der Endstation Mariazell. Ein eigener Bahnbediensteter läuft bei jedem Zug zur Hotelzufahrt, um diese für den Zug zu sperren. Seine Existenz nährt hartnäckig das Gerücht, dass die Österreichischen Bundesbahnen die Personalkosten künstlich hoch und die Fahrgastzahlen mittels unattraktiver Fahrpläne niedrig halten, um einen Grund zu haben, die von ihr nicht geliebte Mariazellerbahn irgendwann einmal einstellen zu können. Seit vielen Jahren möchte sie die Strecke lieber zusperren als weiterbetreiben.

    Der Bahnhof Gösing besteht eigentlich nur aus dem Hotel auf der anderen Seite des Bahnhofs, bestätigt dessen Besitzer, Hans Feistl.

    "Gösing ist ein kleiner Ort, mit einer eigenen Postleitzahl. Darauf sind wir sehr stolz. Es gibt insgesamt, glaube ich, 24 Hausnummern, und davon zählen 20 zu unserem Forst und zum Hotel."

    Ein wenig wirkt das Hotel Gösing wie ein österreichischer Zauberberg: Wie ein altes Herrenhaus, mit knarrendem Parkett in den eleganten Speiseräumen, liegt es einsam neben dem Bahndamm, mitten im Wald, mit einem Swimmingpool zwischen einem Seerosenteich und einer Löwenzahnwiese an der Rückseite des Gebäudes.

    Wer in Gösing aussteigt, erblickt ihn auch gleich, den Ötscher: Über dem Hoteldach ragt der niederösterreichische Fujiyama, wie der Kalkriese auch wegen seiner gleichmäßig ansteigenden Form genannt wird, in der Ferne aus den Wäldern. Es ist eine Landschaft, für die das Wort von der unberührten Natur noch zutrifft. Hier lebt noch eine mannigfaltige Tierwelt, erzählt Hotelier und Grundbesitzer Feistl.

    "Es gibt Rotwild, das sind Hirsche, wir haben heuer das Recht und auch die Pflicht, sechs Einserhirsche zu schießen. Das sind Hirsche ab dem zehnten Lebensjahr, die wunderschöne Trophäen haben. Es gibt Rehe. Es gibt Mufflons. Es gibt Gämsen. Es gibt Auerhähne und Birkhühner."

    Und den Ötscherbären natürlich - der auf Pfoten und nicht auf Schienen. In eine solche Atmosphäre hat es stets auch illustres Publikum gezogen:

    "Das Haus hatte früher einen sehr hohen Stellenwert für die sogenannte feine Wiener Gesellschaft. Es war so, dass Minister, Regierungschefs das Haus ständig besucht haben. Im Gästebuch gibt es Unterschriften vom Schah von Persien und der Farah Diba. Die Wiener machen den größten Teil unserer Gäste aus."

    Früher mögen sie mit der Bahn gekommen sein, heute tun sie es vorwiegend mit dem Auto, auch wenn der Hotelchef die alte Tradition wieder fördern will. Welches Hotel hat schon einen eigenen Bahnhof? Und so sitzen die Gäste zumindest auf den Holzbalkonen des kaisergelb gestrichenen Hotels und schauen hinüber auf den Bahnhof, wo zwischen den Tannen die Mariazellerbahn wie ein Spielzeugzug sich aufmacht auf die Reise aus dem kleinen Paradies, wo die Zeit stehen geblieben ist, hinaus in die Ebene.