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Mit dem zweiten sieht man besser

Mit dem zweiten sieht man besser: So geht eine etwas aufdringliche Fernsehreklame, bei der sich Leute immer das eine Auge zuhalten. Mag sein, dass sich Claus Guth für seinen Bayreuther Holländer da hat inspirieren lassen, denn Augen zuhalten, eins oder beide, das kommt hier dauernd vor. Der Holländer tuts, das bleiche Phantom, Daland, der Vater des Mädchens Senta, auch diese selbst, und Mary, die Amme, ist gleich ganz blind. Das Augenzuhalten ist aber keine verschmitzte Geste, sondern der Hinweis auf etwas Schreckliches, das im Hause Daland geschehen ist, in dessen Vestibül wir uns befinden und das wir den ganzen Abend nicht verlassen, mag da noch soviel von Sandwikens Bucht gesungen werden. Das kleine Mädchen Senta im süßen Matrosenkleidchen, dessen unvorteilhafte full size-Ausgabe Groß-Senta Adrienne Dugger tragen muss, wird diesmal noch viel öfter durch dieses schwer psychologische Zimmertheater geschickt, in dem also jede Geste auf das unsichtbare Schreckliche deutet und das wir theatergeschulten Hobbypsychologen kaum anders als einen Fall von Missbrauch vorstellen können.

Von Holger Noltze |
    Im zweiten Jahr sieht man das noch besser: Wie Klein Senta nicht von Vater Daland getätschelt werden mag. Nur vorlesen soll er ihr, aus dem blutroten Buch vom Fliegenden Holländer, und dann verschwimmen Vater und Phantom, Angst und Projektion und Erlösungsnot, und für den armen Erik, den irdisch zuständigen Geliebten, ist kein Platz mehr, keine Chance für Alfons Eberz, da kann er noch so laut singen als wären wir nicht im Festspielhaus, sondern in der Arena di Verona.

    Mit dem Zweiten sieht man besser: Das gilt auch für das virtuose Doppelgängerspiel, das Claus Guth noch einmal zugespitzt hat: Der Holländer erscheint jetzt als eine Art Zombie-Variante des korrekten Daland. Weit komm ich her, singt das Gespenst, und der Bürger Daland singt stumm die Worte mit, überhaupt sind sie sich bald einig.

    Immer wieder werden sie ineinander gespiegelt, so wie der ganze Raum um die Mittelachse einer grandios geschwungenen Treppe gespiegelt ist: Oben ist wie unten auf dem Kopf, alles doppelt da, sogar die hellen Flecken auf der Tapete, wo früher einmal Bilder gehangen haben. Christian Schmidt hat für den Psychothriller einen wunderbar trügerischen Raum gebaut, der sich durch verblüffende Projektionen und eine starke Lichtregie dauernd verändert. Ein Spukhaus. Das Böse aber ist real. Gegen den Alptraum in Sentas Kopf ist selbst der große Klabautermann, der sich einmal von der Decke hinabsenkt, bloß Geisterbahn.

    Die analytische Doppelstunde in der Praxis Dr. Sigmund Guth entwickelt, mehr noch in der Überarbeitung, eine starke Suggestion: Alles klug gedacht und gut gezeigt, und auch die Projektionstechnik funktioniert gespenstisch perfekt. Dass der pausenlose Abend dann doch kein Krimi wurde, liegt an den Schwächen der Besetzung. John Tomlinson kann auch durch seine starke Präsenz die stimmlichen Defizite nicht mehr wettmachen, er klingt schauriger als er selbst als Untoter dürfte. Dafür bleibt der Daland von Jaakko Ryhänen allzu brav und übertreibt es allenfalls mit dem Piano. Eine feine Miniatur gelingt Uta Priew als Frau Mary, Tomislav Muzek ist ein sicherer Steuermann. Aber was nützt es, wenn Senta schwächelt. Adrienne Dugger vermag die dunkle Geschichte, um die es doch gehen soll, durch ihren Gesang kaum zu beglaubigen, der Eindruck bleibt blass, trotz einiger schöner Töne.

    Marc Albrecht war es in seinem zweiten Jahr als Holländer-Dirigent um mehr Binnendifferenzierung zu tun. Wo mehr Details zu hören waren, waren es aber auch mehr verrutschte Kleinigkeiten. Was beim Debüt trotz der für die Holländermusik schwierigen Bayreuther Akustik direkt und zupackend überkam, wirkte jetzt stellenweise verschwommen. Weiterhin ausbaufähig.

    Bayreuth 2004: Es begann mit Christoph Schlingensiefs Neulanderkundung im "Parsifal", erlebte einen nur musikalisch saftigen, szenisch belanglosen "Tannhäuser", Jürgen Flimms im fünften Durchgang noch einmal runderneuerten "Ring", und zum Schluss des Premierenzyklus’ jetzt Guths und Albrechts "Holländer": intelligentes Konzept, technisch state of the art, musikalisch Durchschnitt. Nach den Hysterien um den angeblichen Spaßaktionisten am Gral: Der Alltag hat sie wieder, da oben auf dem Grünen Hügel, und für manch einen mag das eine gute Nachricht sein.