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Mit den Füßen im Wasser und dem Kopf im Nebel

Die wilde Gegend zwischen Plymouth und Exeter im Südwesten Englands ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Sir Arthur Conan Doyle. Sein Sherlock Holmes steht vor der Aufgabe, in den Untiefen des Dartmoors dem Hund von Baskerville nachzuspüren. Generationen von Schülern haben den berühmten Krimi im Englisch-Unterricht gelesen.

Von Ruth Rach; Moderation: Britta Fecke |
    Grusel und Geheul sind indes längst nicht alles, was diese berühmt-berüchtigte Moorlandschaft zu bieten hat. Eine wilde, in weiten Teilen unberührte Natur, unzählige Mythen und Anekdoten, und ein unwirtlich-bezaubernder Wechsel von Sonne und Regen, der dem Ruf des englischen Wetters alle Ehre macht.

    Über 500 Quadratkilometer erstreckt sich das Moor in einer Gegend, die vor 7000 Jahren noch eine dichte Waldfläche war. Heute weiden dort, wo fester Boden ist, Ponys und Schafe – bekannt für ihre störrische Unbeweglichkeit, wenn sie den Besucher denn im Weg stehen. "Gesichter Europas" über eine eingeschworene Gemeinschaft aus Rangern, Druiden und Schmugglern und einen Besuch im berüchtigten Dartmoor-Gefängnis.

    An 218 von 365 Tagen regnet es im Dartmoor, wenn es nicht regnet ist, es neblig, doch wenn die Sonne durchkommt, scheint sie durch Farne und Flechten auf moosbepolsterte Felsen, sie erhellt feuchte Senken voller Torfmoose, erwärmt Felskämme oder einen Pferderücken. Von Pferden und Schafen mal abgesehen ist das Dartmoor mit seinen 950 Quadratkilometern aber eher dünn besiedelt - eine weite Moor- und Heidelandschaft, wild und einsam im Süden Englands.

    Das ehemalige Jagdrevier des Königs - früher auch Dartmoor Forest genannt - wurde 1949 zum Nationalpark erklärt. Die Jagdgründe sind kaum noch bewaldet doch im Herzen des Dartmoors blieb ein alter Eichenbestand erhalten: Wistman's Wood ist der Ort für düstere Legenden und Geistergeschichten. Auch die schwarzen Phantomhunde, Vorbilder für den Hunde von Baskerville, sollen hier nachts durchs Gehölz streifen. Bei Tag ist es nur ein einsamer Wanderer.

    " Hier bin ich zuhause, hier habe ich meine Wurzeln. So gerne ich reise - ich würde nie daran denken, auszuwandern. Wenn ich eine Weile fort bin, werde ich krank. Mein Körper braucht den Kontakt zu diesem Stück Land. "

    Blaue Augen, zerfurchte Züge. Langes Haar. Bart. Steve Best, Mitte 50, vom Outer Order of Druids, ein Druidenorden vom Moor. Steve wurde in Wistman's Wood zum Druiden geweiht. Vor über 30 Jahren.

    Stacheliger Ginster, spitze Gräser, Granitgeröll. Der Pfad zu Wistman's Wood schlängelt sich über das Wiesenmoor, verzweigt sich, verliert sich, Taucht unerwartet wieder auf. Steve geht leichtfüßig. Konzentriert. Halb Jäger, halb Tänzer. Als würde er jeden Vogel, jede Pflanze registrieren. "Schau mal diese Krähe, die hat uns von Anfang an begleitet". Er stutzt, bückt sich, und steckt ein unscheinbares Pilzchen in den Mund.

    " Genau die Jahreszeit für Zauberpilze. Die Jungs hier in der Gegend lieben nichts mehr, als am Freitagabend im Pub mit ein paar Magic Mushrooms zu versumpfen. "

    Links im Tal das Flüsschen Dart, rechts karge Weiden, Heidekraut, Büschle. Am Horizont Umrisse einer Mondlandschaft: eine Kette von Kratern gekrönt von Granitkanzeln.

    " Granit gilt bei den Druiden als Feuergestein. Sie assoziieren es mit Blut und benutzen es noch heute bei der Behandlung von Blutkrankheiten. "

    Wistman's Wood. Ein wilder wirrer Wald. Die Luft reglos und weich. Gewürzt mit Sumpf und Erde. Dunstschlieren umlagern die Sonne - sie schimmert durch den Nebel wie ein kostbarer Mondstein. Zweige. Wurzeln, wie vom Blitz getroffen. Stämme, verdreht und verkrümmt, als wären sie plötzlich, mitten in einem grotesken Tanz, erstarrt. Von Borken wehen Flechten, zartgrüne Trauerschleier. Felsbrocken, moosig behaart, bedrängen die Bäume wie urzeitliche Tiere. Spitze Äste hakeln nach dem Besucher, der erschöpft und betäubt in den Moospolstern versinkt. In der Ferne hört er schon eine Horde wilder Phantomhunde durch den Wald jagen

    Steve Best, Oberdruide, braut unterdessen eine Tasse Tee. Ein Schuss Milch, zwei Zucker, und zum Eintunken, ein süßer Keks.

    Dann verbrennt er sieben Kräuter und vergießt ein Glas Met. Ein kleines Ritual für den Wächter von Wistman's Wood.

    " Ich könnte eine ganze Woche hier bleiben. Wenn mir etwas fehlt, hab ich einen besonderen Ort, nicht weit von hier, dahin zieh mich zurück. Letzten Monat war ich sechs Tage hier. Proviant brauchst du nicht - hier in der Natur gibt's genug zu essen. Du musst nur wissen, wo es ist. "

    Steve gehört zur neuen Generation von Druiden. Vor sieben Jahren beschloss sein Order, wichtige Rituale in der Öffentlichkeit zu feiern, an magischen Stätten wie Stonehenge und in Avebury, um alte Vorurteile und Ängste zu vertreiben.

    " Wir wollen zeigen, dass wir nichts mit den schwarzen Künsten zu tun haben, sondern ganz normale Menschen sind, die sich eng mit der Erde verbunden fühlen und leidenschaftlich für die Natur einsetzen. Wenn Tesco, der brutalste Supermarkt im Land, uralte Bäume abholzen lässt, um Platz für eine neue Filiale zu schaffen, werden wir aktiv. Und manchmal können wir sehr laut werden "

    Aber jetzt ist er erst mal ziemlich nass. Mühselig zieht er seinen Schuh aus dem Sumpfloch. Selbst Steve ist überrascht, dass er plötzlich im Feuchten steht.

    Auf dem Rückweg deutet Steve Best in Richtung Südwesten. Dort liegt Haytor, die spektakulärste Granitkanzel auf dem Moor.

    " Wenn jemand aus unserer Familie stirbt, verstreuen wir seine Asche auf Haytor. Haytor ist unser Familiengrab, unser Grabstein. Dorthin kehren wir zurück. Nach Hause. "

    Als Sir Arthur Conan Doyle sein Detektivteam Dr. Watson und Sherlock Holmes ins Moor schickt, fand er den idealen Schauplatz. Freudianer deuten das Moor als Symbol für die innere Wildnis, die sich nie zivilisieren lässt. Conan Doyle sieht das wohl ähnlich und lässt durch diese Wildnis Mörder, Phantomhunde und Erbschleicher ziehen. Im "Hund von Baskerville" ist Sherlock Holmes auf der Höhe seines Ruhmes und dem Autor brachte er prompt das doppelte Honorar ein.

    Am Anfang war das Feuer oder besser der Vulkan und sein Magma erkaltete zu dem Granitmassiv auf dem dann das Dartmoor gewachsen ist. Zwischen Heide und Binsen stehen noch heute wuchtige Granitbrocken, als stumme Zeugen des Vulkanausbruch vor rund 290 Million Jahren. Tors heißen die Granitkanzeln, nach dem keltischen Wort für Türme, einige von ihnen stehen allein auf verlorenem Posten, anderer wurden zu Steinkreisen oder Grabhügeln zusammengetragen.

    Allein diese Kultstätten mögen die Fantasie beflügeln, der plötzliche Nebeleinbruch, eine Landschaft die Geräusche schluckt und die Wahrnehmung verzerrt tut ihr übriges, denn wo die Sicht fehlt wächst die die Angst. Das Dartmoor ist der ideale Schauplatz für Kriminalgeschichten und Gruselschocker.

    Auf den Spuren von Sherlock Holmes
    " Es ist fast so, als hätte ein Klassiker darauf gewartet, dass er hier geschrieben wurde. "

    Paul Spiring über sein Lieblingsbuch, den Hound of Baskerville.

    " Im einen Augenblick scheint die Sonne, dann kommen plötzlich die Wolken herunter und du bist total eingenebelt. Hier kannst du dich blitzschnell verirren. Du hörst nichts, du siehst nichts, kein Auto, keine Stimmen. Keine Anhaltspunkte, an denen du dich orientieren kannst. Das ist ein außerordentliches Gefühl, im 21 Jahrhundert so verlassen zu sein. "

    Paul Spiring, um die 30, blaue Augen, kritischer Blick, praktischer Wanderoutfit. Er sitzt auf einer Kuppel am Rande des Hochmoors. Es ist beklemmend still. Der Heideteppich verschluckt jeden Laut. Weit und breit kein Mensch - kaum vorstellbar: aber die Ortschaft Princetown ist nur ein paar Kilometer entfernt. Paul deutet nach Südost.

    " 30 Meilen in dieser Richtung liegt Torquay, der Geburtsort von Agatha Christie, 30 Meilen in der anderen Richtung liegt das Mandalay von Daphne du Maurier. Und direkt hinter uns Exmoor. Das Dartmoor ist ein Kraftort, ein Brennpunkt von Romanze, Verschwörung und dunkler Bedrohung. "

    Paul Spiring hat sich schon als Kind für alte Sherlock Holmes Filme begeistert. Drei Jahre arbeitete er mit einem Freund an einer neuen Biographie über Arthur Conan Doyle. Jetzt kommt sein Buch auf den Markt - in mehreren Übersetzungen.

    " Im Hund von Baskerville wird der Charakter des Dartmoor perfekt getroffen. Hier hast die ganzen Grundelemente des Buches vor Augen: die Tors, die uralten Gräber, die Hütten aus der Bronzezeit, die Monolithen. "

    Plötzlich ein Windstoß. Paul Dartmoor verkriecht sich in seiner Jacke. Er zeigt übers Moor: Gleich hinter der Steinkuppel liegen die prähistorischen Steinreihen von Merrivale. Auch dieser Ort hat Arthur Conan Doyle fasziniert.

    Die Inspiration für den Gruselklassiker bekam Conan Doyle in erster Linie von dem britischen Abenteurer Bertram Fletcher Robinson, der ihm Legenden aus dem Dartmoor erzählte. Robinson begleitete Conan Doyle im Jahre 1901 nach Princetown, und wanderte mit ihm eine Woche lang durchs Moor: von den Sümpfen des Fox Tor Mire, zu alten Steinbrüchen und Zinnbergwerken bis zur 4000 tausend Jahre alten Bronzesiedlung von Grimspound.

    Mit seinem Meisterdetektiv hatte Conan Doyle allerdings ein kleines Problem. Eigentlich war Sherlock Holmes längst gestorben..

    " Conan Doyle hatte eine ausgesprochene Hass Liebe zu Sherlock Holmes. Einerseits brachte er ihm eine Menge Geld ein, andererseits hinderte er ihn daran, sich seiner wahren schriftstellerischen Ambition zu widmen: dem historischen Roman. "Am liebsten würde ich Sherlock Holmes umbringen", schrieb Conan Doyle bereits Anfang der 1890er Jahre an seine Mutter - was der Meisterbösewicht Morarti ein paar Jahre später denn auch tat, als er den großen Detektiv kurzerhand in die Reichenbachfälle stieß. Conan Doyle hatte absolut nicht vor, diesen Typen wieder zum Leben zu erwecken. "

    Aber schließlich - Paul Spiring grinst - schließlich hätten bei Conan Doyle wohl praktische Überlegungen gesiegt. Warum einen neuen Detektiv erfinden, wenn's der alte auch tat...

    " Conan Doyle verlangte vom Herausgeber des Strand Magazins satte hundert Pfund pro tausend Wörter- doppelt so viel wie sein normaler Satz. Und er verlegte das Geschehen kurzerhand in die Zeit vor Holmes Tod bei den Reichenbachfällen. "

    Mehr Wind. Am Horizont eine Gruppe von Ausflüglern. Der reine Piccadilly Circus, seufzt Paul Hier auf dem Moor ist er am liebsten allein. Er klettert auf einen Felsvorsprung und atmet tief durch.

    So vernunftbetont sich Sherlock Holmes gibt, so rational er jedes Mysterium seziert, Conan Doyle, selbst praktizierender Mediziner, entwickelte bereits als junger Mann ein tiefes Interesse am Spiritualismus. 1892 - mehr als zehn Jahre vor dem Hound of Baskerville - trat Conan Doyle der "Society for Psychic Research" bei, sie widmet sich der Erforschung übernatürlichen Phänomene. Kein Widerspruch, meint Paul Spiring.

    " Damals gab's viele Wissenschaftler, die Berichte über Geister und Ektoplasma erforschen wollten - mithilfe rationaler Tests und Beobachtungen. In späteren Jahre, 1916 / 17 wies Conan Doyle allerdings den wissenschaftlichen Ansatz zurück. Der Tod seines Sohnes und seines Bruders haben seine spiritualistische Neigung noch verstärkt. Von da an reiste Conan Doyle um die Welt, hielt Vorlesungen und widmete sein ganzes Leben dem Spiritualismus. "

    Auch Paul Spiring ist Naturwissenschaftler. Er unterrichtet Biologie. Er meint, Im Hund von Baskerville kommen zwei Richtungen zusammen, die nur auf den ersten Blick unvereinbar scheinen. Die Logik und das Spirituelle.

    " Auf der einen Seite Sherlock Holmes, die scharfen Beobachtungen, die rationalen Schlussfolgerungen. Auf der anderen die wilde unbezähmbare Landschaft: die mit ihrer Einsamkeit, der Abwesenheit äußerer Reize den Menschen dazu zwingt, sich nach innen zu wenden, und tiefere Fragen zu stellen. Viele Leute wundern sich, wie ausgerechnet ein Mann wie Conan Doyle zum Spiritualist werden konnte. Ich kann das gut verstehen. Für mich sind das ist zwei Seiten ein und derselben Medaille. "


    Auch die zotteligen Dartmoor-Ponys sind Zeugen einer längst vergangenen Zeit, Ihre Vorfahren brachten das Zinn aus den Minen, denn Mitte des 12. Jahrhundert wurden im Moor die ergiebigsten Zinnmienen Europas erschlossen. Später wurde auch noch Silber, Kupfer, Blei und Arsen abgebaut. Die letzte Zinnmine schloss erst 1939.

    Wo früher die Menschen mühsam nach Erzen graben mussten, suchen heute Einheimische nach Briefen. Aber nicht etwa nach den Schriftstücken ihrer Vorfahren. Nein! dieses Hobby ist weniger archäologisch als spielerisch motiviert. Letterboxing ist so etwas wie eine eigene Mischung aus Flaschenpost und Schnitzeljagd.

    Der erste Letterboxer war ein Moorführer, der vor 150 Jahren eine Karte in einem Glasgefäß im Norden des Dartmoors versteckte. Viktorianische Wanderer entdeckten den Behälter und legten ihre eigene Karte dazu. Manch einer hinterließ frankierte Postkarten im Versteck, mit der Bitte sie zurückzuschicken. Inzwischen sind die geheimen Briefkästen über das ganze Moor verteilt und die Jagdsaison ist ganzjährig.


    Letterboxing
    Ein Hobby zwischen Schnitzeljagd und Flaschenpost
    " Von unserem Dorf in Throwleigh gibt's nur einen Bus pro Woche, am Donnerstagmorgen, nach Okehampton zum Einkaufen. Ein Riesenproblem für ältere Leute, die kein Auto haben. "

    " Wir schätzen uns äußerst glücklich, dass wir wenigstens noch ein Postamt haben. Es ist winzig und hat große Mühe zu überleben. Aber Carol unsere Postmeisterin weigert sich ihr Postamt zu schließen. Gottlob haben wir eine sehr lebhafte Kirchengemeinschaft. Ohne sie wäre das Dorfleben auf dem Dartmoor längst gestorben. "

    Stefanie und Roger Paul, Ende 50. Sie leben in einem winzigen Weiler im Nordosten des Dartmoor.. Im Winter sind regelmäßig von der Außenwelt abgeschnitten. Aber sie lieben das Moor - zu allen Jahreszeiten. Ihr Hobby führt sie in die entlegensten Ecken des Dartmoor ...

    Stefanie steht auf einem Parkplatz im Herzen des Moors und zitiert kryptische Anweisungen aus einem dicken Katalog

    " Altmodischer Familienausflug Nr. 1 Little Staples Tor. 275 Grad, "

    Die "Bibel der Letterboxer" enthält Hinweise auf hunderte von Briefkästen, die auf dem Moor verborgen sind. Nicht die üblichen rotbemalten Postkästen der Royal Mail, sondern wasserdichte Behälter aus Plastik, von Anhängern des Letterboxing tief in irgendeiner Felsspalte oder in einem Karnickelloch versteckt. Heute wollen Roger und Stefanie drei Letterboxen finden. Little Staples Tor, Middle Staples Tor, und Great Staples Tor.

    Stefanie zieht wasserdichte Gamaschen über ihre Wanderschuhe. Überprüft die Basisausstattung: Regenmantel, Thermosflasche. Plätzchen. Kompass, Karte, und (für extreme Not- und Nebelfälle) ein GPS Gerät. Dann kramt sie noch tiefer im Rucksack: ganz unten ist ein geheimnisvolles Holzkästchen - aber das ist erst für später.

    Roger pirscht schon voraus. Peilt Landmarken an, zählt Schritte. "Kinderleicht", hört man ihn murmeln: die Hinweise auf die erste Letterbox bestehen aus klaren geographischen Angaben. Man muss nur den Kompass lesen können.

    Triumphierend sticht Roger mit seinem alten Golfschläger in einen Haufen Geröll.

    " Hier ist er schon. Klingt eindeutig nach Plastik. "

    " Manchmal ziehst du allerdings auch eine Schlange heraus. "

    Roger holt die Box heraus: eine große schwarze Pillendose. Sie enthält einen zweiten Behälter: und darin, in Plastik verpackt: das wahre Kleinod.

    " Der Stempel von Little Staples Tor: auf dem Gummiprofil, mit der Hand eingeritzt: das Bild eines Hundes. Vor Jahren hat ein Letterboxer den Stempel entworfen und ihn hier in der Plastikbox versteckt. Zusammen mit einem Logbuch. Jetzt darf sich jeder Besucher in das Log-Buch eintragen - und dort seinen eigenen Stempelabdruck hinterlassen. "

    Roger begutachtet die Vielfalt der Abdrücke: kunstvolle Muster, historische Bilder, schlichte Buchstaben. Dann blättert er zum allerersten Eintrag :

    " Swinging Sister und Bruder Tuck. 4.5.2002. Sie haben die Box als erste gefunden. Vor sieben Jahren. Letzte Notiz: Laphorn Lopers, sie waren am 21 Aug 2007 hier. "

    Stefanie zieht ihr Holzkästchen aus dem Rucksack. Es enthält ihr eigenes Album und ihren Familienstempel: die Pauls haben sich den Spitznamen "Woodstock Wanderers" zugelegt. . Jetzt wird abgestempelt: erst einmal das Logbuch des Little Straples Tors, zum Beweis, dass sie auch wirklich dort waren. Dann ihr Erinnerungsalbum, das können sie später am Kaminfeuer durchblättern, und anderen Letterboxjägern vorlegen, als Beweis für ihre erfolgreiche Mission.

    " Nicht alle Letterboxen sind so einfach zu orten. "

    " Manche Hinweise sind so verzwickt und verschlüsselt, dass einem der Kompass überhaupt nicht weiterhilft. "

    " Hinter einem Stein, unter einem großen und kleinen Felsen, der große Fels ist mit kleineren Steinen und Gras bedeckt, die Box liegt nach Süden. Lücke zwischen zwei behauenen Felsen "

    Unbedarfte Besucher starren verwirrt auf Granitgipfel, Felsen, Geröll. Aber Stefanie und Roger sind alte Hasen. Sie finden sich selbst zwischen hundert Steinbrocken zurecht.
    " Irgendwie lagen die Steine nicht ganz richtig aufeinander. Das machte mich stutzig. Roger klingt fast wie Sherlock Holmes. Aber dann zieht Roger eine bunte Plastikschachtel aus dem Gebüsch. Keine klassische Letterbox, sondern eine neumodische Spielerei für GPS-Fanatiker. "

    " Ein Geocache - innen drin ein buntes Allerlei: Bleistift, Lutscher, Münzen, ein Kalender aus Slowenien. Der Finder muss ein Objekt herausnehmen, und ein anderes zurücklassen. Weiteres Stöbern, stochern. pirschen, peilen. kniffeln. sinnen.. "

    Schließlich haben die Pauls alle drei Stempel in ihrem Album: Little Staples Tor, Middle Staples Tor und Great Staples Tor. Und sie sind gleichzeitig noch ein Kuckucksei losgeworden: eine Wanderbox, die irgendjemand in der Letterbox in Middle Staples Door deponiert hat. Sie muss vom Finder in eine andere Letterbox verpflanzt werden.

    " Letterboxing ist wie eine Sucht, sagt Stefanie Paul. Sie und ihr Mann gehen mindestens drei, viermal in der Woche aufs Moor. "

    Auf dem Rückweg zum Parkplatz sichten sie einen Artgenossen. John aus Cornwall. Eigentlich müsste er arbeiten, aber er hat sich - nun ja - ein bisschen krank gemeldet..


    Stephanie und Roger bewundern die Letterbox-Abzeichen an seinem Rucksack. Nach 100 gefundenen Briefkästen gibt's eine grüne Marke. Am begehrtesten, die goldene Plakette. Die gibt's erst nach dem 5000sten Briefkasten. Für Letterboxer gilt nur ein ungeschriebenes Gesetz.
    Keiner zeigt dem anderen, wo die Briefkästen liegen.

    Letterboxer sind geborene Geheimniskrämer, sagt Roger Paul. Er kennt viele Einzelgänger, die sich schon im Morgengrauen aus dem Haus schleichen und ihre Frauen daheimlassen.

    " Ein Letterboxer hat zwei große Träume: als erster eine neue Box zu entdecken, oder eine alte zu finden, die seit Jahren verschollen ist. "

    Letterboxing ist eine Schatzsuche, eine Art Schnitzeljagd, die dich wunderbar fit hält. Halb fühlst du dich wie ein Pfadfinder, halb wie ein Abenteurer. Da nimmst du auch in Kauf, dass du reißende Flusse überqueren musst, manchmal hineinfällst und patschnass wirst, oder sogar buchstäblich versumpfst.


    Sir Charles Baskerville starb unter ungeklärten Umständen, ein Phantomhund aus dem Moor soll ihn zu Tode erschreckt haben. Der Autor Conan Doyle hat sich zur Recherche für diesen Fall von Sherlock Holmes lange Zeit im Moor aufgehalten. Auch das Gefängnis Princetown mitten im Dartmoor findet sich im Krimi wieder.

    Einige wollen ins Moor und andere müssen. 1806 bauten napoleonische Kriegsgefangene ein Gefängnis in die Einsamkeit des Dartmoors. Die entflohenen Häftlinge laufen auch durch Conan Doyles Krimi, gejagt von dem Hund von Baskerville. Im wirklichen Leben hatten es die Gefangenen kaum besser, sie mussten in den Steinbrüchen schuften oder dem sauren Moorboden Feldfrüchte abringen. Konzipiert war der Bau für 1000 Insassen doch hinter den dicken Granitmauern saßen schon bald 1500 Mann.

    Seit 1852 ist dieses Gefängnis von Princetown eine zivile Strafanstalt. Noch im ersten Weltkrieg wurden hier mehr als 1000 Kriegsdienstverweigerer inhaftiert - ein düsteres Kapitel über das noch heute lieber geschwiegen, als gesprochen wird. Später saßen in Dartmoor auch noch IRA-Häftlinge doch inzwischen sind alle schweren Fälle in andere Haftanstalten verlegt worden, denn Dartmoor steht unter Denkmalschutz und genügt den modernen Sicherheitsbestimmungen nicht mehr. Heute werden meist jugendliche Straftäter - unter ihnen viele Drogendealer - ins Moor geschickt: Sozusagen zur inneren Einkehr, denn nicht mal der gleichnamige Ort Princetown bietet Zerstreuung.



    Das Knastmuseum
    Das Gefängnis im Moor
    Fahlweiße Häuserreihen, ein rotes Postamt, ein Kreisverkehr.

    Gelangweilte Jugendliche auf Skateboards. Ein Kindergarten.

    Über der Fisch- und Frittenbude zuckt eine zerschlissene Nationalfahne. Blauer Himmel. Kalter Wind. Ein Fernsehmast.
    Princetown, im Herzen des Dartmoor. Einzige "Sehenswürdigkeit" : das Gefängnis.

    Hohe Steinmauern, die auf die Ortsausfahrt zulaufen, als wollten sie sie strangulieren. Graue Kamine, graue Granitfassaden mit eingestanzten Fenstern. Ein wuchtiger Torbogen aus Steinquadern. Eine zweite Mauer, ein zweites Tor, fest verschlossen. Eine Glocke, selbst sie in der dicken Mauer eingesperrt. Mit ihr schlugen die Wärter Alarm, wenn Gefangene entflohen.

    Die meisten kamen nicht besonders weit, sagt Brian Dingle vom Gefängnismuseum über der Straße.

    Die Flüchtigen wurden mit Bluthunden gejagt. Verirrten sich im Moor, oder starben an Erschöpfung.

    Das Museum ist klein und dunkel. Am Eingang zwei lebensgroße Puppen: gekleidet in altmodische schwarze Wärteruniform. Hinter einem schwerfälligen Fotoapparat, eine Galerie verblichener Portraits, vor über hundert Jahren aufgenommen. Die Zuchthäusler neben einem Spiegel, der zeigt sie auch im Profil. Vor ihnen ausgestreckt, ihre Hände.

    " Die wurden mit abgelichtet - zur Identifizierung. Viele waren Landarbeiter. Sie hatten bei der Arbeit irgendwann mal einen Finger eingebüßt, oder Narben davongetragen. Der hier heißt Samuel Beckett. "

    Was er verbrochen hat, weiß niemand. Beim Gefängnisaufstand im Jahr 1932 gingen auch seine Akten in Flammen auf. Ein Foto zeigt das Gefängnis nach der Meuterei: in Schutt und Asche, wie von einer Bombe getroffen.

    " In Dartmoor wurden die berüchtigsten Häftlinge eingeschlossen. Hier herrschten die härtesten Bedingungen. Die Insassen arbeiteten im Steinbruch, auf dem Moor. Sie legten Felder an, mauerten Einfriedungen, befestigten Wege. Die ganze riesige Landwirtschaftsanlage geht auf Zwangsarbeit zurück. Damals galt die Philosophie, die Anstalt müsse sich selbst versorgen. "

    Elf Uhr. Brian Dingle schaltet das Gefängnisvideo auf Endlosschleife. Der erste Schwung von Besuchern. Rentner auf einer Fahrt ins Blaue. Auf dem Bildschirm denkt ein junger Häftling reumutig über seine Drogenkarriere nach. Die Besucher inspizieren unterdessen die Gruselexponate.

    In einem Glaskasten: eine neunschwänzige Katze, um ungehorsame Häftlinge auszupeitschen. Brian Dingle deutet auf ein Gerüst...

    " Die Gefangenen wurden mit Händen und Füßen gefesselt, dann wurden ihre Gliedmaßen gestreckt, um ihre Haut möglichst straff zu spannen, auf diese Weise waren die Peitschenschläge noch schmerzhafter. Diese Praxis wurde hier in Dartmoor erst 1947 eingestellt. "

    Hauptattraktion: das schwarze Museum. verbotene Objekte, bei Zellendurchsuchungen entdeckt: nachgemachte Schlüssel, täuschend echt aussehende Holzpistolen. Rasierklingen, auf Zahnbürsten aufgeschweißt, ein spitzer Dolch, ganz aus Zündhölzern gebastelt. Ein behelfsmäßiger Kompass - besonders praktisch, um sich im Moor zu orientieren.

    Immer wieder machte Dartmoor mit sensationellen Fluchtversuchen von sich reden. Für die größten Schlagzeilen sorgte Frankie Mitchell...

    " Im Volksmund hieß er auch: der Irre mit der Axt. Frankie gehörte zur Kray-Gang - die unbestrittenen Könige der Londoner Unterwelt in den 60er Jahren. Entgegen der Bestimmungen bekam Frankie Mitchell die Erlaubnis, außerhalb der Gefängnismauern arbeiten. Er wurde prompt entführt und nie mehr lebend gesehen. Wahrscheinlich hatten die Gangster-Brüder Angst, er könnte sich verplappern. "

    Das ursprüngliche Gebäude hatte keine Einzelzellen, sondern zwei offene Stockwerke, für jeweils 500 Gefangene. Damals hatte jeder Häftlinge eine Hängematte, und ein kleines Guckloch für Licht und Luft. Das war alles.

    Wenn einer an Grippe oder Masern erkrankte, ging das durch die ganzen Reihen, deswegen sind so viele hier im Gefängnis gestorben.

    Brian Dingle seufzt. Er muss kurz mal raus an die frische Luft. Sein Blick schweift verträumt über die Gefängnismauern in Richtung Heide. Über zwanzig Jahre lang hütete er die Schafe auf der Gefängnisfarm, bevor diese - Rationalisierungsmaßnahme - geschlossen wurde.

    Ein neuer Bus mit Rentnern. Erstaunt blicken sie auf die Kollektion von Gartenzwergen und Glücksschweinchen, die sich vor dem Museum tummeln. Preisgünstig von Dartmoor-Gefangenen getöpfert. Unter den Ornamenten auch mehrere Gespenster und ein Hund von Baskerville.

    " Ich bin früher oft in den Abendstunden über den Gefängnis-Friedhof gewandert. viele sagen, dass es dort spukt. Als ich meinen Hund mitnahm, blieb er ein paar mal mit gesträubtem Fell stehen und begann heftig zu knurren. Mir selbst ist nie etwas aufgefallen. Aber ich finde es schon ein bisschen komisch. Wer weiß warum er sich so verhalten hat. "


    Ein Hochmoor ist ein sehr komplexes und vor allem empfindliches Ökosystem. Hier leben viele seltene Schmetterlings und Libellenarten, außergewöhnliche Farne und wilde Orchideen. In Europa gibt es kaum noch wachsende Moore: Trockenlegung und Landnutzungsmaßnahmen haben den Mooren im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser abgegraben. Doch auch trocken ist ein Moor noch lange kein fruchtbarer Acker.

    Ein Hochmoor entsteht, weil Torfmoose an einem niederschlagreichen Gebiet gefallen finden. Sie können im Sumpf wachsen und sind dabei sehr trickreich, sie säuern in einem chemischen Verfahren ihr Milieu an und in dem sauren Wasser können nur noch Torfmoose wachsen, denn der pH-Wert lässt jede Kartoffel, selbst das Gras erschauern. Wenn nun das Moor entwässert wird sterben die Torfmoose zwar ab, aber der Torfkörper sozusagen die Moorerde bleibt sauer. Mit großen Ernten ist hier nicht zu rechnen, nur bei übermäßiger, künstlicher Düngung.

    Auch deshalb haben sich die Bauern in dieser Gegend auf Viehzucht spezialisiert. Doch auch damit lässt sich inzwischen kaum mehr Geld verdienen. Die Wolle der Schafe bringt weniger Geld ein, als das Scheren kostet. Die Fleischpreise sind zu niedrig, als das ein Moorfarmer davon leben könnte und die Maul- und Klauenseuche 2001 gab den Bauern den Rest. Wer trotz dieser Widrigkeiten überlebt hat ist erfinderisch:


    Die malende Schweine von Chris Murray
    " Oh das hier, das sind die berühmten Ferkel-Bilder von Pennywell Farm - lauter Originale. Ein Pigasso, ein Van Trog. Und ein Turner, aber der ist schon verkauft: das Schweinchen, das ihn gemalt hat, war etwas kurzsichtig und ist auf der Leinwand ausgerutscht. Die Gemälde gehen weg wie warme Semmeln. Auf Ebay bringen sie 75-85 Pfund. "

    Chris Murray. Mitte 50. Landwirt, Unternehmer und Besitzer von Pennywell Farm, ein Anwesen bei Buckfastleigh, am südlichen Rand des Dartmoor. Die ‚Kunstwerke' stehen an der Stallwand, ausgesprochen bunt und perfekt gerahmt.

    " Ein Teil des Erlöses geht an die christliche Bauernhilfe. Britische Landwirte stecken in einer tiefen Krise, viele leiden an Depressionen, viele begehen Selbstmord. Und viele Familienfarmen gehen bankrott. "

    Chris Murray greift sich ein Ferkelchen und gibt ihm einen herzhaften Kuss.

    " Als wir hier ankamen, gab's gar nichts. Kein Wasser, kein Strom, keine Gebäude. Keine Hecken, keine Bäume. Das war vor fast 20 Jahren. Wir hatten jede Menge Schulden - und eine Vision.... "

    Mit viel Liebe blickt Chris Murray auf die anmutigen Hügel, den Flickenteppich der Weiden. Das von ihm gepflanzte Wäldchen, den Obsthain, das Labyrinth, die dicken Hecken. Und sein Gehöft: Ställe, Brunnen, Farm Shop, Cafeteria: ohne seine Besucher könnte Pennywell Farm nicht überleben.

    Zickleinfüttern, Melken, Storytime. Spinnen, Korbflechten, Weben - Aktivitäten im Halbstundentakt, für Kinder und Erwachsene, von Februar bis Oktober. Pennywell hat 18 Festangestellte, und 70 Saisonarbeiter. Um keine roten Zahlen zu schreiben, braucht die Farm mindestens 50 000 Besucher pro Jahr.

    Chris Murray träumte schon als Kind davon, Bauer zu werden. Aber er hatte schlechte Karten. Sein Vater war Verleger. Er selbst wurde erst mal ins Internat gesteckt. "Eine traditionelle Boarding School vom Typ Kalte Duschen und viel Leibesübung", kommentiert er trocken. Erst mit 17 fing er an. praktische Erfahrungen zu sammeln. Er zog in einen Wohnwagen, arbeitete als bäuerliche Hilfskraft, studierte Agrarwirtschaft.

    Ein Devon-Bauer ist ein besonderer Typ: sparsam, eigenwillig, stoisch,. Aber die Maul und Klauenseuche im Jahr 2001 hat vielen das Rückgrad gebrochen.

    Auch Pennywell stand kurz vor dem Bankrott, konnte nur mithilfe von Spenden überleben. Die Seuche war eine Katastrophe für Tourismus und Landwirtschaft.

    " Ein Freund in Huckerby auf dem Dartmoor musste zusehen wie sein ganzer Viehbestand geschlachtet wurde: fast 1000 Schafe und 300 Rinder. Die Kadaver lagen 3 Wochen auf seinem Feld. Total illegal. Die Regierung in London versagte auf der ganzen Linie. "

    Überhaupt ist Chris Murray nicht gut auf London zu sprechen. Weder auf die Regierung, die den Bauern bis ins Detail vorschreibe, was sie zu tun hätten. Noch auf die reichen Banker aus der City, die ein Bauernhaus nach dem anderen aufkauften . Die Leute in Devon fühlten sich entmündigt, sagt Chris Murray. Von der Loyalität gegenüber dem Königreich ist nicht viel geblieben.

    An höchster Stelle hat sich Chris Murray einen Aussichtsturm gebaut. Zur Erinnerung an die alten Römer, die vor fast 2000 Jahren bis nach Devon vorstießen. Es beginnt zu nieseln. Wie im Zeitraffer zerfließt die Talmulde zum Nebelbild, im opalfarbenen Licht der flüchtigen Sonne.

    " Es ist so als hätte man den Bauern das Herz herausgerissen. Als ich anfing, konnte ein Farmer mit 100 Schafen überleben, jetzt braucht er mindestens 1500, 2000 Tiere - da kann man keine gute Viehwirtschaft mehr betreiben. Ich führe meine Landwirtschaft nach biologischen Richtlinien, nicht nur weil das Fleisch besser schmeckt, sondern aus Respekt vor der Natur: wir sind nicht hier, um uns an der Erde zu mästen, sondern um sie mit den anderen Kreaturen zu teilen. "


    Literatur:
    Sir Arthur Conan Doyle, "Der Hund von Baskerville"; Roman, aus dem Englischen von Heinz Kotthaus; Ullstein Taschenbuch Verlag, 2006