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Mit den Taliban durch die Berge

In Linus Reichlins neuem Roman trifft ein abgehalfterter Kriegsreporter auf die Taliban. Ein Abenteuer, das den Leser nicht nur in den Alltag der afghanischen Bergwelt zieht, sondern auch in die Gefühlswelt eines Protagonisten, der zwischen Archaik und Moderne sein Lebensthema sucht.

Von Tanya Lieske | 12.07.2013
    Im Norden Afghanistans, in der Nähe von Faizabad, leuchten die Berge. Es gibt, das erfahren wir in dem neuen Roman von Linus Reichlin, nicht so viel in dieser nördlichen Provinz Badakshan (sprich: Badachschan). Geröll, Steine, Pfützen, und bedrohlich schmale Bergwege, auf denen sich die Taliban fortbewegen.

    "Die Berge waren nah. Morgens waren sie am lebendigsten, im Erwachen zeigten sie das breiteste Spektrum ihrer Farben, sie schillerten in allen Lehmtönen, und die Schatten in den Bergfalten waren frisch und schwarz. Wenn die Sonne höher stieg, fielen die Berge in einen Schlaf, sie wurden elefantenfarben, und um die Mittagszeit standen sie eintönig da, sie schliefen im Stehen und niemand blickte mehr hin. Gegen Nachmittag, in der fallenden Sonne, erwachten sie wieder, und nun erlebte man ein anderes Farbspiel als morgens, ein reiferes, weniger grelles, es war, als hätten die Berge tagsüber etwas gelernt. Als vernünftige Wesen begaben sie sich in den Abend, auf ihren Kämmen und Gipfeln wurde das Sonnenlicht weise und still, es glänzte wie eine Erkenntnis. Das waren die Berge.
    Sonst gab es hier nicht viel."


    Auf diese Berge schaut Moritz Martens. Martens ist ein älter werdender Kriegsreporter. Er lebt in Berlin, hat eine Ehe und seine besten Berufsjahre schon hinter sich. Martens hat die Krisenherde der Welt gesehen, Afrika und den Balkan, doch nun ist es still geworden um ihn. Die großen Journale rufen nicht mehr an, und er wohnt auch nicht mehr im bürgerlichen Schöneberg, sondern an der Grenze zu Neukölln. Doch das ist noch nicht alles. Schwerer noch als der berufliche und materielle Abstieg wiegt für Martens eine besondere Form der Zivilisationsmüdigkeit. Er ist einer jener Menschen, die an den Banalitäten eines hoch organisierten Lebens in Deutschland schlichtweg verzweifeln. Bausparverträge sind seine Sache nicht. Lebendig fühlt sich Moritz Martens erst, wenn der Alltag aufgehoben ist, wenn Präsenz verlangt wird, wenn der nagende Hunger im Magen nicht durch Überfluss, sondern mit einem verkohlten Hühnchen unter eisigem Sternenhimmel gestillt wird. Linus Reichlin über einen sympathischen Helden:

    "Also ich habe ihn eigentlich von Anfang an als einen Mann gesehen, der diesen Mangel hat, dass er für den Alltag nichts taugt, auch für eine Frau nicht, dass er andererseits aber ein sehr zuverlässiger Partner ist, wenn es darum geht, eine Gefahrensituation zu durchstehen, das ist ja auch etwas. Man gerät eben hin und wieder in Gefahrensituationen oder in Situationen existentieller Not. Und da ist er dann doch der Richtige, da bewahrt er die Nerven, da kennt er sich aus, und da ist er dann auch bereit, persönliche Risiken einzugehen, also eine gewisse Opferbereitschaft (...), das finde ich toll an ihm. Er ist der richtige Mann um eine Gefahrensituation zu bestehen, aber der falsche Mann, um mit ihm ein Kind aufzuziehen, wenn man so will."

    Seine Abenteuerlust passt ins Bild. Und so ist Moritz Martens schnell dabei, als er eine Zufallsbekanntschaft macht, die ihn wieder, vielleicht ein letztes Mal, in die Ferne führt. Die Bekanntschaft heißt Miriam, ist eine schöne Mittvierzigerin mit komplizierter Vergangenheit und Wurzeln in Afghanistan. Auf der Suche nach einer aufregenden Story begleitet Martens Miriam, die sich als Fotografin ausgibt, zum Militärstützpunkt der Bundeswehr in Faizabad. Doch schon bald erkennt er, dass Miriams Story brüchig ist. In Wahrheit ist sie gekommen, um ihren ehemaligen Mann, den Vater ihres kleinen Sohnes, aus der Geiselhaft der Taliban freizukaufen. Linus Reichlin, der sich bislang vor allem einen Namen als Krimiautor gemacht hat, entwickelt hier eine rasante Romanhandlung, in deren Mittelpunkt der Alltag der Taliban steht. Dabei verblüfft der Autor mit vielen sachkundigen Details. Hat er dafür vor Ort recherchiert?

    "Nein, ich war nicht da, denn es ging mir ja nicht drum, das Land zu beschreiben. Sondern ich wollte eine Gruppe von sehr archaischen Männern beschreiben. Und da kamen im Grunde genommen nur die Taliban infrage und bei denen anzuklopfen und zu sagen, darf ich mal drei Monate bei Euch mitziehen, das ist natürlich eine sehr gefährliche Sache. Also, ich musste das anders recherchieren. Ich habe einen sehr guten Freund, der aus Afghanistan stammt, der sehr unter den Taliban gelitten hat und deswegen geflohen ist, der konnte mir sehr viel erzählen. Und dann war es natürlich eine harte Recherche in Büchern und im Internet usw., bis ich diese Leute ins Gefühl kam. Die Wissenslücken musste ich dann mit etwas füllen, was ich empirische Fantasie nenne. (Ich musste es zusammenstückeln und hoffe, dass es mir ganz gut gelungen ist.)"

    Einige überraschende Wendungen weiter stellt Moritz Martens seine besonderen Eigenschaften unter Beweis. Er begibt sich freiwillig als Geisel in die Gewalt der Taliban. Miriam, in die er sich inzwischen verliebt hat, und ihr ehemaliger Mann Evren dürfen gehen.

    "Es fiel ihm schwer, sich für einen solchen Kretin ins Feuer zu werfen. Sich zu opfern, damit er zu seinem Sohn zurücklaufen konnte. Die Situation war ausweglos, besser einer starb als drei, aber warum eigentlich ich, dachte Martens. Er schwankte in seiner Entschlossenheit. Genügte es nicht, wenn Miriam überlebte und zu Sinan zurückkehrte? (...) Miriam zog Sinan auf, sie sorgte für ihn, sie band ihm morgens die Schuhe und briet ihm Leberkäse."

    Linus Reichlin folgt mit seinen Peripetien und Spannungsbögen den Bewegungen eines klassischen Dramas. Nach dem obigen Wendepunkt beginnt der letzte, der fünfte Aufzug. Drei Monate wird Martens mit den Taliban verbringen. Er wird mit ihnen durch die Berge ziehen, ihr karges Essen teilen, in ihre Rituale und Gewohnheiten eintauchen. Zwischen existentieller Bedrohung und Überlebenswille entwickelt sich für Martens eine ambivalente Gefühlslage, die über das Stockholmsyndrom hinausweist. Ausgerechnet in der vagabundierenden, auch gewalttätigen Lebensform der Taliban findet er sein Lebensthema wieder. Auch die Taliban sind Männer, die bereit sind, einen hohen Preis zu zahlen, um sich den abstumpfenden Gewohnheiten ihrer Kultur zu entziehen.

    "Also der Martens, der Held des Buchs, ist ja ein moderner, aufgeklärter Mann, der auch die Erfordernisse, die an einen modernen Mann gestellt werden, einigermaßen zu erfüllen sucht. Und auf der anderen Seite die Taliban, eine Gangstergruppe, die durch die Berge zieht. Die leben frei von jeglichen Anforderungen ausgenommen denen des Koran und des Stammesgesetzes. Das heißt, die sind in einem ganz urtümlichen Sinne frei, es sind wilde, auch verwilderte Männer, und mich hat interessiert der Kontrast zwischen diesem städtischen, modernen Mann und den archaischen Männern, was da passiert, wenn die aufeinandertreffen. Noch dazu ist es so, dass Martens ja eine gewisse Ähnlichkeit verspürt zwischen sich und diesen Männern, weil er ja auch unter den Anforderungen des täglichen Lebens leidet und ganz gerne auch mal ein Bisschen ausbrechen würde. Und das findet er dann bei diesen Leuten."

    Linus Reichlin greift mit "Das Leuchten in der Ferne" auf das Genre des Abenteuerromans zurück, also auf eine Gattung, die seit knapp hundert Jahren in der Belletristik ausgedient hat. Nimmt man seinen schartigen, aber im Wesentlichen auf das Gute ausgerichteten Helden Moritz Martens hinzu und eine Erzählweise, die an der literarischen Reportage geschult ist, die auf Mitteilung und Unterhaltung zielt, dann liegt der Vorwurf der Naivität nah. Die Einwände, die in den letzten Wochen gegen diesen Roman laut wurden, laufen auf die Feststellung zu, dass ein Autor, der Afghanistan nicht bereist habe, auch nicht über dieses Land schreiben dürfe. Das ist, mit Verlaub, Humbug. Für die Reportage müsste ein Autor vor Ort gewesen sein, beim Roman aber stellt sich lediglich die Frage, ob seine Suggestionskraft ausreicht, um eine ferne Welt zu evozieren. Das ist Linus Reichlin gelungen.

    Am Ende dieses Romans bleibt offen, ob man es mit einem gebrochenen Helden zu tun hat, oder ob Martens nun bereit ist für die Mühen und Ebenen der Zivilisation.

    "Weder noch. Er kommt natürlich aus dieser dreimonatigen Höllentour raus, wo es wenig zu essen gab und immer kalt war und wo große Gefahr herrschte, und kommt dann wieder nach Berlin, und natürlich sieht er dieses Berlin wieder mit anderen Augen. Ich glaube nicht, dass er ein gebrochener Mann ist. Er wird sich jetzt überlegen, was er tun will, ob er, er ist ja Kriegsreporter, wieder in ein solches Krisengebiet fliegt oder ob es ihm gelingt, sich mit dem Alltag anzufreunden und ein ganz normales, gewöhnliches Leben zu führen, was er ja bisher versucht hat zu vermeiden. Und da glaube ich wird er darüber nachdenken, ob es nicht jetzt genug ist mit seinem wilden Leben und er sich sozusagen niederlässt und sesshaft wird."

    Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne
    Galiani Verlag, Berlin, 300 Seiten, gebunden, 19,90 Euro.

    Linus Reichlin: Das Leuchten in der Ferne (Hörbuch)
    Gelesen von Thomas Sarbacher, 5 CDs, Hörbuch Hamburg, 377 Minuten, 19,99 Euro.
    Der Schweizer Krimi-Autor Linus Reichlin auf der Buchmesse in Leipzig
    Der Schweizer Linus Reichlin auf der Leipziger Buchmesse. (picture alliance / dpa - MarcTirl)