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Mit der Jugend in Fühlung

Während des Prager Frühlings kam der große tschechische Philosoph Jan Patocka erstmals zu akademischen Ehren an der Prager Karls-Universität. Doch dann wurde er vom Regime zwangspensioniert. Man konnte einen Philosophen, für den Philosophie vor allem der Versuch war, mit der Wahrheit zu leben, nicht mehr ertragen.

Von Ariane Thomalla |
    "Pour J.P., qui comprendra", "für Jan Patočka, der es verstehen wird", titelte Yves Montand sein Chanson zum Tod des bedeutendsten tschechischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der angesichts der Krisen und Katastrophen der Zeit und des Schicksals seines Landes aus dem akademischen Elfenbeinturm der Phänomenologie herabgestiegen war. Nach seiner Habilitationsschrift 1936 über "Die natürliche Welt als philosophisches Problem", seinem Buch über "Aristoteles, seine Vorläufer und Erben", seinen Studien über Comenius oder Hegels "Phänomenologie des Geistes", die er ins Tschechische übersetzt hatte, hieß Philosophieren zunehmend für ihn, über die Geschichte und den Sinn von Geschichte nachzudenken, und immer mehr auch, die philosophischen Gedanken konkret zu leben. Das war für ihn zwingend, um wahrhaftig zu sein. "In Wahrheit leben" lautete der Grundsatz, den er der tschechischen Dissidenz weitergab, und dass es die moralische Pflicht des Menschen sich selbst gegenüber sei, "sich gegen jegliches Unrecht zur Wehr zu setzen".

    "Je größer die Angst und die Servilität, desto frecher waren, sind und werden auch in Zukunft die Mächtigen sein."

    Jan Patočka wurde noch im Habsburgerreich in Ostböhmen am 1. Juni 1907 als Sohn eines Altphilologen geboren. Er hatte in Prag und Paris studiert und sich Anfang der 30er Jahre in Freiburg der Phänomenologie des deutschen Philosophen Edmund Husserl angeschlossen. Nur wenige Jahre in seinem Leben war es ihm vergönnt, öffentlich zu lehren. 1939 schlossen die Deutschen die tschechischen Universitäten. Nach 1949 verjagten ihn nach ihrem Putsch die Kommunisten von der Karls-Universität in Prag. August '68 erlebte er den Einmarsch der sozialistischen Bruderheere als traumatische Wiederkehr. Doch seine in privaten Wohnzimmern gehaltenen Untergrundseminare wurden legendär. Ihr Einfluss auf die Dissidenz war enorm, was die Dummheit der tschechischen Behörden, sagte er, nie begriffen hätte:

    "Sie haben den Umstand nicht in Betracht gezogen, dass der alte Professor immer bestrebt war, mit der Jugend in Fühlung zu sein, ihr Gedankeninhalte mitzuteilen, welche ihr sonst vorenthalten wurden, und auf die moralische Seite sowohl des Gedanklichen als auch des Politischen aufmerksam zu machen."

    Seit den 70er Jahren konnten seine Bücher nur im Samisdat erscheinen, insgesamt 27, von treuen Schülern handgetippte Bände, deren Durchschläge gleich nach Wien geschmuggelt wurden ins Institut der Wissenschaft vom Menschen. Die Bedeutung seines Werks für das politisch-historische Verständnis Europas, heißt es heute dort, einem Europa, das selbstverständlich Ostmitteleuropa mit einschloss, werde jetzt erst sichtbar. Erst nach 1989 konnte das Patočka-Archiv in Prag entstehen.

    Er war ein hochaufgewachsener, kantiger Mann mit klarem, offenen Gesicht, das Charisma und Mut ausstrahlte. Es war konsequent, dass er zusammen mit Vaclav Havel und dem Außenminister des niedergeschlagenen Prager Frühlings, Jiri Hájek, zu einem der ersten drei Sprecher der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77 wurde. Die Charta hatte sich am 7. Januar 1977 konstituiert aus Protest gegen die akuten Menschenrechtsverletzungen in der Tschechoslowakei. Als zwei Monate später der niederländische Außenminister zu einem Besuch nach Prag kam, verlangte er, auch den berühmten Sozial-, Kunst- und Kulturphilosophen zu sehen - ein dramatisches Treffen in van der Stoels Zimmer im Hotel International im Beisein niederländischer Journalisten. Patočka erkärte:

    "Ich bin eigentlich Sprecher der Charta, aber sprechen konnte ich bis jetzt eigentlich wenig, mehr nur schreiben über die Charta, ihren Sinn erklären und gewisse Missverständnisse abwehren, welche besonders in der großen Kampagne, die gegen die Charta geführt wurde, in großer Menge ausgebreitet wurden."

    Man diffamiere die Charta als politische Opposition, die auf Umsturz aus sei. Er stellte klar:

    "Wir sind keine politischen Dissidenten. Wir stehen auf dem Boden der Verfassung dieser Republik und ihrer Gesetze. Uns geht es überhaupt nicht um irgendwelche verfassungsmäßigen Änderungen oder Vorschläge, sondern nur um den Modus procedendi, um die Anwendung der gültigen tschechoslowakischen Gesetze"

    und damit der Menschen- und Bürgerrechte, wie sie in der auch von der CSSR unterschriebenen Schlussakte von Helsinki verankert seien. Das Husák-Regime reagierte hysterisch. Tagelang wurde Patočka verhört. Nach dem letzten Verhör, das elf Stunden dauerte, erlitt er einen Gehirnschlag. Er starb am 13. März 1977.