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Mit der Wut eines jungen Mannes

Ein wahres Schreckensgemälde entwirft Roberto Saviano in seiner detailreichen Reportage über die neapolitanische Mafiaorganisation Camorra. Vor einem Jahr hat sein Buch in Italien für großes Aufsehen gesorgt und eine Debatte ausgelöst, wie lange nicht mehr – weil es tiefe Einblicke bietet in die weltweit vernetzten Wirtschaftspraktiken der Mafia; weil es auch davon erzählt, wie sich legale und illegale Geschäfte mehr und mehr gleichen und gegenseitig bedingen. In Deutschland gewinnt das Buch zusätzlich Aktualität, seit in Duisburg Mitte August sechs Italiener starben – vermutlich ein Anschlag der kalabrischen Ndrangheta.

Von Conrad Lay | 10.09.2007
    Roberto Saviano ist ein 29 Jahre junger Mann mit Vollglatze, schwarzem Drei-Tage-Bart und durchdringend blickenden Augen. Ein Gesicht, das man nicht so schnell vergisst. So einer kann sich nicht gut verstecken. Vor knapp einem Jahr musste Saviano untertauchen, weil er ein Buch geschrieben hat. Seitdem steht er unter Polizeischutz. Das Buch heißt "Gomorrha", wurde in Italien binnen kürzester Zeit zum Bestseller und inzwischen mehr als 800.000 mal verkauft. Jetzt ist es auch auf deutsch erschienen. "Gomorrha", so nennt Saviano die Camorra, die Mafia Neapels.

    Zwar gibt es Bücher über die Camorra wie Sand am Meer, aber dieses eine hat eingeschlagen: Denn Saviano nennt Fakten, Zahlen, Daten und vor allem etwas, was die Camorra überhaupt nicht mag, nämlich Namen. Und er verbindet diese Namen, Zahlen und Daten mit der Wut eines jungen Mannes, der mitten in einer der Camorra-Hochburgen aufgewachsen ist und von klein auf deren Morden gesehen und miterlebt hat. Die neapolitanische Camorra hält Roberto Saviano für noch gefährlicher als die sizilianische Mafia:

    "Ein Kronzeuge der Camorra namens Carmine Schiavone wurde von einem Richter gefragt, warum die Camorra keine Richter und Polizisten ermordet wie die Mafia in Sizilien. Er antwortete: "Das haben wir nicht nötig, im Gegenteil, die Sizilianer machen nur Ärger. Denn wenn sie Richter ermorden, machen sie unsereinem das Leben nur schwer". Die sizilianische Mafia ist schwächer, gerade weil sie sich auf die Politik eingelassen hat. Die Camorra dagegen hat sich zwar der Politik bedient, aber immer Distanz gewahrt. Der Clan von Di Lauro ist zu einer Zeit mächtig geworden, als in Kampanien ein ausgesprochener Anti-Camorra-Politiker wie Antonio Bassolino regierte. Der Clan war für seine Geschäfte nicht auf politische Unterstützung angewiesen. Das zeigt seine ganze Stärke."

    Im Unterschied zur festen, hierarchischen Organisation der Mafia ist die Camorra in Dutzende von Clans untergliedert, die sich gegenseitig bekriegen, die beständig entstehen und untergehen und in neuer Form wieder entstehen. Mit anderen Worten: das neapolitanische Chaos drückt sich auch in der Vielfalt seiner kriminellen Organisationen aus. Doch ist das keine Schwäche, wie man vielleicht denken könnte, im Gegenteil: Die Flexibilität der Camorra-Gruppen ist in Zeiten der Globalisierung ein besonderer Marktvorteil! Roberto Saviano unterscheidet zwischen den alten Abzocker-Clans, die sich einfach bereichern wollen, und der Wirtschaftscamorra, der effizienten, modernen Unternehmens-Camorra, die in ganz Italien, ja weltweit agiert. Er nennt dafür ein Beispiel:

    "Oft verstand die Camorra das Erpressungsgeld, das ein Unternehmen an sie zahlte, als eine Art Unternehmensbeteiligung. In diesem Sinne ist das Erpressungsgeld nicht nur ein Nachteil, denn die Camorra bietet dafür bestimmte Serviceleistungen an. Zum Beispiel garantiert sie dem erpressten Unternehmen schnelle Transportwege, denn sie verfügt über eigene Transportunternehmen oder zwingt eine Transportfirma, bestimmte Geschäfte schneller zu bedienen als andere. Das hat sich im Jahr 2002 herausgestellt, anlässlich des Skandals um den Lebensmittelkonzern Parmalat. Aus den Unterlagen der Staatsanwaltschaft geht hervor, dass Parmalat eine Quote an die Casalesi bezahlte, den Clan meines Heimatortes Casal di Principe. Heute behauptet Parmalat, dazu gezwungen worden zu sein. Aber Tatsache ist, dass Parmalat sich aufgrund dieser monatlichen Zahlung auf dem neapolitanischen Markt zu 90 Prozent durchsetzen konnte. Es hatte praktisch ein Monopol."

    Das so genannte "Erpressungsgeld", so folgert daraus Roberto Saviano, war keine einseitige Angelegenheit, sondern Teil eines wirtschaftlichen Netzwerkes, das der kollaborierenden Firma Parmalat durchaus Vorteile bot. Illegale Methoden werden also angewandt, um die Wirtschaft anzukurbeln und das Rad schneller laufen zu lassen.

    Dabei vermengen sich legale und illegale Wirtschaft so miteinander, dass man nicht recht weiß, ob man es mit Kriminellen oder Unternehmern zu tun hat. Mit den Einnahmen aus kriminellen Geschäften erhöhen die Clans ihren Investitionsetat und verschaffen sich so Konkurrenzvorteile gegenüber ihren ausschließlich legal tätigen Mitbewerbern. Wie sehr legale und illegale Wirtschaft miteinander verwoben sind, erklärt Saviano am Beispiel der Textilfertigung in Secondigliano im Norden Neapels:

    "Die Unternehmen im Hinterland von Secondigliano stellen Bekleidungsstücke von allerhöchster Qualität her: Valentino, Ferragamo, Prada - ich nenne nicht zufällig diese Namen. In illegalen Werkstätten lassen diese Markenfirmen Produkte von höchstem Niveau herstellen, wozu die chinesische Konkurrenz bisher nicht fähig ist. Denn hier gibt es hoch spezialisierte Arbeitskräfte."

    Roberto Saviano erzählt Geschichten, nennt Namen und hat überhaupt keine Scheu, die eigene Wut und Betroffenheit hinauszuschreien. Er erinnert sich etwa an einen Schneider namens Pasquale, der zu den besten seines Faches gehörte. Eines Abends sei er bei ihm zum Essen eingeladen gewesen; wie üblich sei im Hintergrund der Fernseher gelaufen, Angelina Jolie habe gerade einen Oscar bekommen; sie habe ein wunderschönes Kleid getragen, ganz in Weiß. Das sei "Alta moda" vom Feinsten, habe der Kommentator gemeint.

    Der Schneider dagegen habe auf den Bildschirm gestarrt, als sei er kurzsichtig, als könne er nicht glauben, was er da sah. Das Kleid von Angelina Jolie hatte er genäht, in Schwarzarbeit irgendwo in den Außenbezirken von Neapel. Dafür habe er einen Hungerlohn bekommen, erzählt Roberto Saviano, er sei so wütend geworden, dass er nie wieder als Schneider gearbeitet habe, sondern inzwischen als Lkw-Fahrer für den nächsten Camorra-Clan unterwegs sei. Man habe - nicht nur in Neapel - die unternehmerische Camorra unterschätzt, meint der von Mord bedrohte Saviano.

    "Der Fehler war zu glauben, es würde schon ausreichen, mit der Camorra keine Geschäfte zu machen. Doch die Clans haben sich enorm bereichert, auch wenn Neapels Bürgermeister Bassolino und seine Nachfolger mit ihnen keine Geschäfte machten. Man dachte einfach, am besten redet man nicht darüber. Man glaubte, wer von der Camorra spricht, sei ein Nestbeschmutzer. Ich bekomme dann zu hören, "du verunglimpfst deine Stadt und seine Bewohner". Das ist schon ein klassischer Fehlschluss. Selten war ein Irrtum so groß."

    Roberto Saviano versteht seine Reportage als Belletristik, als Literatur. Doch auch wenn er fiktive Elemente einbaut und um des Zeugenschutzes willen von seiner schriftstellerischen Freiheit Gebrauch macht, ist es doch ein Roman, der sich auf Tatsachen stützt - mit anderen Worten: eine investigative Reportage mit der Wucht eines aufrüttelnden Romans.

    Roberto Saviano, Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. Hanser Verlag München, 368 Seiten 21,50 Euro.