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Mit Dostojewskij im Videospiel

Wiktor Pelewin ist der vielleicht wichtigste russische Gegenwartsautor, ein öffentlichkeitsscheuer, zynischer Intellektueller. Nun taucht er in die russische Literaturgeschichte ein, um sie - irgendwo zwischen James Bond und Fernost-Esoterik - der Gegenwart auszusetzen.

Von Uli Hufen | 06.09.2013
    Wenn man Russen fragt, wer das intellektuelle Klima im Lande und die allgemeine Weltwahrnehmung seit dem Ende der Sowjetunion besonders geprägt hat, dann fallen häufig zwei Namen: Wladislaw Surkow und Wiktor Pelewin. Surkow war in den letzten fünfzehn Jahren der talentierteste und mächtigste der berühmt-berüchtigen Moskauer Strippenzieher, Putins Richelieu. Der mindestens ebenso enigmatische Pelewin, der seit Jahren nicht öffentlich aufgetreten ist, gilt vielen als wichtigster Intellektueller und Schriftsteller des Landes. Beide sind hochbegabte Zyniker und Alchemisten, die es verstehen, aus Versatzstücken der Realität und großen Teilen Fiktion eine schöne neue Welten zu erschaffen, deren Bewohner den Unterschied zwischen Realität und Fiktion kaum noch benennen können oder wollen.

    Als direkte Folge der Tätigkeit von Surkow und Pelewin lautet eine der häufigsten Klagen, die man in Russland und im russischen Internet zu hören oder zu lesen bekommt: "Schlimm, niemand kann sich noch vorstellen, dass irgendjemand irgendetwas einfach so tut, weil er es für richtig hält." Alles in Russland ist Kalkül, alles ist Intrige, alles ist Verschwörung. Die Menschen nichts als Puppen, gelenkt von Marketingprofis, Polittechnologen und Experten für virtuelle Realität, 3-D Animation und psychedelische Drogen. In der Realität ebenso wie in Romanen.

    In "Tolstois Albtraum" führt Pelewin das alles am Beispiel eines Mannes vor, den der Leser und der sich selbst zunächst für Graf Leo Tolstoi hält. Der Graf ist als Priester verkleidet von seinem Landgut geflohen, wo er von der Polizei überwacht wird. In einem Zug trifft er auf den Geheimagenten Knopf, Schüsse fallen, Scheiben splittern, der Graf entkommt durch einen gewagten Sprung aus dem fahrenden Zug in einen Fluss. Doch schon bald trifft der Graf, der meist nur "t" genannt wird, seinen Schöpfer. Nicht Gott, sondern einen bösen Engel namens Ariel. Und er erfährt, dass er, Tolstoi, nur eine Marionette ist, die Hauptfigur in einem Roman:

    "Und warum bin ich T.?" "Das haben auch die Marktforscher beschlossen. Tolstoi – den kennt jeder aus der Schule. Wenn man das Wort nur hört, hat man sofort einen imposanten alten Mann vor Augen, in einem Arbeitskittel, die Hände unter den Gürtel geschoben. So einer springt nicht von der Brücke. Aber T. – das ist geheimnisvoll, das ist sexy und romantisch. Genau das Richtige heutzutage."
    "Und warum ausgerechnet ein Graf? Ist das wichtig?"
    "Sehr sogar", erwiderte Ariel. "Die Marktforscher behaupten, das Publikum interessiere sich heute nur noch für den Grafen Tolstoi und nicht für Tolstoi selbst. Seine Ideen kümmerten heutzutage niemanden mehr und seine Bücher verkauften sich nur noch deshalb, weil er ein echter Aristokrat war und sein Leben lang in Saus und Braus gelebt hat. Wenn die Leute Anna Karenina oder Krieg und Frieden heute noch lesen, dann angeblich deshalb, weil sie erfahren wollen, wie die wohlhabenden Herrschaften in Russland gelebt haben, als es die Rubljowka noch nicht gab."


    Irgendjemand weit oben hat befohlen ein einfühlsames Buch darüber schreiben, wie Graf Tolstoi sich vor seinem Tod mit der Mutter Kirche versöhnt. Ariel hat daraufhin fünf der besten und teuersten Experten des Landes versammelt: Einen für Action, einen für Erotik und Glamour, einen für Drogenszenen, einen für die Dialoge, einen für Bewusstseinstrom. Pelewin weiß genau wovon er spricht: in einem zunehmend von orthodoxer Hysterie erfassten Russland ist der Kirchenkritiker und Großschriftsteller Tolstoi tatsächlich eine heikle Figur. Doch wie man so schön in Russland sagt: Die Vergangenheit ist noch unvorhersehbarer als die Zukunft:

    "So eine Art alternative Geschichte, wissen Sie, mit der man dann allmählich die echte Geschichte überdecken und ihre Verfälschungen bekämpfen könnte. Eine tolle Idee natürlich, vor allem wenn man sie richtig umsetzt. Eigentlich wollten wir zum Jubiläum fertig sein. Wir haben einen ordentlichen Kredit aufgenommen, Verträge abgeschlossen, Vorschüsse bezahlt und für Marketing, Presseunterstützung und künftige Sendezeiten im Voraus bezahlt. Sogar die Werbung war schon geplant."

    Dann aber kommt es anders als geplant: Wie immer bei Pelewin versucht der Held auch diesmal sich zu befreien, sein Schicksal wortwörtlich in die eigene Hand zu nehmen. Das gelingt besser als in früheren Pelewin-Romanen, weil der Held zwar auch nur ein Zombie und Wiedergänger ist, aber immerhin ein Wiedergänger des großen Lew Tolstoi. Und der ist auch hundert Jahre nach seinem Tod stärker als die Kräfte des Bösen.

    Wie gehabt mischt Pelewin Krimi und Action, östliche Philosophie und Esoterik, Zeitgeistfetzen und selbstironische Angriffe auf Literatur und Kulturbetrieb zu einem bunten Cocktail.

    "Was haben Sie bloß immer mit Tolstoi oder Dostojewski?"
    "Eifersüchtig?", grinste Ariel. "Vergessen Sie‘s! Die wichtigste Kulturtechnologie des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist die kommerzielle Aneignung fremder Gräber, nur damit Sie es wissen. Leichenfledderei ist bei uns das am höchsten geachtete Genre, weil es das direkte Pendant zur Erdölförderung ist."


    So wie hier blitzt Pelewins erstaunliches Talent für zynische Sprüche, messerscharfe Dialoge, Wortneuschöpfungen und grausame Metaphern immer mal wieder auf. Doch über fast 500 Seiten trägt die Grundidee des Romans dann leider doch nicht. Die Dialoge zwischen dem Grafen und Ariel werden immer länger und redundanter, die asiatischen Philosophie- und Kampfkunstweisheiten immer müder und vorhersehbarer und als Pelewin Tolstoi schließlich auch noch zum Kollegen Dostojewskij in ein 3D-Computerkampfspiel schickt, schüttelt man nur noch besorgt mit dem Kopf. Hat Pelewin den Plot verloren? Die Antwort liefert der Meister selbst, in unnachahmlicher, aber leider trotzdem schaler Selbstironie:

    "Das wird ja ein irres Buch", sagte T. "Fängt gut an und hört schlimm auf."
    "So ist das Leben heutzutage", versetzte der Imperator. "Ich habe es mir nicht ausgedacht."


    Viktor Pelewin: Tolstois Albtraum
    Luchterhand, 448 Seiten, 21.99 Euro, ISBN: 978-3630873886