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Mit Franz Hohler durch Zürich

Auf den ersten Blick ist Zürich einfach nur eine wunderschöne Stadt. Ein Bilderbuch-Idyll. Allein schon die Lage! An diesem herrlichen See, gerahmt von diesem atemberaubenden Alpen-Panorama! Kein Wunder, dass sie in punkto Lebensqualität bei internationalen Rankings stets auf den vorderen Plätzen landet.

Von Katinka Strassberger | 08.09.2013
    Auf den zweiten Blick ist Zürich aber auch eine Stadt voller Gegensätze. Eine sehr dynamische Metropole, wo Tradition und Moderne, Einheimische und Zuwanderer, Reichtum und Armut zuweilen mit ungeheurer Wucht aufeinander prallen.
    "Ich bin immer gern in Zürich gewesen, weil ich das Gefühl hatte, dass man viele Entwicklungen, die sich auf das ganze Land beziehen bzw. auf die Gegenwart, hier stärker spürt als wenn man vielleicht im Tessin an einem Berghang wohnt, und sich dort seine Welt ausbrütet."

    Franz Hohler lebt in Oerlikon, einem multikulturell geprägten Quartier nördlich der Innenstadt, weitab der üblichen Touristenpfade. Er mag dieses Viertel. Auch, weil er den rasanten Strukturwandel, den die Stadt seit einigen Jahren durchmacht, hier hautnah miterleben kann.

    "Ein Stadtbild hat etwas unheimlich beharrliches. Es sollte Teile geben, die sich nicht verändern und an denen man die Stadt kennt. Aber es gehört auch die Veränderung dazu und die Dynamik, der Gedanke, dass man nicht ewig beim selben bleiben muss."

    In Zürich sind es vor allem wirtschaftliche Entwicklungen, die seit den 1990er Jahren ganze Viertel fundamental verändern. Zum Beispiel das ehemalige Industrie-Quartier Zürich-West unweit des Hauptbahnhofs, wo alte Fabriken jetzt kulturell oder als Dienstleistungszentren genutzt werden, ergänzt durch moderne Architektur. Ein ähnlich großes städtebauliches Entwicklungsgebiet erstreckt sich etwas weiter nördlich, rund um den Bahn-Knotenpunkt Oerlikon, also praktisch direkt vor Franz Hohlers Haustür.

    "Auf der einen Seite der Bahn, da, wo ich wohne, das ist der alte Teil von Oerlikon, auf der anderen Seite, da war die Maschinenfabrik Oerlikon, später ABB, und die Waffenfabrik Bürle, und das war ein Viertel, das hat man eigentlich gar nicht betreten, wenn man da nichts zu tun hatte. Und nun kam der Niedergang der Industrie in den 80er, 90er Jahren und auf einmal gab es einen Exodus, die Betriebe gingen woanders hin oder gingen ein, stellten die Produktion ein oder lagerten sie nach irgendwo, wo man billigere Arbeitskräfte hat. Und nun ist da eine neue Stadt entstanden und immer noch im entstehen. Das mit anzusehen ist ein sehr interessanter Vorgang für mich. Und eigentlich das Gegenteil des beharrlichen Altstadtbildes. Ich denke: beides gehört zu einer Stadt."

    Franz Hohler erkundet Zürich am liebsten zu Fuß, und das nun schon seit Mitte der 1960er Jahre, immer wieder aufs Neue. Er ist ein genauer Beobachter mit feinem Gespür für die Besonderheiten dieser Stadt und ihre Wandlungen, im Kleinen wie im Großen, im Positiven wie im Negativen. Seine Eindrücke hält er in satirischen Texten, Erzählungen, Gedichten und Romanen fest. Wer sie nachliest, gewinnt Einblicke in den Mikrokosmos dieser boomenden Metropole, wie man sie so garantiert in keinem Reiseführer findet.

    "Zürich kann eine sehr hässliche, trübselige Stadt sein, und gleichzeitig eine sehr schöne Stadt mit sehr schönen Plätzen. Ich kann am Vormittag mit Ihnen einen Rundgang machen "Zürich, schönste Stadt der Welt" und am Nachmittag mache ich den Rundgang "Zürich, hässlichste Stadt der Welt", und beides ist wahr."

    Wir verlassen die Großbaustelle Oerlikon und wenden uns den Schönheiten zu.
    Zu denen zählt das Niederdorf am rechten Limmatufer mit dem Großmünster und seinen romantischen, verwinkelten Gassen, wo sich zwischen zahlreichen Boutiquen, Bistros und Souvenirläden auch viel kulturgeschichtlich Interessantes entdecken lässt. Den "Hirschen" zum Beispiel, jene legendäre Gastwirtschaft, wo Erika Mann 1933, nach ihrer Flucht aus Deutschland, mit ihrem Kabarett "Die Pfeffermühle" Aufnahme fand. Oder das "Cabaret Voltaire" - dort entstand 1916 das dadaistische Manifest. Nicht weit davon entfernt: die traditionsreiche Feinkost-Institution "Schwarzenbach" mit einer erstaunlichen Vielfalt an Spezialitäten aus aller Welt auf kleinstem Raum.

    Von dort aus sind es nur wenige Schritte ins ruhigere Oberdorf, wo die Handwerks-Tradition der Stadt heute noch weiterlebt – in Gestalt vieler kleiner Werkstätten, Manufakturen und Künstlerateliers.
    Franz Hohler verrät, von wo aus man den schönsten Blick hat auf dieses einmalige Ensemble, das – man mag es kaum glauben - fast einmal den radikalen Visionen eines berühmten Architekten zum Opfer gefallen wäre:

    "Wenn ich auf dem Lindenhof stehe, das ist einer meiner liebsten Plätze, und hinüber blicke auf das Niederdorf und auf die Predigerkirche und auf das Großmünster, dann hat sich dort praktisch nichts verändert. Und denke dann daran, dass Le Corbusier, der Architekt, der hat mal vorgeschlagen, die ganze Altstadt abzureißen und Neubauten hinzustellen."

    Das war in den 1930er Jahren. Die Pläne, die der Architekt Karl Moser daraufhin im Auftrag der Stadt anfertigte, wurden glücklicherweise nie realisiert und fanden ihre letzte Ruhestätte im baugeschichtlichen Archiv.

    Vom Lindenhof, diesem zauberhaften parkartigen Aussichtspunkt über dem linken Limmat-Ufer lassen wir den Blick schweifen über den Fluss und die Brücken, die beide Altstadtteile miteinander verbinden. Schon vor Christi Geburt siedelten hier Kelten, später gründeten Römer eine Siedlung mit Zollstation, die als Urzelle Zürichs gilt. 1798 leistete die Stadt-Bevölkerung an diesem Ort den Eid auf die Helvetische Republik. Die ersten Linden wurden schon im 15. Jahrhundert gepflanzt und spendeten Schachspielern Schatten, fast so wie heute. Und genau wie damals kann man den Lindenhof nur zu Fuß erreichen, sehr zur Freude des passionierten Spaziergängers Franz Hohler:

    "Wer zu Fuß geht, der sieht immer was, was er noch nie gesehen hat, vor dem breitet sich das Leben aus, und das Leben ist immer alt und es ist immer neu."

    Das gilt auch für die mittelalterlichen Gassen zu Füssen des Lindenhofs, wo viele sorgsam restaurierte Altbauten moderne Läden und Restaurants beherbergen.

    Ganz in der Nähe ragt das Fraumünster empor mit den herrlichen Kirchenfenstern von Chagall und Giacometti. Von dort sind es nur wenige Schritte zur berühmten Bahnhofstraße. Hier schlägt das wirtschaftliche Herz der Metropole, werden mit Luxus-Waren aller Art Umsätze gemacht wie sonst nur noch in New York oder Hongkong.

    Die lukrativsten Geschäfte spielen sich aber im Verborgenen ab, besonders rund um den Paradeplatz, wo mehrere Großbanken ihren Sitz haben. Bis ins 17. Jahrhundert fand hier – kein Scherz - der Schweinemarkt statt.

    "Mich hat dieser Gedanke immer beschäftigt, dass da eine Fassade ist, hinter der Dinge ablaufen, von denen wir eigentlich kaum einen Begriff haben. Eben die Geldströme, die von hier aus gelenkt werden."

    Wie man sich die Geschäfte, die hier getätigt werden, in etwa vorstellen kann, das hat Franz Hohler schon vor 30 Jahren in der Erzählung "Das Halstuch" skizziert:


    Zitat Franz Hohler "Das Halstuch"
    aus: "Die Rückeroberung" Luchterhand Verlag 1984
    (Privataufnahme Katinka Strassberger)


    "Ich lese den Anfang dieser Erzählung:
    Zürich ist eine große Stadt, nicht an ihren Einwohnern gemessen, sondern an ihrer Wirkung. Hier wird mit Gold und Edelsteinen gehandelt, hier werden tropische Regenwälder abgesägt und ferne Täler unter Wasser gesetzt, hier werden Bohrinseln auf wilde Meere gepflanzt, Wüsten werden bewässert und neue Wüsten geschaffen, Kredite werden vergeben, die sofort wieder als Zahlungen zurückfließen, weit entfernte Ländereien werden dem Meistbietenden zugeschlagen, Fabriken werden an einem Ort stillgelegt, um am andern Ort wieder zu erstehen, Weizen, Salz und Kaffee werden aufgetürmt, Kanonen und Panzerwagen werden Freund und Feind in die Hand gespielt, Politik wird hier nicht gemacht, sondern bekämpft, durch die verbrüdernde Weltmacht "Handel", unter deren Schutz sich in Zürich die Russen mit den Südafrikanern treffen, die Israelis mit den Arabern und die Mafia mit dem Vatikan."

    So mancher Passant, der über die Bahnhofstraße flaniert und die verführerischen Auslagen edler Geschäfte betrachtet oder sich bei Sprüngli am Paradeplatz einen Kakao schmecken lässt, ahnt vermutlich gar nicht, welche Reichtümer sich nur wenige Meter unter seinen Füssen auftürmen:

    "Es gibt riesige Tresorräume unter dem Paradeplatz, wo unsereins nie hin kommt, es sei denn, man ist vielleicht Dokumentar-Filmer, aber ich habe noch nie gehört, dass es einen Tag der offenen Tür gibt für die Tresorräume unter dem Paradeplatz (lacht), UBS, Credit Suisse - es ist der verborgene Teil der Stadt, es sind die verborgenen Kräfte, die da wirken."


    Kräfte, die immer wieder Anlass geben zu Protesten, insbesondere für die occupy-Bewegung, die seit 2011 regelmäßig Demonstrationen auf dem Paradeplatz organisiert. Franz Hohler, der sich nicht nur als Kabarettist und Schriftsteller, sondern auch als Privatmann gegen wildwuchernden Finanzkapitalismus und für einen verantwortungsvolleren Umgang mit der Natur einsetzt, ist dort gelegentlich als Gastredner aufgetreten.

    "Ich würde nicht generell sagen, dass ich milder geworden bin im Alter, ich reagiere immer noch empfindlich auf das, was nicht richtig läuft in meinen Augen."

    Franz Hohler liebt seine Stadt, das spürt man, und sorgt sich auch um sie. Vor allem, wenn er ihre Randbezirke durchwandert, wo immer mehr Gewerbegebiete und Verkehrstrassen die Natur verdrängen.

    In seinem Buch "Spaziergänge", für das er 2010 jede Woche gezielt eine andere Exkursion durch Zürich und das Umland unternommen hat, kann man auch über diese Schattenseiten der expandierenden Metropole einiges erfahren. Vergnüglich zu lesen sind diese Texte aber trotzdem, denn schließlich ist Hohler ein begnadeter Satiriker. Und einen kundigeren Reiseführer als ihn wird man in Zürich kaum finden.

    "Ich habe das Gefühl, durch die Gegenwart zu gehen, wenn ich durch Zürich gehe, durch eine Gegenwart, die ich immer wieder erforschen und beschreiben möchte. Nicht durch die Welt gehen, als wüsste man schon alles, sondern durch die Welt gehen als ginge man durch eine "terra incognita", wie das früher hieß, einen weißen Fleck auf der Landkarte, unbekanntes Land. Sich freuen am Morgen und denken: ha, heute gehe ich wieder auf Forschungsreise, ich gehe zum Bahnhof!"