In einer Zeit, in der das deutsche Fernsehen noch nicht via Satellit weltweit empfangbar war, wurde er von Freunden daheim per Videocassette mit den damaligen Höhepunkten des deutschen Fernsehens versorgt, etwa mit Heinrich Breloers Dokudramen oder den unvergänglichen Sketchen eines Loriot. Wieder daheim, wurde Bertram indes sehr schnell bewusst, dass dies nicht der Fernsehalltag war – vielmehr traute er seinen Augen nicht, als er Zeuge der inzwischen stattgefundenen medialen Verflachung wurde. Nun hat sich Bertram seinen Fernsehfrust von der Seele geschrieben – hören Sie eine Rezension von Henry Bernhard.
'""Britta Fraß litt an Gigantomastie: Ihre Brüste schwollen überdimensional an.
Auch beim MDR Deutsches Fernsehballett!
Und wir stellen uns jetzt die Frage: Wer hat den Allergrößten?
Geht es Ihnen nicht gut?
Hier ist noch immer die Hölle los, aber ich geh jetzt weiter zum ZDF!
Zuvor war ihr diese Sicht versperrt – und zwar durch ihre Brüste!
Ach war das schön – mir fehlen die Worte!
Heino singt: "Kleine Annabelle ..."
Was fällt dir ein, unsere Gäste zu verprügeln?
Heino singt: "...musst nicht traurig sein ..."
Ach du Armer – was für ein hartes Partywochenende! Und heute musst du doch todmüde sein – oder?
Er gehört nicht in ein Krankenhaus, sondern in ein Gefängnis!
Absolut unfassbar!"
So oder so ähnlich muss es Jürgen Bertram in den Ohren geklungen haben, als er vor zehn Jahren aus Asien zurück nach Deutschland kam, nach 14 Jahren, die er als Asienkorrespondent der ARD zwischen Singapur und Peking verbracht hatte. Als sich Bertram dann als Pensionär in den heimischen, deutschen Fernsehsessel setzte, musste er feststellen, dass sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht zu seinem Guten verändert hatte: Das Programm, ob es nun ARD oder ZDF heißt, ist "kernerisiert", das heißt überspitzt: Sollte überhaupt noch ein Inhalt transportiert werden, dann wird er immer aus dem Blickwinkel des Boulevards betrachtet. Wichtigstes Qualitäts-Kriterium ist die Quote – die "Statistik des schlechten Geschmacks" –, und so fußballert, schunkelt und pilchert man sich durch die Programmwochen, dass es nur so eine Art hat. Nicht der Programmauftrag ist maßgebend, sondern der vermeintlich kleinste gemeinsame Nenner der Zuschauer.
Aber Bertram macht es sich nicht leicht, wiederholt nicht das MDR-Bashing des SPIEGELs, macht sich nicht lustig über die Verflachung, sondern recherchiert gründlich und analysiert nüchtern, wie es soweit kommen konnte. Er beginnt, wie könnte es anders sein, mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk und seinem britischen Chef Hugh Carleton Greene, der 1948 sagte:
"Wenn irgendeine Partei jemals eine Mehrheit in allen Ländern der britischen Zone gewönne, wäre es eine sehr starke Versuchung für diese Partei, ihre Machtposition dazu auszunutzen, Einfluss auf die Personal- und Programmpolitik des Rundfunks zu gewinnen. Ein solcher Anspruch kann natürlich keinen Augenblick ernst genommen werden. Die Mitglieder des NWDR werden weiterhin ausgesucht werden aufgrund ihres Charakters und ihrer technischen Fähigkeiten. Und damit meine ich auch die Fähigkeit, die ihnen gestellten Aufgaben im Sinne eines unparteiischen öffentlichen Dienstes zu erfüllen."
Die Selbstverständlichkeiten von damals sind inzwischen passé, die Befürchtungen Greenes wahr geworden: ARD und ZDF, so der Autor, befinden sich in fester Umklammerung der Parteien, Posten ab der mittleren Leitungsebene werden nach politischer Färbung und ausgeklügeltem Proporz verschachert. Darin sieht der Autor Jürgen Bertram den primären Sündenfall des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland. Dazu kommen die Einführung des Privatrundfunks in den 80er Jahren, die Umarmung durch die Wirtschaft und die unreflektierte Jagd nach der Quote.
Das Buch "Mattscheibe. Vom Ende der Fernsehkultur" ist so auch eindeutig gegliedert und gewichtet: 30 Seiten "Aufstieg", 40 Seiten "Turbulenzen" und 140 Seiten "Absturz". Im Kapitel "Aufstieg" skizziert Bertram die westdeutschen Nachkriegsjahre bis zur Durchsetzung des Fernsehens, als Rundfunk noch Radio mit Information, Aufklärung und bildungsbürgerlicher Aufklärung bedeutete – und dies auch gehört wurde.
Mit dem äußerst populären Fernsehen beginnen Mitte/ Ende der 50er Jahre die "Turbulenzen", wachsende Begehrlichkeiten der Politik, sich das neue Medium zu unterwerfen, gipfelnd in Adenauers Versuch, ein staatliches Fernsehen zu etablieren. Mit dem ZDF und später den dritten Programmen weitet sich das Programmangebot enorm aus, der Konkurrenz begegnet man mit mehr Unterhaltung, mehr Harmonie, mehr Lebenshilfe. Seitdem ist das deutsche Fernsehen nicht mehr aus dem Schunkeln herausgekommen. Aber es gibt auch den ungeschminkten Blick auf die Realität: Sozialreportagen, noch nicht Doku-Soaps.
In den 60er und 70er Jahren werden die politischen Magazine erfunden, Panorama, Kontraste, Kennzeichen D, Report, das ZDF-Magazin. Sie teilen aus – und müssen einstecken: Anrufe erboster Staatskanzleien, Angriffe der konservativen bzw. linken Presse und zermürbende Kämpfe im Inneren. Hier wird es besonders interessant, wenn der Autor aus eigenem Erleben vom eisigen Klima bei Panorama berichtet, vergiftet von "ideologischer Engstirnigkeit", "Fallbeilmentalität" und "gezielter Ausgrenzung". Bertram wörtlich:
In einer radikalen Phase während der aufgeheizten siebziger Jahre opfere auch ich die Differenzierung, ohne die ein journalistisches Produkt im Grunde wertlos ist, auf dem Altar der ideologischen Rechthaberei.
Generell beklagt Bertram die allgemein getrübte Selbstwahrnehmung von Fernsehleuten, die unfähig zur selbstkritischen Reflexion seien, benebelt von ihrer vermeintlichen Bedeutung, Person und Funktion verwechselnd. Das Fernsehen genüge sich längst selbst, das Medium und seine unablässige "Multiplikation des Banalen" sei die Botschaft. Den Beginn der Phase "Absturz" datiert Bertram ganz genau, auf den Start des Privatfernsehens 1984.
Wer politisch will, dass am Gewinn orientierte Programme installiert werden, darf sich nicht über deren Niveau beklagen. Es ist konsequent, wenn solche Sender Hausfrauen vor einem Millionen-Publikum zum Striptease animieren, der Unterschicht Gelegenheit geben, die Sau rauszulassen, halbseidene Prominenz zum Ekel-Event ins australische Dschungel-Camp schicken oder fettleibige Teenies in Strapsen über den Laufsteg.
Das Problem mit der privaten Konkurrenz sieht Bertram vor allem in dem Anpassungsdruck, dem sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk ohne Not unterwerfe: Im Kampf um die – quotenbestimmte – Existenzberechtigung verspielten ARD und ZDF eben die Legitimation, der sie hinterher hecheln. Ein Teufelskreis, dem man aber, so Bertram, entkommen könne: Mit klarem Blick auf den Programmauftrag soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht unreflektierte Wünsche der Öffentlichkeit bedienen, sondern seiner gesamtgesellschaftlichen kulturpolitischen Verantwortung nachkommen.
An vielen Beispielen macht der Autor in Einzelkapiteln klar, wo er die Auswüchse von ARD und ZDF in den Zeiten der "Spaßgesellschaft" sieht: Sportjournalismus sei, trotz Tausender Übertragungsstunden, im Fernsehen fast nicht mehr existent. Abhängige und korrumpierte Sportreporter stünden ihrem Gegenstand so kritisch gegenüber "wie Kommentatoren der 1. Mai-Parade im Ostberlin der 80er Jahre". Die Grenzen zwischen Sport, Fernsehen und Kommerz seien nicht nur verwischt, sondern aufgehoben, personifiziert in Leuten wie Günter Netzer oder Franz Beckenbauer, der "Fleischwerdung des totalen Sponsorings". Geld und Sendezeit fehlen angesichts der wochenlangen Sport-Ausnahmezustände zu Olympia oder Weltmeisterschaften dann der Politik, dem anspruchsvollen Film und der Kultur, die immer mehr gekürzt werden.
Aber die Korruption macht nicht beim Sport halt: Schleichwerbung im Film, firmennahe kofinanzierte Wirtschaftsberichterstattung, gesponserte Gesundheitssendungen, bestochene Autoredakteure, Infotainment auf dem Niveau von BILD und Gala und festangestellte Journalisten, die gegen Honorar Topmanagern beibringen, wie sie gekonnt Journalistenfragen ausweichen können.
In dem Bordell des Kommerzes, in das sie die Politik mit der Gründung der privaten Anstalten steckte, können sich die öffentlich-rechtlichen Anbieter nicht wie Jungfrauen gebärden. Verwerflich aber wird es, wenn sie sich potenziellen Freiern mit obszönen Angeboten geradezu an den Hals werfen.
Auch die Unterhaltung und den Film sieht Bertram in einem traurigen Zustand: Neben wenigen herausragenden Produktionen herrschten Verflachung, Einfallslosigkeit, Trivialität und Kitsch, mit Erzählmustern, die vor Banalität nur so strotzten. Und der "Kernerisierung" der Talkshow entspricht die "Guido-Knoppisierung" der Geschichtsfilme: Geschnitten wie ein Musikvideo wird so die Geschichte der SS zu Pop: bunt, reißerisch, rhythmisch. Mit der Realität hat all das wenig zu tun. Die Flaggschiffe von ARD und ZDF – Heute und die Tagesschau – reduzieren ihren Politikanteil und widmen sich verstärkt Boulevard-Themen wie etwa Monarchenhochzeiten. Die Politikmagazine werden um ein Drittel gekürzt.
All diese Fakten belegt Bertram, der unzählige Studien zum Thema ausgewertet und diverse Interviews geführt hat. Hier liegen gleichzeitig Vor- und Nachteil des Buches: Einerseits wird der gegenwärtige Erkenntnisstand zum Zustand von ARD und ZDF gerafft und stringent präsentiert; andererseits schiebt der Autor immer mal wieder knackige Zitate anderer Autoren vor, anstatt selbst einen Standpunkt zu beziehen. Nicht immer gelingt es ihm, sich von der "Früher war alles besser!"-Attitüde fernzuhalten. Nicht jeder schnelle Schnitt von heute schadet dem Medium, und manches, was man in der Erinnerung verklärt, entpuppt sich beim Wiedersehen als bieder und verstaubt.
Aber Bertram hat mit dieser Innenansicht von ARD und ZDF alle zehn Finger auf verschiedene Wunden gelegt, nicht um zu quälen, sondern um über eine Therapie nachzudenken, bevor es für den Patienten öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Deutschland zu spät ist.
Henry Bernhard rezensierte Jürgen Bertram: Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur. Im Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main, 240 Seiten, 8 Euro und 95 Cent.
'""Britta Fraß litt an Gigantomastie: Ihre Brüste schwollen überdimensional an.
Auch beim MDR Deutsches Fernsehballett!
Und wir stellen uns jetzt die Frage: Wer hat den Allergrößten?
Geht es Ihnen nicht gut?
Hier ist noch immer die Hölle los, aber ich geh jetzt weiter zum ZDF!
Zuvor war ihr diese Sicht versperrt – und zwar durch ihre Brüste!
Ach war das schön – mir fehlen die Worte!
Heino singt: "Kleine Annabelle ..."
Was fällt dir ein, unsere Gäste zu verprügeln?
Heino singt: "...musst nicht traurig sein ..."
Ach du Armer – was für ein hartes Partywochenende! Und heute musst du doch todmüde sein – oder?
Er gehört nicht in ein Krankenhaus, sondern in ein Gefängnis!
Absolut unfassbar!"
So oder so ähnlich muss es Jürgen Bertram in den Ohren geklungen haben, als er vor zehn Jahren aus Asien zurück nach Deutschland kam, nach 14 Jahren, die er als Asienkorrespondent der ARD zwischen Singapur und Peking verbracht hatte. Als sich Bertram dann als Pensionär in den heimischen, deutschen Fernsehsessel setzte, musste er feststellen, dass sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht zu seinem Guten verändert hatte: Das Programm, ob es nun ARD oder ZDF heißt, ist "kernerisiert", das heißt überspitzt: Sollte überhaupt noch ein Inhalt transportiert werden, dann wird er immer aus dem Blickwinkel des Boulevards betrachtet. Wichtigstes Qualitäts-Kriterium ist die Quote – die "Statistik des schlechten Geschmacks" –, und so fußballert, schunkelt und pilchert man sich durch die Programmwochen, dass es nur so eine Art hat. Nicht der Programmauftrag ist maßgebend, sondern der vermeintlich kleinste gemeinsame Nenner der Zuschauer.
Aber Bertram macht es sich nicht leicht, wiederholt nicht das MDR-Bashing des SPIEGELs, macht sich nicht lustig über die Verflachung, sondern recherchiert gründlich und analysiert nüchtern, wie es soweit kommen konnte. Er beginnt, wie könnte es anders sein, mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk und seinem britischen Chef Hugh Carleton Greene, der 1948 sagte:
"Wenn irgendeine Partei jemals eine Mehrheit in allen Ländern der britischen Zone gewönne, wäre es eine sehr starke Versuchung für diese Partei, ihre Machtposition dazu auszunutzen, Einfluss auf die Personal- und Programmpolitik des Rundfunks zu gewinnen. Ein solcher Anspruch kann natürlich keinen Augenblick ernst genommen werden. Die Mitglieder des NWDR werden weiterhin ausgesucht werden aufgrund ihres Charakters und ihrer technischen Fähigkeiten. Und damit meine ich auch die Fähigkeit, die ihnen gestellten Aufgaben im Sinne eines unparteiischen öffentlichen Dienstes zu erfüllen."
Die Selbstverständlichkeiten von damals sind inzwischen passé, die Befürchtungen Greenes wahr geworden: ARD und ZDF, so der Autor, befinden sich in fester Umklammerung der Parteien, Posten ab der mittleren Leitungsebene werden nach politischer Färbung und ausgeklügeltem Proporz verschachert. Darin sieht der Autor Jürgen Bertram den primären Sündenfall des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland. Dazu kommen die Einführung des Privatrundfunks in den 80er Jahren, die Umarmung durch die Wirtschaft und die unreflektierte Jagd nach der Quote.
Das Buch "Mattscheibe. Vom Ende der Fernsehkultur" ist so auch eindeutig gegliedert und gewichtet: 30 Seiten "Aufstieg", 40 Seiten "Turbulenzen" und 140 Seiten "Absturz". Im Kapitel "Aufstieg" skizziert Bertram die westdeutschen Nachkriegsjahre bis zur Durchsetzung des Fernsehens, als Rundfunk noch Radio mit Information, Aufklärung und bildungsbürgerlicher Aufklärung bedeutete – und dies auch gehört wurde.
Mit dem äußerst populären Fernsehen beginnen Mitte/ Ende der 50er Jahre die "Turbulenzen", wachsende Begehrlichkeiten der Politik, sich das neue Medium zu unterwerfen, gipfelnd in Adenauers Versuch, ein staatliches Fernsehen zu etablieren. Mit dem ZDF und später den dritten Programmen weitet sich das Programmangebot enorm aus, der Konkurrenz begegnet man mit mehr Unterhaltung, mehr Harmonie, mehr Lebenshilfe. Seitdem ist das deutsche Fernsehen nicht mehr aus dem Schunkeln herausgekommen. Aber es gibt auch den ungeschminkten Blick auf die Realität: Sozialreportagen, noch nicht Doku-Soaps.
In den 60er und 70er Jahren werden die politischen Magazine erfunden, Panorama, Kontraste, Kennzeichen D, Report, das ZDF-Magazin. Sie teilen aus – und müssen einstecken: Anrufe erboster Staatskanzleien, Angriffe der konservativen bzw. linken Presse und zermürbende Kämpfe im Inneren. Hier wird es besonders interessant, wenn der Autor aus eigenem Erleben vom eisigen Klima bei Panorama berichtet, vergiftet von "ideologischer Engstirnigkeit", "Fallbeilmentalität" und "gezielter Ausgrenzung". Bertram wörtlich:
In einer radikalen Phase während der aufgeheizten siebziger Jahre opfere auch ich die Differenzierung, ohne die ein journalistisches Produkt im Grunde wertlos ist, auf dem Altar der ideologischen Rechthaberei.
Generell beklagt Bertram die allgemein getrübte Selbstwahrnehmung von Fernsehleuten, die unfähig zur selbstkritischen Reflexion seien, benebelt von ihrer vermeintlichen Bedeutung, Person und Funktion verwechselnd. Das Fernsehen genüge sich längst selbst, das Medium und seine unablässige "Multiplikation des Banalen" sei die Botschaft. Den Beginn der Phase "Absturz" datiert Bertram ganz genau, auf den Start des Privatfernsehens 1984.
Wer politisch will, dass am Gewinn orientierte Programme installiert werden, darf sich nicht über deren Niveau beklagen. Es ist konsequent, wenn solche Sender Hausfrauen vor einem Millionen-Publikum zum Striptease animieren, der Unterschicht Gelegenheit geben, die Sau rauszulassen, halbseidene Prominenz zum Ekel-Event ins australische Dschungel-Camp schicken oder fettleibige Teenies in Strapsen über den Laufsteg.
Das Problem mit der privaten Konkurrenz sieht Bertram vor allem in dem Anpassungsdruck, dem sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk ohne Not unterwerfe: Im Kampf um die – quotenbestimmte – Existenzberechtigung verspielten ARD und ZDF eben die Legitimation, der sie hinterher hecheln. Ein Teufelskreis, dem man aber, so Bertram, entkommen könne: Mit klarem Blick auf den Programmauftrag soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk nicht unreflektierte Wünsche der Öffentlichkeit bedienen, sondern seiner gesamtgesellschaftlichen kulturpolitischen Verantwortung nachkommen.
An vielen Beispielen macht der Autor in Einzelkapiteln klar, wo er die Auswüchse von ARD und ZDF in den Zeiten der "Spaßgesellschaft" sieht: Sportjournalismus sei, trotz Tausender Übertragungsstunden, im Fernsehen fast nicht mehr existent. Abhängige und korrumpierte Sportreporter stünden ihrem Gegenstand so kritisch gegenüber "wie Kommentatoren der 1. Mai-Parade im Ostberlin der 80er Jahre". Die Grenzen zwischen Sport, Fernsehen und Kommerz seien nicht nur verwischt, sondern aufgehoben, personifiziert in Leuten wie Günter Netzer oder Franz Beckenbauer, der "Fleischwerdung des totalen Sponsorings". Geld und Sendezeit fehlen angesichts der wochenlangen Sport-Ausnahmezustände zu Olympia oder Weltmeisterschaften dann der Politik, dem anspruchsvollen Film und der Kultur, die immer mehr gekürzt werden.
Aber die Korruption macht nicht beim Sport halt: Schleichwerbung im Film, firmennahe kofinanzierte Wirtschaftsberichterstattung, gesponserte Gesundheitssendungen, bestochene Autoredakteure, Infotainment auf dem Niveau von BILD und Gala und festangestellte Journalisten, die gegen Honorar Topmanagern beibringen, wie sie gekonnt Journalistenfragen ausweichen können.
In dem Bordell des Kommerzes, in das sie die Politik mit der Gründung der privaten Anstalten steckte, können sich die öffentlich-rechtlichen Anbieter nicht wie Jungfrauen gebärden. Verwerflich aber wird es, wenn sie sich potenziellen Freiern mit obszönen Angeboten geradezu an den Hals werfen.
Auch die Unterhaltung und den Film sieht Bertram in einem traurigen Zustand: Neben wenigen herausragenden Produktionen herrschten Verflachung, Einfallslosigkeit, Trivialität und Kitsch, mit Erzählmustern, die vor Banalität nur so strotzten. Und der "Kernerisierung" der Talkshow entspricht die "Guido-Knoppisierung" der Geschichtsfilme: Geschnitten wie ein Musikvideo wird so die Geschichte der SS zu Pop: bunt, reißerisch, rhythmisch. Mit der Realität hat all das wenig zu tun. Die Flaggschiffe von ARD und ZDF – Heute und die Tagesschau – reduzieren ihren Politikanteil und widmen sich verstärkt Boulevard-Themen wie etwa Monarchenhochzeiten. Die Politikmagazine werden um ein Drittel gekürzt.
All diese Fakten belegt Bertram, der unzählige Studien zum Thema ausgewertet und diverse Interviews geführt hat. Hier liegen gleichzeitig Vor- und Nachteil des Buches: Einerseits wird der gegenwärtige Erkenntnisstand zum Zustand von ARD und ZDF gerafft und stringent präsentiert; andererseits schiebt der Autor immer mal wieder knackige Zitate anderer Autoren vor, anstatt selbst einen Standpunkt zu beziehen. Nicht immer gelingt es ihm, sich von der "Früher war alles besser!"-Attitüde fernzuhalten. Nicht jeder schnelle Schnitt von heute schadet dem Medium, und manches, was man in der Erinnerung verklärt, entpuppt sich beim Wiedersehen als bieder und verstaubt.
Aber Bertram hat mit dieser Innenansicht von ARD und ZDF alle zehn Finger auf verschiedene Wunden gelegt, nicht um zu quälen, sondern um über eine Therapie nachzudenken, bevor es für den Patienten öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Deutschland zu spät ist.
Henry Bernhard rezensierte Jürgen Bertram: Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur. Im Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main, 240 Seiten, 8 Euro und 95 Cent.