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Mit Glasnost und Perestroika zu Reformen

Die Sowjetunion erwies sich Mitte der 80er-Jahre als zurückgeblieben und erstarrt. Michail Gorbatschow wollte die Supermacht reformieren. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei ließ sich deshalb am 1. Oktober 1988 auch in das Amt des Staatsoberhaupts wählen.

Von Klaus Kuntze | 01.10.2013
    "Beifall der Abgeordneten für den neuen Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets. Michail Gorbatschow dankte für das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Im Namen des Obersten Sowjets würdigte Michail Gorbatschow noch einmal die große Arbeit Andrej Gromykos."

    Das DDR-Fernsehen sendet am 1. Oktober 1988 live aus Moskau. Zu diesem Zeitpunkt war nicht jedem klar, was Gorbatschow motiviert hatte, nach dem höchsten Staatsamt zu greifen. Galt doch allgemein das Amt des Präsidiums-Vorsitzenden mithin des formellen Staatsoberhaupts, wie der ganze Oberste Sowjet in Moskau als demokratische Staffage: ein Parlament, lediglich eingerichtet zum Abnicken bereits gefasster Beschlüsse der Kommunistischen Partei. Dieser Partei bescheinigte auch 1988 noch die letzte sowjetische Verfassung:

    "Die Linien der Innen- und Außenpolitik der UdSSR und die hauptsächlichen Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung, legt – gestützt auf die Marxistisch- Leninistische Lehre – die Kommunistische Partei fest.
    Organisation und Tätigkeit des sowjetischen Staates sind gemäß dem Prinzip des demokratischen Zentralismus strukturiert."


    In der Praxis hieß das, dass der personell überschaubare Zirkel an der Spitze, vor allem aber der Generalsekretär der Partei uneingeschränkt politische Macht ausüben konnte. Und diese Macht versuchte Michail Gorbatschow, seit er im März 1985 das höchste Parteiamt übernommen hatte, zur Umgestaltung, zur Perestrojka der in Agonie liegenden Gesellschaft, der Wirtschaft, der Politik zu nutzen.

    Im Herbst 1988 sah die Bilanz seiner Bemühungen gemischt aus. Auf der Plus-Seite standen die Freilassung von Dissidenten, Enttabuisierung der sowjetischen Geschichte, erste Abrüstungsschritte und der Abzug aus Afghanistan; außerdem hatte Gorbatschow die Zensur gelockert, ein paar demokratische Wahlelemente und zaghafte marktwirtschaftliche Ansätze eingeführt.

    In diese Zeit fielen aber auch die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sowie gefährliche Unruhen in einigen Teilrepubliken, vor allem aber sank der Lebensstandard durch eine weiterhin unproduktive Wirtschaft. Der Ostexperte Gerhard Simon:

    "Sehr bald stellte sich aber dann heraus, dass die Erwartungen sich nicht erfüllten und dann war der nächste Schritt, zu sagen, wir können die alten Kader nicht dazu bringen, die Ärmel raufzukrempeln in der sicherlich zutreffenden Erkenntnis, dass man neue Leute braucht, um eine neue Politik zu machen."

    Dem Taktiker Gorbatschow war es in erstaunlichem Ausmaß gelungen, in Partei und Verwaltung alte durch neue Kader zu ersetzen, aber letztlich erwies sich der nach wie vor überwiegend konservative Partei- und Verwaltungsapparat als zu behäbig. Mitte 1988, dreieinhalb Jahre nach Amtsantritt, leitete Gorbatschow eine neue Etappe im Umgestaltungsprozess ein.

    "Wir brauchen neue Formen der Mitarbeit und müssen die einfachen Bürger wieder zu Wort kommen lassen, die zu Unrecht übergangen und beiseitegeschoben worden sind. Kurz gesagt ist eine umfassende Demokratisierung des ganzen Lebens der Gesellschaft erforderlich. Sie ist auch die wichtigste Garantie für die Unumkehrbarkeit der eingeleiteten Prozesse."
    Schon im Sommer 1988 hatte Gorbatschow die Absicht erkennen lassen, die durch Glasnost, also die neue gesellschaftspolitische Offenheit, mobilisierten Kräfte stärker einzubinden: Durch eine neue, teilweise frei gewählte Volksvertretung zur Unterstützung seiner Ziele, die daher selbstverständlich mit ihm an der Spitze stehen sollte. Der Historiker Manfred Hildermeier

    "Aufmerksamen Genossen entging nicht, was Gorbatschow auf Empfehlung seiner engsten Berater mit dieser Weichenstellung auch vorbereitete: die Verlagerung seiner Macht von der Partei auf den Staat."

    Nach dem Rücktritt des 79-jährigen Andrej Gromyko wurde Gorbatschow am 1. Oktober 1988 vom Obersten Sowjet zum neuen Staatsoberhaupt gewählt, behielt aber als Generalsekretär und nach wie vor überzeugter Kommunist weiter die Leitung der Partei in Händen.

    Trotz dieser Machtkonzentration konnte er aber die Kräfte, die er selbst – vergleichbar dem "Zauberlehrling" – geweckt hatte, nicht mehr eindämmen: So untergruben die von der nationalistischen Rechten bis zur demokratischen Linken reichende Opposition und die nach Selbstständigkeit drängenden sowjetischen Teilrepubliken die Autorität Gorbatschows, mithin die Macht von Staat wie Partei.