Betrachtet man die europäische Geschichte seit dem frühen Mittelalter, dann fällt schnell auf, dass der Staat immer mehr das Gewaltmonopol für sich beansprucht hat. Heute tritt in Friedenszeiten die Polizei an die Stelle eigenmächtiger Territorialherren, Burgvögte oder Großgrundbesitzer. Doch diese – zumindest in Europa – scheinbar alternativlose und zwangsläufige Entwicklung kennt auch Ausnahmen, meint Ralf Jessen, Geschichtsprofessor an der Universität Köln.
"Aber wir können auch immer wieder Situationen beobachten, wo polizeiliche Ordnungsgewalt in Konkurrenz zu anderen tritt und unter Umständen auch an Bedeutung verliert. Ganz aktuell ja unsere Erfahrungen in Staaten, die zu versagen drohen. Nicht in Europa, aber in Afrika, in Teilen Lateinamerikas haben wir es ja mit diesen versagenden Staaten zu tun, in denen die Polizei sehr schnell an Grenzen stößt oder sich mit Milizen und Ähnlichem auseinandersetzen muss."
Im Sudan oder in Somalia gibt es heute praktisch keine funktionierenden gesamtstaatlichen Organe mehr und auch deutsche Polizisten, die in Afghanistan beim Aufbau einer einheimischen Polizei mithelfen sollen, stoßen rasch an Grenzen, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Taliban oder regionalen Warlords geht. Das sind – auch im historischen Kontext – sicher Ausnahmen, aber doch Anlass genug sich einmal mit der Frage zu beschäftigen, unter welchen Bedingungen denn das staatliche Gewaltmonopol zusammenbricht oder zumindest Macht und Ansehen der Polizei schwinden. Und dem Historiker fallen da schnell Beispiele aus der Geschichte ein:
"Denken sie an die großen Konflikte in den USA in den 20er-Jahren während der Prohibitionszeit. Als der Staat versucht hat den Alkoholkonsum sehr streng zu begrenzen und wir kennen alle die Konflikte, die sich daraus ergeben haben, mit Al Capone und anderen. Also eine unpopuläre Gesetzgebung findet nicht die Folgebereitschaft der Bevölkerung und es entsteht so eine Art ganz krimineller Gegengewalt, mit der sich der Staat auseinandersetzen muss."
Die amerikanische Polizei der Prohibitionszeit war in keiner beneidenswerten Lage. Sie sollte mit ihren vergleichsweise bescheidenen Mitteln ein in der Bevölkerung verhasstes - und wahrscheinlich auch von nicht wenigen Polizisten eher kritisch gesehenes - Gesetz durchsetzen, traf dabei auf äußerst ideenreiche Schwarzbrenner und Schmuggler, die ihren illegalen Stoff in sogenannten Speakeasies also Flüsterkneipen absetzten.
Hinzu kam die kriminelle Energie der Mafia und ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor im Zerfall der polizeilichen Autorität: viele Polizisten bis hinauf in die obersten Ränge nahmen nur zu gern Al Capones Schmiergelder. Ralf Jessen:
"Korruption ist ja auch ein Phänomen, das auf die Durchsetzungsgrenzen und Erosionen von Staatsgewalt hindeutet. Also wenn diese staatlichen Agenturen, hier die Polizei, nicht mehr nach ihren Regeln funktionieren, nicht mehr nach den gesetzlich vorgegebenen Regeln, sondern korrumpiert werden in ihren Zielen, nicht mehr durchsetzungskräftig sind und damit Konturen verlieren. Also Korruption ist eine Möglichkeit des Zerfalls von Staatlichkeit, von legitimer Staatlichkeit, nicht nur die gewaltsame Herausforderung durch eine Miliz. In der Tat das ist eines der Phänomene, die hier interessant sind."
Staatlicher Machtzerfall durch Bürgerkriege oder ähnliche Situationen, die zersetzende Wirkung der Korruption, der mehr oder weniger passive Widerstand der Bevölkerung gegen ungeliebte Gesetze, das sind einige der immer wiederkehrenden Gründe für den Verlust polizeilicher Autorität. In der Geschichte kann man aber auch immer wieder einen weiteren Fall beobachten. Nämlich den, das sich aus bestimmten Umständen heraus Alternativen zur Polizei herausbilden. Das war zum Beispiel im kolonialen Indien des 19. Jahrhunderts der Fall. Dort gründeten die Plantagenbesitzer in den damals abgelegenen und nur schlecht zugänglichen Teeanbaugebieten in Assam private Milizen, die darauf zu achten hatten, das die Arbeiter in den Plantagen pünktlich zur Arbeit kamen, kräftig schufteten und keinesfalls davonliefen. Wer erwischt wurde, kam in Arrest. Die staatlichen Organe duldeten diese Praxis. Private Polizeitruppen gab es aber nicht nur in den überseeischen Kolonialgebieten, sondern im 19. Jahrhundert auch vor unserer Haustür:
"Im Ruhrgebiet. Wo auf den großen Kohlezechen eine private Polizei zusammengestellt wurde, die bei Streiks für Ordnung sorgen sollte und auch Streikbrecher schützen sollte. Also sogenannte Zechenwehren. Die dann ebenfalls von der staatlichen Gendarmerie unterstützt wurden und auch sanktioniert wurden. Ein Phänomen, das immer großes Konfliktpotenzial hatte. Denn damals im Ruhrgebiet die streikenden Arbeiter haben es natürlich nicht anerkennen wollen, das der Unternehmer aus den eigenen Angestellten und Grubenbeamten eine Zechenwehr zusammenstellt. Also die hatten große Legitimationsprobleme."
Die natürlich auch die Polizei in die Bredouille brachte, denn die geriet nun in den - in dem Fall begründeten Verdacht - einseitig die Interessen der Grubenbesitzer zu vertreten. Zweifel an ihrer Legitimation bekam die Londoner Polizei in den 1920er-Jahren aus einer ganz anderen Ecke zu hören: nämlich den sogenannten besseren Kreisen. Jens Jäger, ebenfalls Professor an der Uni Köln:
"Das zu schnelle Fahren ist kein Phänomen der Gegenwart, sondern eines, seit es Autos gibt. Und da geraten Personen mit der Polizei in Konflikt, die das nicht gewöhnt sind."
Denn Autos konnten sich ja damals nur die Reichen und die Superreichen leisten. Infolge dieser Konflikte wegen zu schnellen Fahrens kam es tatsächlich zu einer kleinen Polizeireform in Großbritannien. Das Beispiel zeige, meint Jäger, das auch die Staatsmacht sich nicht auf einem Status quo ausruhen könne, sondern ihre Legitimität immer wieder neu gewinnen müsse. Das sei im Übrigen auch eine Lektion, die auch die deutschen Polizeiausbilder im heutigen Afghanistan aus der Geschichte lernen könnten:
"Es ist nie Quatsch nach den historischen Grundlagen zu fragen. Man wird natürlich keine direkten Handlungsanweisungen daraus ableiten können. Aber letztlich kann man sicherlich diese historische Erfahrung verarbeiten. Also ein Thema dabei wäre: wie schaffe ich ein Polizeiorgan, das legitim ist, das bei der Bevölkerung anerkannt ist. Das hat ganz viel damit zu tun, wie sich diese Polizeiorgane gegenüber der lokalen Bevölkerung benehmen."
"Aber wir können auch immer wieder Situationen beobachten, wo polizeiliche Ordnungsgewalt in Konkurrenz zu anderen tritt und unter Umständen auch an Bedeutung verliert. Ganz aktuell ja unsere Erfahrungen in Staaten, die zu versagen drohen. Nicht in Europa, aber in Afrika, in Teilen Lateinamerikas haben wir es ja mit diesen versagenden Staaten zu tun, in denen die Polizei sehr schnell an Grenzen stößt oder sich mit Milizen und Ähnlichem auseinandersetzen muss."
Im Sudan oder in Somalia gibt es heute praktisch keine funktionierenden gesamtstaatlichen Organe mehr und auch deutsche Polizisten, die in Afghanistan beim Aufbau einer einheimischen Polizei mithelfen sollen, stoßen rasch an Grenzen, wenn es um die Auseinandersetzung mit den Taliban oder regionalen Warlords geht. Das sind – auch im historischen Kontext – sicher Ausnahmen, aber doch Anlass genug sich einmal mit der Frage zu beschäftigen, unter welchen Bedingungen denn das staatliche Gewaltmonopol zusammenbricht oder zumindest Macht und Ansehen der Polizei schwinden. Und dem Historiker fallen da schnell Beispiele aus der Geschichte ein:
"Denken sie an die großen Konflikte in den USA in den 20er-Jahren während der Prohibitionszeit. Als der Staat versucht hat den Alkoholkonsum sehr streng zu begrenzen und wir kennen alle die Konflikte, die sich daraus ergeben haben, mit Al Capone und anderen. Also eine unpopuläre Gesetzgebung findet nicht die Folgebereitschaft der Bevölkerung und es entsteht so eine Art ganz krimineller Gegengewalt, mit der sich der Staat auseinandersetzen muss."
Die amerikanische Polizei der Prohibitionszeit war in keiner beneidenswerten Lage. Sie sollte mit ihren vergleichsweise bescheidenen Mitteln ein in der Bevölkerung verhasstes - und wahrscheinlich auch von nicht wenigen Polizisten eher kritisch gesehenes - Gesetz durchsetzen, traf dabei auf äußerst ideenreiche Schwarzbrenner und Schmuggler, die ihren illegalen Stoff in sogenannten Speakeasies also Flüsterkneipen absetzten.
Hinzu kam die kriminelle Energie der Mafia und ein weiterer nicht zu unterschätzender Faktor im Zerfall der polizeilichen Autorität: viele Polizisten bis hinauf in die obersten Ränge nahmen nur zu gern Al Capones Schmiergelder. Ralf Jessen:
"Korruption ist ja auch ein Phänomen, das auf die Durchsetzungsgrenzen und Erosionen von Staatsgewalt hindeutet. Also wenn diese staatlichen Agenturen, hier die Polizei, nicht mehr nach ihren Regeln funktionieren, nicht mehr nach den gesetzlich vorgegebenen Regeln, sondern korrumpiert werden in ihren Zielen, nicht mehr durchsetzungskräftig sind und damit Konturen verlieren. Also Korruption ist eine Möglichkeit des Zerfalls von Staatlichkeit, von legitimer Staatlichkeit, nicht nur die gewaltsame Herausforderung durch eine Miliz. In der Tat das ist eines der Phänomene, die hier interessant sind."
Staatlicher Machtzerfall durch Bürgerkriege oder ähnliche Situationen, die zersetzende Wirkung der Korruption, der mehr oder weniger passive Widerstand der Bevölkerung gegen ungeliebte Gesetze, das sind einige der immer wiederkehrenden Gründe für den Verlust polizeilicher Autorität. In der Geschichte kann man aber auch immer wieder einen weiteren Fall beobachten. Nämlich den, das sich aus bestimmten Umständen heraus Alternativen zur Polizei herausbilden. Das war zum Beispiel im kolonialen Indien des 19. Jahrhunderts der Fall. Dort gründeten die Plantagenbesitzer in den damals abgelegenen und nur schlecht zugänglichen Teeanbaugebieten in Assam private Milizen, die darauf zu achten hatten, das die Arbeiter in den Plantagen pünktlich zur Arbeit kamen, kräftig schufteten und keinesfalls davonliefen. Wer erwischt wurde, kam in Arrest. Die staatlichen Organe duldeten diese Praxis. Private Polizeitruppen gab es aber nicht nur in den überseeischen Kolonialgebieten, sondern im 19. Jahrhundert auch vor unserer Haustür:
"Im Ruhrgebiet. Wo auf den großen Kohlezechen eine private Polizei zusammengestellt wurde, die bei Streiks für Ordnung sorgen sollte und auch Streikbrecher schützen sollte. Also sogenannte Zechenwehren. Die dann ebenfalls von der staatlichen Gendarmerie unterstützt wurden und auch sanktioniert wurden. Ein Phänomen, das immer großes Konfliktpotenzial hatte. Denn damals im Ruhrgebiet die streikenden Arbeiter haben es natürlich nicht anerkennen wollen, das der Unternehmer aus den eigenen Angestellten und Grubenbeamten eine Zechenwehr zusammenstellt. Also die hatten große Legitimationsprobleme."
Die natürlich auch die Polizei in die Bredouille brachte, denn die geriet nun in den - in dem Fall begründeten Verdacht - einseitig die Interessen der Grubenbesitzer zu vertreten. Zweifel an ihrer Legitimation bekam die Londoner Polizei in den 1920er-Jahren aus einer ganz anderen Ecke zu hören: nämlich den sogenannten besseren Kreisen. Jens Jäger, ebenfalls Professor an der Uni Köln:
"Das zu schnelle Fahren ist kein Phänomen der Gegenwart, sondern eines, seit es Autos gibt. Und da geraten Personen mit der Polizei in Konflikt, die das nicht gewöhnt sind."
Denn Autos konnten sich ja damals nur die Reichen und die Superreichen leisten. Infolge dieser Konflikte wegen zu schnellen Fahrens kam es tatsächlich zu einer kleinen Polizeireform in Großbritannien. Das Beispiel zeige, meint Jäger, das auch die Staatsmacht sich nicht auf einem Status quo ausruhen könne, sondern ihre Legitimität immer wieder neu gewinnen müsse. Das sei im Übrigen auch eine Lektion, die auch die deutschen Polizeiausbilder im heutigen Afghanistan aus der Geschichte lernen könnten:
"Es ist nie Quatsch nach den historischen Grundlagen zu fragen. Man wird natürlich keine direkten Handlungsanweisungen daraus ableiten können. Aber letztlich kann man sicherlich diese historische Erfahrung verarbeiten. Also ein Thema dabei wäre: wie schaffe ich ein Polizeiorgan, das legitim ist, das bei der Bevölkerung anerkannt ist. Das hat ganz viel damit zu tun, wie sich diese Polizeiorgane gegenüber der lokalen Bevölkerung benehmen."