Archiv


Mit Händel per Du

Pünktlich zum Georg-Friedrich-Händel-Jahr 2009 hat die Pianistin Ragna Schirmer erstmals die kompletten beiden Bände der Klaviersuiten auf einem modernen Flügel eingespielt. Den Notentext versteht die Pianistin, ganz wie einst Händel, als Improvisationsgrundlage, dem sie Verzierungen und Improvisationen untermengt - eine gelungene Interpretation.

Von Falk Häfner |
    "Wenn Sie ins Konzert wollen, fahren Sie dann mit dem Auto oder mit der Kutsche?" - so bot die Pianistin Ragna Schirmer mal einem Journalisten Paroli auf seine Frage, warum sie ihre Haydn-CD denn auf dem modernen Flügel und nicht auf dem Cembalo eingespielt habe.

    Das ist etwa ein Jahr her. Inzwischen gibt es ein neues Album von Ragna Schirmer. Die Wahl der Verkehrmittel hat sich dabei nicht verändert, wohl aber das Ziel. Diesmal sind es Georg Friedrich Händels Suiten - bislang pianistisch kaum vermessenes Gelände, zumal in seiner Gesamtheit.

    Immerhin hat Ragna Schirmer auf drei CDs 16 Suiten vereinigt, rund dreieinhalb Stunden Musik. Damit legt sie die erste und zweite Sammlung von Händels "Suite de pièces pour le clavecin" - bis auf eine einzige Suite - komplett vor. Ein Marathon also - der aber so ausgelassen und unangestrengt klingt wie eine ausgedehnte Sonntagsspazierfahrt. Darum geht es in dieser Sendung. Falk Häfner lädt sie dazu ein.

    Markante Gedenktage hat Händel gar nicht nötig. Schon im vergangenen Jahr, also im Jahr vor seinem 250. Todestag, fluteten haufenweise Händeleinspielungen den Markt. Das allerdings beschränkte sich - bis auf wenige Ausnahmen - auf das Opernrepertoire. Und hier war ein Trend ganz deutlich zu spüren: Kaum eine Sängerin, kaum ein Sänger, der noch mit einem modernen Orchester aufnehmen wollte.

    Stattdessen freute sich die Originalklangfraktion über Magdalena Kožená mit dem "Venice Baroque Orchestra", über Joyce DiDonato mit "Les Talens Lyrique" oder über Mark Padmore mit "The English Concert". Jetzt legten auch Simone Kermes und Rolando Villazón nach. Historische Instrumente, historisch informierte Spielweise, das scheint inzwischen auch üblich zu sein für viele Vokalkünstler, die ansonsten nicht dezidiert dem Lager der Alte-Musik-Verfechter angehören.

    Auf die Klaviermusik übertragbar scheint dieses Phänomen allerdings nicht zu sein; ganz im Gegenteil. Hier wollen die meisten Künstler nicht abgehen von dem, was ein moderner Flügel an klanglichen Möglichkeiten bietet im Vergleich zu einem Cembalo. Stattdessen eifern sie darum, den Geist eines Cembalos beizubehalten, ihn aber im neuen Sinn zu beschwören.

    Dem französischen Pianisten Alexandre Tharaud gelang das mit Werken von Couperin genauso, wie jetzt der aus Hildesheim stammenden Ragna Schirmer mit Händels Cembalo-Suiten. Für sie bedeutet das vor allem, sich zu beschränken. Denn ein moderner Flügel verfügt zwar über ein Pedal. Aber über die Maßen benutzt, ertrinkt damit besagter Geist schnell in der Klangsoße.

    Probates Mittel dagegen scheint Ragna Schirmer eine Artikulation, bei der nichts dem Zufall überlassen bleibt. Genau austariert setzt sie die einzelnen Töne und markiert so höchst plastisch den Stimmenverlauf. Wie beim Cembalo-Spielen helfen dabei auch winzige Verzögerungen.

    Einzig auf Crescendi möchte Ragna Schirmer dann doch nicht verzichten. Wie kleine Windböen lässt sie zum Beispiel musikalische Linien am Schluss der Gavotte aus der G-Dur-Suite gelegentlich auffrischen und wieder abklingen.

    Nach ihren Hobbys befragt, sollte Ragna Schirmer vielleicht künftig "Trillern" angeben. All die Triller bei den Händel-Suiten gelingen ihr jedenfalls so brillant, lustvoll und aus dem Moment heraus, das man sich beim Hören auf jede weitere, noch kommende Verzierung freut. Doch da ist noch etwas, was ihr Spiel besonders macht. Es ist dieses unaufhaltsame, ja beinah unerbittliche Schwingen, was die Musik bei ihr nie stocken lässt. - Etwa in der Chaconne in G-Dur, bei der sich eine Variation organisch an die nächste reiht, wie ein Herzschlag an den anderen.

    Im Handbuch der Musik schreibt Otto Schumann sehr treffend: "Bach wandelt auf den Bahnen des Suchers, Händel zieht auf den Weg des Künders."

    Und tatsächlich: Händels Musik hat etwas Selbstbewusstes, etwas Klares, das sich in Ragna Schirmers Spiel sehr stark wiederfindet. Im Verlaufe des Hörens aller drei CDs wird das immer deutlicher. Händel ist der Künstler, der Spieler, manchmal sogar der Exzentriker. Hingeworfene Läufe gibt es bei ihm genauso wie streng gearbeitete Polyfonie. Rhapsodisches verarbeitet er in seinen Suiten ebenso, wie streng reglementierte Tanzrhythmen.

    Die meisten seiner Suiten sind früher entstanden als die von Bach. Die erste Sammlung veröffentlichte Händel 1720 - mehr oder minder notgedrungen. Denn Raubdrucke seiner Suiten kursierten bereits erfolgreich im Ausland, ohne dass der Urheber die entsprechenden Tantiemen abschöpfte. Und da war Händel dann doch Geschäftsmann genug, dem einen Riegel vorzuschieben.

    Er ordnete die einzelnen Kompositionen, revidierte und komponierte teilweise neu. So entstanden Sammlungen aus älteren und neueren Stücken. Einiges davon dürfte noch aus Händels Hamburger Zeit stammen. Dort hatte er unterrichtet. In der Musik findet das seinen didaktischen Niederschlag. Die traditionelle Satzfolge der Suite - nämlich Allemande, Sarabande, Courante, Gigue - lässt er dabei großzügig außer Acht und fügt stattdessen oft andere Elemente wie Preludes, Airs, Menuette oder mit Tempoangaben wie Allegro bezeichnete Sätze ein.

    Ihm geht es dabei um den individuellen Ausdruck der Sätze. Die Musikwissenschaft hat dafür nachträglich den Begriff des "vermischten Stils" gefunden; also eine Mixtur aus deutsch-französischer Suiten-Tradition und Einflüssen der italienischen Sonate, die zwischen Adagio und Allegro wechselt. Besonders auffällig ist das in der F-Dur-Suite, HWV 427, bei der einem statisch-majestätischen Adagio-Satz ein lebendig-spielerischer Allegrosatz folgt, dann wieder ein langsamer und zum Schluss ein schneller Satz. Hier das erste Allegro.

    Ragna Schirmer hat die Suiten auf ihrer CD nicht nach Entstehungszeiten oder Verzeichnisnummern, sondern nach Stimmungen und harmonisch passenden Abfolgen geordnet. Den Notentext versteht sie - ganz wie einst der Meister - an vielen Stellen als Improvisationsgrundlage, dem sie Verzierungen und Improvisationen untermengt. Ein zufälliger Fund beim Quellenstudium bestätigte sie: Denn fast genauso, wie sie bei einer Allemande in der Wiederholung eine Mittelstimme ergänzte, so hatte Händel bereits in einer früheren, aber nicht veröffentlichten Fassung diesen Tanzsatz angelegt.

    In den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale ist dieses drei CDs umfassende Album im letzten Sommer aufgenommen worden. Auf dem Weg von ihrer Wohnung dorthin hat Ragna Schirmer dem alten, aus Bronze gegossenen Händel auf dem Halleschen Marktplatz täglich freundlich zugezwinkert. Hört man nun ihre Händel-CD, dann glaubt man wirklich, dass die beiden inzwischen gute Freunde sind.

    Bei "Berlin Classics" ist Ragna Schirmers CD mit den Klaviersuiten von Georg Friedrich Händel jetzt herausgekommen - eine stilvolle Edition mit einem ausführlichen Booklet zu den Werken und einem Artikel über Händel und Halle. Außerdem schmücken das Cover Fotos der prächtigen Folianten aus der historischen Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. So atmet das Album barocken Geist, noch lange bevor die erste CD im Player liegt.

    Ein musikalisches und optisches Vergnügen, meint Falk Häfner, der sich damit verabschiedet.

    Georg Friedrich Händel "Die Klaviersuiten"
    Ragna Schirmer, Klavier
    Berlin Classics 0016452BC; LC 06203