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Mit Händen und Füßen

Woher kommt es, dass Menschen während des Sprechens oft Arme und Hände zu Hilfe nehmen? Reicht die verbale Sprache an sich nicht aus? Über Fragen wie diese diskutieren 300 Gestenforscher in Frankfurt an der Oder.

Von Barbara Leitner | 29.07.2010
    "Die Gestenforschung interessiert sich dafür, wie Gesten und Sprache miteinander zusammenwirken. Und das ist eine ganz andere Perspektive als einzelne Körperbewegungen auf ihre psychologische Grundierung hin zu untersuchen."

    Cornelia Müller, Professorin für angewandte Sprachwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und eine der knapp zwei Dutzend Wissenschaftlerin in Deutschland, die sich mit Gesten beschäftigt. Sie sieht, dass die Forschung zur nonverbalen Kommunikation ihren Schwerpunkt auf ausgedrückte Gefühle legt.

    "Während er in der Gestenforschung darauf liegt, dass Gesten kommunikativ sind, dass sie ein Teil des Sprechens sind, dass sie eine Form des Denkens sind, wenn man so will und dass sie eine verkörperte Form des Denkens sind und sie sind so eng mit Sprache verbunden. Sprache ist eigentlich multimodal in ihrem Kern. Und das ist eine ganz neue und andere Haltung Sprache gegenüber als es in der Mainstream- Linguistik der Fall ist."

    Die Gestenforschung ist ein relativ junges Feld der Sprachwissenschaften. Sie geht davon aus, dass sich die Sprache erst durch die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht entwickelte. Zuerst war die Artikulation mit den Händen, meint der amerikanische Begründer der Gestenforschung Adam Kendon. Mit denen teilten sich die Menschen zunächst mit. Dann erst begannen sie sich aufzurichten, formte sich ihr Kehlkopf aus und kam der verbale Ausdruck dazu. Dennoch bleibt es dabei, dass Menschen ihre Worte mit Hand-, Körper- und Gesichtsbewegungen begleiten, unterstreichen oder ergänzen. An etlichen Stellen des Sprachsystems sind Gesten sogar zwingend vorgesehen. Wenn es beispielsweise heißt, etwas sei "so" groß oder "so" lang, wird die Qualität nur durch eine erklärende Handbewegung deutlich.

    Neben diesen Rede begleitenden Gesten unterscheiden die Wissenschaftler auch eine Sprechweise, die von Gesten dominiert wird, ein Feld auf dem Roland Posner von der Arbeitsstelle Semiotik der Technischen Universität Berlin forscht.

    "Wir untersuchen erst einmal den syntaktischen Raum, welche Körperteile werden für welche Mitteilungen gebraucht. Zweitens, welche Mitteilungen kann man überhaupt so ausdrücken. Wenn man alles Ausdrückbare vergleicht mit dem, was man körperlich ausdrücken kann, so ist das nur ein Teil davon. Es sind vorwiegend Emotionen und Stimmungen, die wir gut ausdrücken können. Dann aber auch Sachen, die sehr stark und sehr spät codiert worden sind, zum Beispiel Telefonieren als Geste, das ist nur 125 Jahre alt und hat schon vier Konfigurationen wegen der Technik hinter sich gebracht."

    Noch vor Jahrzehnten drehte man bildlich die Wählscheibe des Telefons. Heute hält man sich heute Daumen und Zeigefinger gespreizt an das Ohr, um ein Handy zu symbolisieren. Die beiden Zeichen stehen zugleich für die beiden üblichen Formen, wie Gesten erzeugt werden: Entweder es werden Handlungen nachgeahmt oder aber die Hände selbst werden zu einer Skulptur, verkörpern ein Objekt. Manche dieser Gesten – vermutlich nur jene, die Handlungen nachahmen - existieren bereits seit Jahrtausenden und sind bis heute auch bei Primaten zu beobachten. Dazu gehört das sich auf die Brust schlagen als Zeichen für Dominanz. Für ein Gestenlexikon wurden an der Arbeitsstelle Semiotik solche Handbewegungen wie die geballte Faust, das Viktory-Zeichen oder ein lange Nase machen und ihre Bedeutung dokumentiert. Das ist nicht nur von kulturgeschichtlichem Wert. Viele dieser Gesten sind unter anderem für die Sicherheit im Verkehr oder die Organisation von Produktionsprozessen von praktischem Belang. Jürgen Streeck von der Universitäty of Texas in Austin

    "Es gibt zahllose Arbeitsfelder, die ohne Gestik gar nicht funktionieren könnten, weil viele Arbeitsvorgänge zum Beispiel Handhabungen nicht sprachlich oder nur sehr schwer zu vermitteln sind. Wir haben gar kein Vokabular dafür, die Bewegung der Finger genau zu bezeichnen. Spezialisten haben vielleicht ein Vokabular. Und Gestik ist naturgemäß ein sehr präzises und flexibles Medium, um über praktische Handlungen zu kommunizieren."

    Jürgen Streeck gehörte zu jenen, die in den 1980er-Jahren in Deutschland begannen, sich Gesten aus linguistischer, anthropologischer und soziologischer Perspektive zuzuwenden. Heute forscht er mit mikroethnographischen Methoden, welche Rolle Gesten in der Kommunikation beispielsweise in einer Autowerkstatt spielen. Sekundenweise analysiert er Videoaufnahmen, um herausfinden, welche kommunikativen Aufgaben bestimmte Zeichen erfüllen und wie diese in Beziehung zum praktischen Handeln gerade mit den Händen stehen.

    "Die Theorie, die ich sehr interessant finde, weil sie meine Ideen zur Gestik sehr unterstützt, ist, dass menschliche Hände zutiefst etwas mit der Herstellung von Dingen zu tun haben und Gesten sind, wenn man so will, auch Dinge ... Sie sind doch für einen kurzen Zeitraum Objekte im Raum, die von menschlichen Händen geschaffen werden und dieser Modus des Herstellens finde ich sehr interessant. Da kommt man dazu, was Gestik zu tun hat mit der Beschaffenheit und der primären Funktion von menschlichen Händen."

    Die Gestenforscher gehen davon aus, dass gestische Körperbewegungen den Gedanken erst mitbilden. Dazu werden Untersuchungen durchgeführt, welche Hirnhälfte bei welcher Art von Gesten aktiv ist. Bereits jetzt weiß man, dass Gestikulieren das Denken und Lernen unterstützt. Eine Studie fand heraus, dass Kinder im Mathematikunterricht die Aufgaben besser begreifen, wenn die sprachliche Instruktion gestisch begleitet wird. Dazu genügt es, an der Tafel beispielsweise zu zeigen, wie bei einer Addition die Zahlen zusammenzufügen sind. Diese Erkenntnisse sind auch relevant für die Erforschung der Kommunikation mit der Gebärdensprache der Gehörlosen, der sich die Community der weltweiten Gestenforscher erstmalig zuwendet. In Deutschland beschäftigt sich die Linguistin Ulrike Wrobel von der Viadrina in Frankfurt/Oder mit der Gebärdensprache.

    "Wann schlägt es um in eine Sprache, diese, was man eigentlich Handbewegungen und Gesichtsbewegungen, ist ja bei allen Sprechern gleich. Das ist da, um Emotionen auszudrücken und irgendwann in der Gebärdensprache ist das eine vollkommene Sprache ohne dass man noch etwas anderes braucht, in der man auch alle Inhalte darstellen kann. Ich würde sagen, dieser Prozess, dass die Inhalte genauer werden oder spezifischer werden, dass es auch mehr Zeichen gibt, die man benutzen kann und in der Gehörlosengemeinschaft wird sich so unterhalten und das konventionalisiert sich dann und wird eine Norm. Und so entsteht eine Sprache."

    Gehörlose Kinder beginnen natürlich, sich in dieser Sprache zu verständigen. In Deutschland allerdings wird ihnen oft noch abverlangt, zunächst eine Fremdsprache, die Lautsprache, durch Lippenlesen und Artikulationsübungen zu erlernen. Während in den USA und den skandinavischen Ländern die den Landessprachen entsprechenden Gebärdensprachen bereits seit 25 Jahren als eigenständige Sprachen anerkannt sind, ist das in Deutschland erst seit 2002 der Fall. Wie jede Sprache hat auch die Gebärdensprache einen eigenen Satzbau, eine eigene Grammatik, sogar eigene Dialekte. Gehörlose in Hamburg benutzten für machen Begriffe andere Zeichen als die in München.

    Doch auch die Gesten der Sprechenden unterscheiden sich nicht nur nach dem Kontext in dem sie gebraucht werden. Sie sind ebenso eng mit der Sprache, die sie begleiten, verbunden, folgen deren Lexikalisierungsmustern. Spanier nutzen deshalb andere Gesten als Deutsche und - so fanden die Gestenforscher heraus – entgegen der Vorannahme gestikulieren sie im Schnitt nicht mehr, sondern nur einfach größer als Deutsche, nutzen nicht nur das Handgelenk, sondern auch den Ellenbogen.

    Inzwischen tut sich für die Gestenforscher ein neues Feld auf – zu untersuchen, wie Sprache und Gesten in die Dramaturgie von audiovisuellen Medien einfließen und helfen, diese Werke zu strukturieren. Auch das ist ein Thema zu dem Professorin Cornelia Müller forscht. .

    "Es wird uns vor allem dahin bereichern, dass uns bewusster wird, welche Bedeutung die Körperbewegung für die Kommunikation haben. Es ist bis heute immer noch so, die Körperimpulse verraten uns etwas über die inneren Zustände und Affekte. Das ist natürlich wahr. Aber die Körperbewegungen machen noch viel mehr. Sie sprechen auch und was die audiovisuellen Medien anbetrifft denke ich, dass wir sehr viel lernen werden aus dieser Zusammenarbeit darüber, wie Bedeutung konstruiert wird, wie Affekte filigran orchestriert werden von Bildern und wie dadurch auch Meinungen gebildet werden und Einstellungen transportiert werden und wie ästhetische Kompositionen funktionieren."