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Mit Kälte Leben retten

Ein Kind schlittert auf einem zugefrorenen See und bricht ins Eis ein. Obwohl es erst nach einer Stunde gerettet wird, können Ärzte das Kind erfolgreich wiederbeleben, denn die Kälte hat die Organe geschützt, besonders das Gehirn. Diesen Effekt machen sich auch Notfallmediziner zunutze, wenn sie Patienten mit einem Herzstillstand versorgen. Nach der Wiederbelebung kühlen sie die Körpertemperatur der Patienten herunter.

Von Marieke Degen | 26.05.2009
    Eine junge Frau erleidet einen Herzstillstand. Sie muss im Notarztwagen wiederbelebt werden. Als die Frau in der Uniklinik Heidelberg ankommt, schwebt sie immer noch zwischen Leben und Tod. Doch dank einer unkonventionellen Maßnahme können die Ärzte ihr Leben trotzdem retten.

    "Wir haben diese junge Frau dann für 24 Stunden auf 33 Grad gekühlt,"

    … sagt der Anästhesist Bernd Böttiger. Mit Eispackungen kühlte er die Körpertemperatur der Patientin einen Tag lang herunter. Therapeutische Hypothermie heißt das in der Fachsprache, therapeutische Unterkühlung.

    "Wir haben sie danach langsam wieder erwärmt, das ist auch wichtig, das kann eins, zwei Tage dauern. Und die Frau hat gut überlebt, auch neurologisch gut überlebt, das heißt, sie konnte danach wieder ihre Kinder versorgen."

    Im ersten Moment mag es seltsam klingen, aber die Kälte hat die Organe der jungen Frau geschützt. Bei einem Herzstillstand wird der Körper nicht mehr mit genügend Sauerstoff versorgt. Sinkt die Körpertemperatur, benötigen die Organe deutlich weniger Sauerstoff. Das Gehirn nimmt – trotz des Sauerstoffmangels - keinen Schaden.

    "Die Chancen der jungen Frau wären sicher deutlich geringer gewesen, wenn wir sie nicht gekühlt hätten, soviel steht fest."

    Seit Bernd Böttiger die Hypothermie zum ersten Mal eingesetzt hat, sind ein paar Jahre vergangen. Heute ist er Direktor der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin an der Uniklink Köln und Präsident des European Resuscitation Council, des europäischen Wiederbelebungsrates. Jedes Jahr, sagt Böttiger, sterben 400.000 Menschen in Europa an einem Herz-Kreislauf-Stillstand.

    "Wir haben Ende der 90er-Jahre und Anfang dieses Jahrtausends sowohl in Europa eine große multizentrische Studie gesehen und auch eine australische Studie, die ganz klar gezeigt haben am Menschen, dass es sehr sehr positiv ist, wenn man nach einem Kreislaufstillstand, nach einem plötzlichen Herztod die betroffenen Patientinnen und Patienten für 12 bis 24 Stunden kühlt."

    Mit Hilfe der Hypothermie überlebt jeder sechste Patient einen Herzstillstand, so das Ergebnis der Studien. Ohne "Kühlung" überlebt nur jeder zehnte. Besonders wichtig ist: Die Patienten müssen so schnell wie möglich gekühlt werden, also unmittelbar nach der Reanimation, wenn das Herz wieder schlägt. Die Körpertemperatur sollte zwischen 32 und 34 Grad Celsius liegen. Normalerweise geben die Ärzte den Patienten dafür kalte Infusionen, manchmal geht es aber noch einfacher.

    "Es gibt Notärzte, die haben das - da ist jemand im Supermarkt kollabiert – mit größeren Mengen von Pommes Frites sichergestellt."

    Natürlich mit tiefgefrorenen. Allein in Deutschland könnten mit der Hypothermie bis zu 8000 Patienten pro Jahr zusätzlich gerettet werden, vorausgesetzt, das Verfahren würde flächendeckend eingesetzt. Doch das passiert nicht – obwohl die Hypothermie von Organisationen wie der American Heart Association und der Bundesärztekammer seit Jahren empfohlen wird.

    "Wir kennen Untersuchungen aus Deutschland, die sind aus dem Jahr 2006, 2007, die zeigen, dass kaum mehr als 20 Prozent aller Kliniken dieses Verfahren routinemäßig anwenden."

    Inzwischen mögen es einige Kliniken mehr sein, hofft Böttiger, letztlich sind es aber immer noch viel zu wenige.
    "Es ist nicht ganz einfach, das zu erklären, weil es eine klare wissenschaftliche Evidenz dafür gibt. Ein wichtiger Punkt ist vielleicht, dass man mit der Hypothermie nicht viel Geld verdienen kann. Es gibt viele neue Therapien, die natürlich unglaublich effektiv vermarktet werden, neue Medikamente, neue Katheter, ich sag's mal so, 'Mit der Hypothermie rettet man nur Leben'."

    Bernd Böttiger will weiter für die Kälte werben. Denn Patienten nach einem Herzstillstand nicht zu kühlen, bedeutet für ihn:
    "Im Grunde genommen ist das, wenn man das mal ganz hart formuliert, eine Art unterlassene Hilfeleistung."