Die arabische Welt befindet sich in einer Krise, einer Umbruchsituation. Die meisten Länder haben mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, viele Regierungen haben eine zumindest an westlichen Standards gemessen fragwürdige demokratische Legitimation. Hinzu kommt das Gefühl weiter Bevölkerungskreise, von der westlichen Zivilisation geradezu an die Wand gedrängt zu werden. Musik, Filme und Bücher aus dem Westen, dazu natürlich die über Satellit ausgestrahlten Fernsehprogramme: Wo nicht gerade die allerschärfste Zensur herrscht, verbreitet sich Kultur und Lebensstil des Westens. Viele genießen sie. Viele lehnen sie aber auch ab.
Oftmals aber, schreibt die tunesisch-französische Historikerin Sophie Bessis in ihrem bislang noch nicht ins Deutsche übersetztem Buch "Les Arabes, les femmes, la liberté", also "Die Araber, die Frauen und die Freiheit", haben die Menschen der arabischen Welt im Hinblick auf den Westen zweierlei Empfindungen zugleich. Faszination und Ablehnung. In ihrem Buch schreibt sie.
Man kann Markenkleidung tragen und Coca Cola trinken, seine Ferien in Paris verbringen und seine Kinder an einer der besten nordamerikanischen Universitäten Finanzwissenschaften studieren lassen - all dies tut nichts zur Sache. Man beruft sich auf das stabile Wesen der kollektiven Identität und verdammt in ihrem Namen die westlichen Abenteuer und das politische Chaos, das sie erzeugen. Aber die Identität der arabischen Region, so sehen es die konservativen Kräfte, beruht auf der Religion, und als deren Garantin sehen sie die Frauen. Identität = Religion = verschleierte Frau: Diese Formel schlagen die islamistischen Bewegungen den Arabern vor. Und viele übernehmen sie.
So kommt es, dass die Frauen der arabischen Welt in symbolischer Hinsicht eine zentrale Stellung innehaben. Die öffentliche Rolle der Frauen, so Bessis, gilt vielen Menschen als Indiz dafür, inwieweit sich die Region ihre kulturelle Eigenheit zu bewahren vermag. Oder aber im Gegenteil, inwieweit diese angesichts der übermächtigen westlichen Kultur schrittweise aufgegeben wird.
"Die Frauen gelten als Hüterinnen der Tradition und der Identität. Darum ist die Kontrolle der Frauen - die Kontrolle über ihre Freiheit und ihren Körper - in der Region geradezu eine Zwangsvorstellung. Warum aber konzentriert man sich so auf die Frauen? Die Antwort ist einfach: Wenn man die Gleichheit der Geschlechter erreicht, dann stehen auch alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen in Frage."
Ganz wesentlich, meint die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Gilzmer, die soeben einen Band über "Geschlechterordnungen in Nordafrika" herausgegeben hat, liegt die Konzentration auf die Rolle der Frau auch in der jüngeren Geschichte begründet. Indem die Männer sich als den Frauen überlegen erklärten, versuchten sie zugleich auch vergangene Demütigungen ungeschehen machen.
"Dort ist eben aus meiner Sicht auch diese Zunahme der Bedeutung der Religion zu erklären dadurch, dass den Frauen damit ein anderer Platz zugewiesen werden soll, um das Ego das Mannes - ich erkläre das jetzt mal ein bisschen psychoanalytisch - in der Folge der Kolonialisierung hilft das auch in der Ablösung vom ehemaligen Kolonisator dem Ego des Mannes, des gekränkten arabischen Mannes sozusagen, eine Figur, einen Menschen, eine Person zu finden, die er dominiert, das heißt, eine Ich-Stärke zu gewinnen über die Dominanz, über das Dominanzgefühl."
Die Geschichte des Kolonialismus aufzuarbeiten - das sehen viele arabische Frauen als ihre Aufgabe an. So etwa die algerische Schriftstellerin Assia Djebar. Ihr gesamtes Werk, meint sie, sei im Grunde eine Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Landes - einer Geschichte, die zu großen Teilen von Franzosen geschrieben wurde, und unter der Männer ebenso wie Frauen zu leiden gehabt hätten.
"Ich bin eine ausgebildete Historikerin. Und ich wäre sehr gerne Geschichtslehrerin. Denn in den drei Jahren, in denen ich das Fach unterrichtete, hatte ich den Eindruck, dass ich den Schülern den Texten gegenüber eine kritische Haltung beibrachte, ihr politisches Bewusstsein schärfte. In jener Zeit wurde mir klar, dass die soeben unabhängig gewordenen Länder - nicht nur Algerien, sondern aller Länder des afrikanischen Kontinents - begreifen müssen, dass sie auch die mündlichen Quellen ihrer Geschichte kennen müssen. Das ist eine geradezu moralische Pflicht der unabhängig gewordenen Staaten. In Frankreich, überhaupt im Westen ist das völlig normal. Wenn aber kolonisierte Länder unabhängig werden, müssen sie sich die Kenntnis ihrer wahren Geschichte erst noch erarbeiten. Denn bislang wurde sie ja verfälscht dargestellt. In der Geschichte geht es darum, Fragen zu stellen und angemessene Antworten zu erhalten. Aus diesem Grund bin ich auch zur Literatur gekommen."
Doch es ist schwierig, diese Vergangenheit in befriedigender Weise aufzuarbeiten. Viele Menschen suchen statt eines kritischen Blicks auf die Geschichte lieber Zuflucht in der Religion. Denn sie bietet statt Zweifeln Gewissheiten. Und darum, meint Mechthild Gilzmer, haben die kritischen, mit der Logik des Westens vertrauten Autoren nur geringe Chancen, sich Gehör zu verschaffen.
Daraus ergibt sich die absurde Situation, dass einige im Maghreb geborene Autorinnen und Autoren in ihrer Heimat kaum ein Publikum finden, im Westen hingegen gefeiert Literaturstars sind. Dies werde gerade an einer Autorin wie Assia Djebar deutlich.
"Wir haben also einerseits Menschen - Frauen, Männer - die durch die Moderne, durch das von Europa importierte oder auch durch ein Studium in Europa angeeignete Wertesystem oder Denksystem Verhaltensweisen realisiert haben, die man als, ja, einen Teil der Moderne betrachten könnte. Also Gleichberechtigung, im Fall von Assia Djebar die Tatsache, dass sie in die Schule gegangen ist, dass sie als eines der wenigen Mädchen überhaupt ihrer Generation auf dem Land in die Schule gegangen ist. Das heißt, wir haben also mit Assia Djebar eine Frau, die von der Moderne profitiert hat, die aber gleichzeitig negativ betrachtet wird oder die als ein Teil dieser Moderne des Westens, der von der arabischen Welt eben zunehmend als dekadent angesehen und verurteilt wird - und sie steht sozusagen dann auch dafür und wird insofern auch nicht als jemand betrachtet, der Vorreiterin sein kann."
Anstatt sich also kritisch mit ihrer Kultur auseinanderzusetzen, konzentrieren sich viele Menschen auf die Tradition. Und deren zentraler Bestandteil ist die Religion. Daraus, berichtet die marokkanische Juristin Malika Benradi, entstehen für arabische Feministinnen ganz neue Herausforderungen. Denn eine laizistisch ausgerichtete Argumentation hat es in einem religiös dominierten Umfeld sehr schwer. Entsprechende Erfahrungen hat Benradi vor einigen Jahren gemacht, als in Marokko ein neues Familienrecht eingeführt wurde, das die Vorrechte der Männer stark eingeschränkt - und die der Frauen erheblich gestärkt hat.
"Man kann keine Veränderungen bewirken, ohne die Religion zu berücksichtigen. Denn die Bürger des Maghreb leben so sehr unter dem Eindruck des Islams, dass man ihnen kaum etwas vorschlagen kann, was nicht im Einklang mit der Religion steht. Um daher etwas zu erreichen, muss man auf die Religion zurückgreifen. Man kommt ohne sie nicht aus, wenn man ein stärker an der Gleichheit ausgerichtetes Gesellschaftsprojekt verwirklichen will."
Die Menschen leben mit dem Koran - also muss man auf seiner Grundlage argumentieren. Genau diese Erfahrung hat auch die sudanesische Menschen- und Frauenrechtsaktivistin Asha Elkarib gemacht. Seit der Machtergreifung des Präsidenten Omar Hasan Ahmad al Bashirs habe das öffentliche Leben im Sudan einen ausgeprägt religiösen Charakter angenommen. Darüber sei die Gesellschaft ausgesprochen konservativ geworden. Die Gründe dafür sind aber nicht nur religiöser Art - sondern auch politischer: Wenn ein religiös gesinnter Herrscher die Macht über die Pfründe hat - dann empfiehlt es sich für alle an ihnen Interessierte, ebenfalls ein bisschen religiös zu werden. Also werden auch die Frauen wieder religiös - zumindest all jene, die an der Macht teilhaben wollen.
"Ich unterrichte sehr häufig Frauen über die Gleichheit der Geschlechter und Frauenrechte. Und immer wieder wird mir die Frage gestellt, was die Religion dazu sagt. Unterstützt sie unser Anliegen oder nicht? Und wenn Sie dann einen Koranvers zitieren, der meine Argumente stützt, findet sich immer jemand im Saal, der andere Verse zitiert, die mich nicht unterstützen. Und das ist das große Dilemma. Es lassen sich die unterschiedlichsten Deutungen aus ihm herauslesen. Darum arbeite ich jetzt vorzugsweise mit denjenigen Theologen, die für eine Interpretation des Islams im Zeichen der Gegenwart plädieren."
Frauenrechte religiös zu begründen: Für laizistische orientierte Feministinnen ist das nicht einfach. Diese Strategie mag zwar kurzfristig weiterführen - aber auf Dauer, meint die tunesische Frauenrechtlerin Sophie Bessis, lass sich dieses Prinzip nicht durchhalten. Denn allzu schnell werde es an seine Grenzen stoßen.
"Muss man innerhalb oder außerhalb des religiösen Rahmens agieren? Ich bin überzeugt, dass sich die Gleichberechtigung der Geschlechter nur innerhalb eines säkularen Rahmens verwirklichen lässt. Darum kämpfen die meisten Frauenbewegungen in der arabischen Welt für Gleichberechtigung und eine säkulare Ordnung zugleich. Aber es gibt auch viele religiös orientierte Frauen, die angesichts der konservativen oder sogar reaktionären Deutungen des Koran für eine fortschrittliche Interpretation im Rahmen des Islam eintreten. Auch auf diese Art lässt sich sicher etwas erreichen. Mir scheint aber, dass man innerhalb des religiösen Rahmens das endgültige Ziel nicht erreicht. Denn kein religiöser Text strebt im Hinblick auf die Geschlechter die Gleichberechtigung an."
So fordern sehr viele Frauen ihre Rechte im Namen republikanischer Ideale ein. So etwa die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi, die in ihren Büchern ebenfalls für Gleichberechtigung auf laizistischer Grundlage plädiert.
"Es ist nicht wahr, dass unsere Mütter mit unseren im Besitz der Wahrheit befindlichen Männern glücklich waren. Kann man einen Mann lieben, der immer Recht hat, weil er seine Frau zum ehelichen Gehorsam zwingt? Jeder weiß doch, dass der Gipfel der Verführung ihrer selbst unsichere Männer sind - solche also, die sich selbst noch suchen. Die arabische Jugend weiß es, und ihre Liebschaften erblühen darum nur umso schöner. Die Frauen wollen keine Predigten mehr hören. Sie sind bereit zum Kreuzzug, sie wissen, dass die Zukunft in der Abschaffung der Grenze liegt, dass das Individuum geboren ist, um respektiert zu werden, dass Differenz Reichtum bedeutet."
Doch wie weit solche Forderungen selbst in Marokko zu Teilen noch von der Wirklichkeit entfernt sind, erläutert Mechthild Gilzmer anhand einer Leerstelle im neuen marokkanischen Familienrecht: Eine Gruppe von Frauen findet dort keine Erwähnung, denn ihr Schicksal gilt als vollkommen außergewöhnlich, wenn nicht sogar geradezu undenkbar.
"Das sind Frauen, die außerhalb der Ehe schwanger werden. Für diese Frauen gibt es überhaupt keine Gesetzgebung. Sie kommen gar nicht vor insofern, weil es Sexualität außerhalb der Ehe aufgrund der Scharia gar nicht geben darf. Da es das nicht geben darf, kann es auch keine Gesetzgebung dafür geben, für diese Fälle. Diese Frauen sind die völligen Outcasts in der marokkanischen Gesellschaft. Ein großes Problem innerhalb der marokkanischen Gesellschaft ist die ungeheure Bigotterie, die Tartüfferie, das heißt diese Doppelmoral, die auf der einen Seite darauf besteht, kein außerehelicher Geschlechtsverkehr, keine außerehelich Sexualität - und gleichzeitig natürlich Sexualität à gogo praktiziert, und dabei bleiben immer die Frauen auf der Strecke."
Nicht ausgeschlossen allerdings, dass auch diese Frauengruppe irgendwann unter den Schutz der Gesetze fällt. Denn haben die Feministinnen einige ihrer Ziele erst einmal erreicht, können sie getrost auf die Macht des Faktischen setzen. Denn neue geschaffene Institutionen wie das marokkanische Familienrecht, berichte Malika Benradi, bleiben auf die gesamte Gesellschaft nicht ohne Wirkung.
"Die praktischen Folgen dieses Gesetzes werden sicher Einfluss auf die Männer, aber auch die Frauen haben. Denn ein Gesetz, das die Gleichberechtigung der Geschlechter vorsieht, wird das Verhalten und die Einstellungen der Betroffenen ändern. Und vor allem die Wahrnehmung der Gleichheit. Denn ein Mann kann seine Frau nicht mehr verstoßen, sich keine weitere Frau nehmen, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. So wird das Gesetz zuerst das Verhalten und dann auch die Mentalität der Bürger verändern."
Solche Projekte vor Augen, können viele arabische Feministinnen auch nicht mit der These vom "Kampf der Kulturen” anfangen, der nach Ansicht einiger Autoren zwischen der arabischen und der westlichen Welt gefochten werde. Natürlich gebe es Verhandlungsbedarf, meint etwa die sudanesische Frauenrechtlerin Aisha al Kabir - aber mehr auch nicht. Die arabische und die westliche Welt seien gleichermaßen bewegliche, in Entwicklung befindliche Regionen. Eben darum meint sie, solle der Westen auch bei der Diskussion um die Menschenrechte keine falschen Rücksichten nehmen.
"Ich beobachte mit einigem Unbehagen, dass der sich dazu bekennt, fremde Kulturen nicht durcheinander zu bringen. Aber von welchen Kulturen ist hier denn die Rede? Meine Welt ist verschieden von der meiner Mutter und noch mehr derjenigen meiner Großmutter. Wir entwickeln uns, wir verändern uns. Kulturen sind nicht heilig. Und die Logik, der der Westen folgt, untergräbt auch alle Anstrengungen für die Menschenrechte."
Das Pochen auf der eigenen Identität blockiert den Dialog eher, als dass er ihn fördert. Darum, meint die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Gilzmer, käme es darauf an, von entsprechenden Identitätsobsessionen Abschied zu nehmen - und ebenso von einem simplifizierenden Weltbild, in dem sich die Kolonisten und Kolonisierten von einst immer noch unversöhnlich gegenüberstehen.
"Es gab also nicht nur "den bösen Kolonisator". Und das ist, da sind wir auch schon wieder beim nächsten Problem, die ganzen Schematisierungen, Feindbilder, Abgrenzungen, die dann ja auch wieder dazu dienen, die eigene Identität ja zu gewinnen. Wobei - das darf man auch nicht vergessen, es ist ja, wie gesagt, ein sehr komplexer Zusammenhang, der auch viel mit Macht, mit Hegemonie, mit Machtstreben und dem Einfluss auch von arabischer Seite, von Saudi Arabien zum Beispiel in Marokko zu tun hat. Das heißt, das ist nicht nur rein identitär, sondern auch ganz konkret ein ökonomischer Prozess, der da abläuft."
It's economy, stupid. Das gilt, in abgewandelter Weise, auf für manche der derzeit zwischen der westlichen und der arabischen Welt bestehenden Schwierigkeiten. Natürlich gibt es auch kulturell begründete Spannungen. Die aber werden aus einsichtigen Gründen gerne groß geredet. Eine der wichtigsten Leistungen der aus der arabischen Welt oder mit ihr befassten Kulturwissenschaftlerinnen ist es deshalb, mit guten Argumenten dafür zu sorgen, dass die Kultur nicht zum Popanz erhoben wird, dass sie keinen höheren Platz erhält als den, der ihr tatsächlich auch zusteht. Dafür treten in der arabischen Welt nicht zuletzt die Feministinnen ein.
Oftmals aber, schreibt die tunesisch-französische Historikerin Sophie Bessis in ihrem bislang noch nicht ins Deutsche übersetztem Buch "Les Arabes, les femmes, la liberté", also "Die Araber, die Frauen und die Freiheit", haben die Menschen der arabischen Welt im Hinblick auf den Westen zweierlei Empfindungen zugleich. Faszination und Ablehnung. In ihrem Buch schreibt sie.
Man kann Markenkleidung tragen und Coca Cola trinken, seine Ferien in Paris verbringen und seine Kinder an einer der besten nordamerikanischen Universitäten Finanzwissenschaften studieren lassen - all dies tut nichts zur Sache. Man beruft sich auf das stabile Wesen der kollektiven Identität und verdammt in ihrem Namen die westlichen Abenteuer und das politische Chaos, das sie erzeugen. Aber die Identität der arabischen Region, so sehen es die konservativen Kräfte, beruht auf der Religion, und als deren Garantin sehen sie die Frauen. Identität = Religion = verschleierte Frau: Diese Formel schlagen die islamistischen Bewegungen den Arabern vor. Und viele übernehmen sie.
So kommt es, dass die Frauen der arabischen Welt in symbolischer Hinsicht eine zentrale Stellung innehaben. Die öffentliche Rolle der Frauen, so Bessis, gilt vielen Menschen als Indiz dafür, inwieweit sich die Region ihre kulturelle Eigenheit zu bewahren vermag. Oder aber im Gegenteil, inwieweit diese angesichts der übermächtigen westlichen Kultur schrittweise aufgegeben wird.
"Die Frauen gelten als Hüterinnen der Tradition und der Identität. Darum ist die Kontrolle der Frauen - die Kontrolle über ihre Freiheit und ihren Körper - in der Region geradezu eine Zwangsvorstellung. Warum aber konzentriert man sich so auf die Frauen? Die Antwort ist einfach: Wenn man die Gleichheit der Geschlechter erreicht, dann stehen auch alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen in Frage."
Ganz wesentlich, meint die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Gilzmer, die soeben einen Band über "Geschlechterordnungen in Nordafrika" herausgegeben hat, liegt die Konzentration auf die Rolle der Frau auch in der jüngeren Geschichte begründet. Indem die Männer sich als den Frauen überlegen erklärten, versuchten sie zugleich auch vergangene Demütigungen ungeschehen machen.
"Dort ist eben aus meiner Sicht auch diese Zunahme der Bedeutung der Religion zu erklären dadurch, dass den Frauen damit ein anderer Platz zugewiesen werden soll, um das Ego das Mannes - ich erkläre das jetzt mal ein bisschen psychoanalytisch - in der Folge der Kolonialisierung hilft das auch in der Ablösung vom ehemaligen Kolonisator dem Ego des Mannes, des gekränkten arabischen Mannes sozusagen, eine Figur, einen Menschen, eine Person zu finden, die er dominiert, das heißt, eine Ich-Stärke zu gewinnen über die Dominanz, über das Dominanzgefühl."
Die Geschichte des Kolonialismus aufzuarbeiten - das sehen viele arabische Frauen als ihre Aufgabe an. So etwa die algerische Schriftstellerin Assia Djebar. Ihr gesamtes Werk, meint sie, sei im Grunde eine Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Landes - einer Geschichte, die zu großen Teilen von Franzosen geschrieben wurde, und unter der Männer ebenso wie Frauen zu leiden gehabt hätten.
"Ich bin eine ausgebildete Historikerin. Und ich wäre sehr gerne Geschichtslehrerin. Denn in den drei Jahren, in denen ich das Fach unterrichtete, hatte ich den Eindruck, dass ich den Schülern den Texten gegenüber eine kritische Haltung beibrachte, ihr politisches Bewusstsein schärfte. In jener Zeit wurde mir klar, dass die soeben unabhängig gewordenen Länder - nicht nur Algerien, sondern aller Länder des afrikanischen Kontinents - begreifen müssen, dass sie auch die mündlichen Quellen ihrer Geschichte kennen müssen. Das ist eine geradezu moralische Pflicht der unabhängig gewordenen Staaten. In Frankreich, überhaupt im Westen ist das völlig normal. Wenn aber kolonisierte Länder unabhängig werden, müssen sie sich die Kenntnis ihrer wahren Geschichte erst noch erarbeiten. Denn bislang wurde sie ja verfälscht dargestellt. In der Geschichte geht es darum, Fragen zu stellen und angemessene Antworten zu erhalten. Aus diesem Grund bin ich auch zur Literatur gekommen."
Doch es ist schwierig, diese Vergangenheit in befriedigender Weise aufzuarbeiten. Viele Menschen suchen statt eines kritischen Blicks auf die Geschichte lieber Zuflucht in der Religion. Denn sie bietet statt Zweifeln Gewissheiten. Und darum, meint Mechthild Gilzmer, haben die kritischen, mit der Logik des Westens vertrauten Autoren nur geringe Chancen, sich Gehör zu verschaffen.
Daraus ergibt sich die absurde Situation, dass einige im Maghreb geborene Autorinnen und Autoren in ihrer Heimat kaum ein Publikum finden, im Westen hingegen gefeiert Literaturstars sind. Dies werde gerade an einer Autorin wie Assia Djebar deutlich.
"Wir haben also einerseits Menschen - Frauen, Männer - die durch die Moderne, durch das von Europa importierte oder auch durch ein Studium in Europa angeeignete Wertesystem oder Denksystem Verhaltensweisen realisiert haben, die man als, ja, einen Teil der Moderne betrachten könnte. Also Gleichberechtigung, im Fall von Assia Djebar die Tatsache, dass sie in die Schule gegangen ist, dass sie als eines der wenigen Mädchen überhaupt ihrer Generation auf dem Land in die Schule gegangen ist. Das heißt, wir haben also mit Assia Djebar eine Frau, die von der Moderne profitiert hat, die aber gleichzeitig negativ betrachtet wird oder die als ein Teil dieser Moderne des Westens, der von der arabischen Welt eben zunehmend als dekadent angesehen und verurteilt wird - und sie steht sozusagen dann auch dafür und wird insofern auch nicht als jemand betrachtet, der Vorreiterin sein kann."
Anstatt sich also kritisch mit ihrer Kultur auseinanderzusetzen, konzentrieren sich viele Menschen auf die Tradition. Und deren zentraler Bestandteil ist die Religion. Daraus, berichtet die marokkanische Juristin Malika Benradi, entstehen für arabische Feministinnen ganz neue Herausforderungen. Denn eine laizistisch ausgerichtete Argumentation hat es in einem religiös dominierten Umfeld sehr schwer. Entsprechende Erfahrungen hat Benradi vor einigen Jahren gemacht, als in Marokko ein neues Familienrecht eingeführt wurde, das die Vorrechte der Männer stark eingeschränkt - und die der Frauen erheblich gestärkt hat.
"Man kann keine Veränderungen bewirken, ohne die Religion zu berücksichtigen. Denn die Bürger des Maghreb leben so sehr unter dem Eindruck des Islams, dass man ihnen kaum etwas vorschlagen kann, was nicht im Einklang mit der Religion steht. Um daher etwas zu erreichen, muss man auf die Religion zurückgreifen. Man kommt ohne sie nicht aus, wenn man ein stärker an der Gleichheit ausgerichtetes Gesellschaftsprojekt verwirklichen will."
Die Menschen leben mit dem Koran - also muss man auf seiner Grundlage argumentieren. Genau diese Erfahrung hat auch die sudanesische Menschen- und Frauenrechtsaktivistin Asha Elkarib gemacht. Seit der Machtergreifung des Präsidenten Omar Hasan Ahmad al Bashirs habe das öffentliche Leben im Sudan einen ausgeprägt religiösen Charakter angenommen. Darüber sei die Gesellschaft ausgesprochen konservativ geworden. Die Gründe dafür sind aber nicht nur religiöser Art - sondern auch politischer: Wenn ein religiös gesinnter Herrscher die Macht über die Pfründe hat - dann empfiehlt es sich für alle an ihnen Interessierte, ebenfalls ein bisschen religiös zu werden. Also werden auch die Frauen wieder religiös - zumindest all jene, die an der Macht teilhaben wollen.
"Ich unterrichte sehr häufig Frauen über die Gleichheit der Geschlechter und Frauenrechte. Und immer wieder wird mir die Frage gestellt, was die Religion dazu sagt. Unterstützt sie unser Anliegen oder nicht? Und wenn Sie dann einen Koranvers zitieren, der meine Argumente stützt, findet sich immer jemand im Saal, der andere Verse zitiert, die mich nicht unterstützen. Und das ist das große Dilemma. Es lassen sich die unterschiedlichsten Deutungen aus ihm herauslesen. Darum arbeite ich jetzt vorzugsweise mit denjenigen Theologen, die für eine Interpretation des Islams im Zeichen der Gegenwart plädieren."
Frauenrechte religiös zu begründen: Für laizistische orientierte Feministinnen ist das nicht einfach. Diese Strategie mag zwar kurzfristig weiterführen - aber auf Dauer, meint die tunesische Frauenrechtlerin Sophie Bessis, lass sich dieses Prinzip nicht durchhalten. Denn allzu schnell werde es an seine Grenzen stoßen.
"Muss man innerhalb oder außerhalb des religiösen Rahmens agieren? Ich bin überzeugt, dass sich die Gleichberechtigung der Geschlechter nur innerhalb eines säkularen Rahmens verwirklichen lässt. Darum kämpfen die meisten Frauenbewegungen in der arabischen Welt für Gleichberechtigung und eine säkulare Ordnung zugleich. Aber es gibt auch viele religiös orientierte Frauen, die angesichts der konservativen oder sogar reaktionären Deutungen des Koran für eine fortschrittliche Interpretation im Rahmen des Islam eintreten. Auch auf diese Art lässt sich sicher etwas erreichen. Mir scheint aber, dass man innerhalb des religiösen Rahmens das endgültige Ziel nicht erreicht. Denn kein religiöser Text strebt im Hinblick auf die Geschlechter die Gleichberechtigung an."
So fordern sehr viele Frauen ihre Rechte im Namen republikanischer Ideale ein. So etwa die marokkanische Soziologin Fatima Mernissi, die in ihren Büchern ebenfalls für Gleichberechtigung auf laizistischer Grundlage plädiert.
"Es ist nicht wahr, dass unsere Mütter mit unseren im Besitz der Wahrheit befindlichen Männern glücklich waren. Kann man einen Mann lieben, der immer Recht hat, weil er seine Frau zum ehelichen Gehorsam zwingt? Jeder weiß doch, dass der Gipfel der Verführung ihrer selbst unsichere Männer sind - solche also, die sich selbst noch suchen. Die arabische Jugend weiß es, und ihre Liebschaften erblühen darum nur umso schöner. Die Frauen wollen keine Predigten mehr hören. Sie sind bereit zum Kreuzzug, sie wissen, dass die Zukunft in der Abschaffung der Grenze liegt, dass das Individuum geboren ist, um respektiert zu werden, dass Differenz Reichtum bedeutet."
Doch wie weit solche Forderungen selbst in Marokko zu Teilen noch von der Wirklichkeit entfernt sind, erläutert Mechthild Gilzmer anhand einer Leerstelle im neuen marokkanischen Familienrecht: Eine Gruppe von Frauen findet dort keine Erwähnung, denn ihr Schicksal gilt als vollkommen außergewöhnlich, wenn nicht sogar geradezu undenkbar.
"Das sind Frauen, die außerhalb der Ehe schwanger werden. Für diese Frauen gibt es überhaupt keine Gesetzgebung. Sie kommen gar nicht vor insofern, weil es Sexualität außerhalb der Ehe aufgrund der Scharia gar nicht geben darf. Da es das nicht geben darf, kann es auch keine Gesetzgebung dafür geben, für diese Fälle. Diese Frauen sind die völligen Outcasts in der marokkanischen Gesellschaft. Ein großes Problem innerhalb der marokkanischen Gesellschaft ist die ungeheure Bigotterie, die Tartüfferie, das heißt diese Doppelmoral, die auf der einen Seite darauf besteht, kein außerehelicher Geschlechtsverkehr, keine außerehelich Sexualität - und gleichzeitig natürlich Sexualität à gogo praktiziert, und dabei bleiben immer die Frauen auf der Strecke."
Nicht ausgeschlossen allerdings, dass auch diese Frauengruppe irgendwann unter den Schutz der Gesetze fällt. Denn haben die Feministinnen einige ihrer Ziele erst einmal erreicht, können sie getrost auf die Macht des Faktischen setzen. Denn neue geschaffene Institutionen wie das marokkanische Familienrecht, berichte Malika Benradi, bleiben auf die gesamte Gesellschaft nicht ohne Wirkung.
"Die praktischen Folgen dieses Gesetzes werden sicher Einfluss auf die Männer, aber auch die Frauen haben. Denn ein Gesetz, das die Gleichberechtigung der Geschlechter vorsieht, wird das Verhalten und die Einstellungen der Betroffenen ändern. Und vor allem die Wahrnehmung der Gleichheit. Denn ein Mann kann seine Frau nicht mehr verstoßen, sich keine weitere Frau nehmen, ohne gegen das Gesetz zu verstoßen. So wird das Gesetz zuerst das Verhalten und dann auch die Mentalität der Bürger verändern."
Solche Projekte vor Augen, können viele arabische Feministinnen auch nicht mit der These vom "Kampf der Kulturen” anfangen, der nach Ansicht einiger Autoren zwischen der arabischen und der westlichen Welt gefochten werde. Natürlich gebe es Verhandlungsbedarf, meint etwa die sudanesische Frauenrechtlerin Aisha al Kabir - aber mehr auch nicht. Die arabische und die westliche Welt seien gleichermaßen bewegliche, in Entwicklung befindliche Regionen. Eben darum meint sie, solle der Westen auch bei der Diskussion um die Menschenrechte keine falschen Rücksichten nehmen.
"Ich beobachte mit einigem Unbehagen, dass der sich dazu bekennt, fremde Kulturen nicht durcheinander zu bringen. Aber von welchen Kulturen ist hier denn die Rede? Meine Welt ist verschieden von der meiner Mutter und noch mehr derjenigen meiner Großmutter. Wir entwickeln uns, wir verändern uns. Kulturen sind nicht heilig. Und die Logik, der der Westen folgt, untergräbt auch alle Anstrengungen für die Menschenrechte."
Das Pochen auf der eigenen Identität blockiert den Dialog eher, als dass er ihn fördert. Darum, meint die Literaturwissenschaftlerin Mechthild Gilzmer, käme es darauf an, von entsprechenden Identitätsobsessionen Abschied zu nehmen - und ebenso von einem simplifizierenden Weltbild, in dem sich die Kolonisten und Kolonisierten von einst immer noch unversöhnlich gegenüberstehen.
"Es gab also nicht nur "den bösen Kolonisator". Und das ist, da sind wir auch schon wieder beim nächsten Problem, die ganzen Schematisierungen, Feindbilder, Abgrenzungen, die dann ja auch wieder dazu dienen, die eigene Identität ja zu gewinnen. Wobei - das darf man auch nicht vergessen, es ist ja, wie gesagt, ein sehr komplexer Zusammenhang, der auch viel mit Macht, mit Hegemonie, mit Machtstreben und dem Einfluss auch von arabischer Seite, von Saudi Arabien zum Beispiel in Marokko zu tun hat. Das heißt, das ist nicht nur rein identitär, sondern auch ganz konkret ein ökonomischer Prozess, der da abläuft."
It's economy, stupid. Das gilt, in abgewandelter Weise, auf für manche der derzeit zwischen der westlichen und der arabischen Welt bestehenden Schwierigkeiten. Natürlich gibt es auch kulturell begründete Spannungen. Die aber werden aus einsichtigen Gründen gerne groß geredet. Eine der wichtigsten Leistungen der aus der arabischen Welt oder mit ihr befassten Kulturwissenschaftlerinnen ist es deshalb, mit guten Argumenten dafür zu sorgen, dass die Kultur nicht zum Popanz erhoben wird, dass sie keinen höheren Platz erhält als den, der ihr tatsächlich auch zusteht. Dafür treten in der arabischen Welt nicht zuletzt die Feministinnen ein.