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Mit Philosophie gegen Terror
Raus aus dem Strudel der Eilmeldungen

Durch unser Reden zwingen wir Verbrechen in eine Notwendigkeit, die sie nicht haben müssten, kommentiert Jan Drees. Es sei nicht erst die Tat gewesen - und dann die Timeline. Es sei exakt andersherum. Und überall werde angemahnt, die Heroisierung der Täter zu unterlassen, während gleichzeitig das Gegenteil geschehe.

Von Jan Drees | 26.07.2016
    Eine Person tippt auf der Tastatur eines Laptop Computers.
    "Durch den medialen Abwehrzauber, durch unser Reden zwingen wir Verbrechen in eine Notwendigkeit, die sie nicht haben müssten." (imago / Jochen Tack)
    Kontingent ist, was möglich, aber nicht notwendig ist. Aristoteles hat diese schöne Präzisierung über das Zufällige vor über 2.300 Jahren geliefert. Spätestens seitdem läuft das große Menschheitsprojekt der wissenschaftlichen und philosophischen Kontingenzbewältigung. Gerade in diesen Tagen des Terrors und seiner vielfältigen Deutungen lohnt sich der genaue Blick auf die Kontingenz, also den Möglichkeitshorizont – und auf die wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Lösungen, die uns zur Verfügung stehen.
    Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sprach am vergangenen Samstag hier im Deutschlandfunk von der medialen Überforderung durch die Dauerberichterstattung. Dass die Anschläge gleichsam aus dem Nichts kämen, würde die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Die dann eintretende Dauerkommunikation bezeichnete Pörksen als "eine Art Abwehrzauber".
    Mit dem sehr treffenden Begriff des "Abwehrzaubers" verwies Pörksen en passant auf den geradezu religiösen Aspekt der gegenwärtigen Terror- und Mediendebatte. Man kennt den Abwehrzauber aus vormodernen Zeiten; die selbst 2016 nicht vorbei zu sein scheinen. Ein Abwehrzauber wurde einst gesprochen, wenn ein nicht erklärbares Unglück bekämpft werden sollte. Krankheiten wurden dann erklärt mit göttlicher Rache oder der Bestrafung persönlicher oder kollektiv begangener Sünden. Erst viel später wurden Viren entdeckt, Bakterien, die Zusammenhänge zwischen Hygiene und Sterblichkeit. Gegen Krankheiten gab es früher Abwehrzauber. Heute gibt es Impfungen und Penicillin.
    Doch ausgerechnet in den Tagen des Terrors vergessen wir leichtfertig, dass auch philosophische Äquivalente zur Impfung und zum Penicillin existieren. Es gibt zivilisiertere Werkzeuge, um Kontingenz zu bewältigen, als den medialen "Abwehrzauber". Zum Beispiel die Philosophie.
    Die Kontingenz, die mit dem Terror offenbar erscheint, ist beherrschbar
    Der deutsche Philosoph Kurt Wuchterl hat 2011 ein Buch veröffentlicht, das auch fünf Jahre später noch aktuell ist. Darin analysiert Wuchterl, dass wir noch heute Kontingenzerfahrungen machen, die sich qualitativ nicht unterscheiden von der alttestamentarischen Hiobs-Geschichte. Der Glaube kaum einer Bibelfigur wurde so sehr auf die Probe gestellt, ihm so viel Unglück zugefügt, wie diesem frommen Mann. Die gute Nachricht ist, dass die philosophische Theorie in der Bewältigung dieser Kontingenzerfahrungen einen Schritt weiter ist als Hiob im Alten Testament. Man kann sich irre machen lassen oder, hier zum Beispiel Martin Heidegger folgend, im freien Fall zur Ruhe kommen. Es gibt die Möglichkeit, mit Odo Marquard Kontingenz als Bedingung unseres Daseins anzunehmen oder sich im Trost eines Soren Kierkegaard einzuhüllen. Die Kontingenz, die mit dem Terror offenbar erscheint, ist beherrschbar.
    Aber es wird einem nicht leicht gemacht. In den Medien erfahren die Terrorakte dieser Tage eine narrative Überhöhung. Die Tatsache, dass überall gewarnt wird, die Heroisierung der Täter zu unterlassen, während gleichzeitig das Gegenteil geschieht, beweist, wie wirksam der Mythos ist.
    Der Heros ist ein antikes Konzept. Und wenn sich der norwegische Massenmörder Breivik am Schatz der mythologischen Erzählungen und Zeichen bedient, stilisiert er sich selbst zum Heros, zum Helden. Selbst in Jochen Distelmeyers Roman "Otis" taucht der Massenmörder Breivik auf: als moderner Telemachos. Zugleich findet eine Selbst-Mythologisierung durch die Täter statt. Viele von ihnen, darunter eben Breivik und der Amokläufer aus München, schreiben Manifeste, es gibt das obligatorische Video der islamistischen Selbstmordattentäter usw.
    Nur deshalb kann Breivik zur Inspiration werden für jenen Münchener, der am Freitag neun Menschen wahllos erschossen hat. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der Amoklauf in München überhaupt erst möglich wurde durch die Selbst-Heroisierung Breiviks. Es gibt ebenfalls gute Gründe anzunehmen, dass die Spontan-Terrorakte von Nizza oder Würzburg auch erst möglich geworden sind durch die Heroisierung des sogenannten Islamischen Staats.
    Kontingent ist, was möglich, aber nicht notwendig ist. Durch den medialen Abwehrzauber, durch unser Reden zwingen wir Verbrechen in eine Notwendigkeit, die sie nicht haben müssten. Es war nicht erst die Tat und dann die Timeline – es ist exakt andersherum.