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Mit Schlitten und Schiffen

William Edward Parry segelte 1819 in das Labyrinth der arktischen Inseln nördlich von Amerika hinein. Die Decks seiner Schiffe waren mit Eis bedeckt, das Tauwerk steif gefroren. Parry suchte einen Seeweg um den amerikanischen Kontinent herum, vom Atlantik in den Pazifik: die Nord-West-Passage. Er kam bis 110° westlicher Länge, weiter als jemals ein Seefahrer vor ihm, dann schloss ihn das Packeis ein. Es türmte sich um die Schiffe auf und presste die knackenden hölzernen Rümpfe wie in einem Schraubstock zusammen.

Von Matthias Hennies | 01.03.2007
    Riesige Schollen kippten hoch und ragten für ein, zwei Tage wie ein Lateinersegel, grell von der Sonne beleuchtet, bis sie nach der anderen Seite umbrachen. Türme und Kegel wuchsen empor und versanken wieder, die Massen befanden sich in einer Drehbewegung, als würden sie umgepflügt. Die Seeleute kämpften Tag für Tag um das Leben ihrer Schiffe, sägten, sprengten, schleppten Eisschollen ohne Pause.

    Polarwinter. Tag aus, Tag ein, Dunkelheit. Die Sonne ist monatelang nicht zu sehen. Kälte. Bei minus 38° platzen Quecksilber-Thermometer, bei minus 50° Schnapsflaschen.

    Die Seeleute überwinterten in ihren Schiffen. Planen wurden über die Decks gespannt, außenbords häufte man Schnee an den Schiffsrümpfen auf, als Isolierung gegen die Kälte. Eingeschlossen in der endlosen Polarnacht, war die erzwungene Untätigkeit kaum zu ertragen. Manche Kapitäne brachten Musikinstrumente mit in die Arktis, andere Bibliotheken von mehreren tausend Bänden. Parry veranstaltete auf seiner nächsten Reise Theateraufführungen, um die Mannschaften zu unterhalten. In den eingefrorenen Schiffen spielte alle zwei Wochen das "Royal Arctic Theatre", komplett mit Kostümen und Rampenlicht.

    Wenn man Glück hatte, gab das Eis die Schiffe im Polarsommer wieder frei: Dann war einige Wochen Zeit, um Küsten zu kartographieren, Wetterdaten aufzuzeichnen und das Erd-Magnetfeld zu messen. Das war das Leben der Polarforscher. Und wozu?

    William Parry fuhr Anfang des 19. Jahrhunderts vier Mal in den arktischen Winter. Ihn trieb der alte Traum, dass man von Europa westwärts nach Ostasien segeln könnte – um den Kontinent herum, den Columbus für Indien gehalten hatte.

    "Wenn Sie sich vorstellen, dass man dann doch bald gemerkt hat Anfang des 16. Jahrhunderts, dass dieses neu entdeckte Land doch nicht das Indien ist und dass man von dort doch nicht die Seide, das Porzellan, die Gewürze holen kann, sondern dass man da auf ein Hindernis gestoßen war, dann war es sehr nahe liegend, dieses Hindernis zu umfahren. Dass man das nach Süden umfahren konnte, konnte relativ schnell gezeigt werden, aber das Umfahren nach Norden blieb ja ein einziges großes Rätsel. "

    Das Rätsel beschäftigte Seefahrer für Jahrhunderte, berichtet
    Reinhard Krause, Historiker im Alfred-Wegener-Institut, dem deutschen Polarforschungszentrum.

    Vor allem die britische Marine ließ sich die Aufklärung dieses Rätsels etwas kosten. Warum griff die Admiralität so tief in die Tasche?

    "Der geostrategische Punkt, dass man sagte, wir können bei Nacht und Nebel in no time die Flotte mal eben vom Atlantik in den Pazifik verlegen, das spielte keine richtige Rolle mehr. Nichtsdestoweniger war also der Entdecker-Ehrgeiz und die Idee, dass die Briten als die Herrscher der Welt zu dem Zeitpunkt auch diejenigen sein müssten, die diese Passage entdecken, diese Vorstellung wurde auch vom britischen Volk getragen. "

    Für die Briten war es eine Image-Frage – aber die Lösung fand ein Schwede. Roald Amundsen, später auch Erster am Südpol, segelte von 1903 bis 1906 durch die Nordwestpassage. Endlich hatte man den Beweis: Es gibt einen Seeweg nördlich um den amerikanischen Kontinent herum. Doch die schwierige Passage lohnt sich nicht, auch für moderne Schiffe ist sie unwirtschaftlich: Zu gefährlich ist der Weg durch das Eis im Insel-Labyrinth des kanadisch-arktischen Archipels.

    Gewaltige Nebel hingen vom Himmel wie Flausch, sie schüttelten sich wie gespannte Zelttücher, und durch ihre Risse, ihr Flattern und ihre Löcher brach die Sonne in prasselnden, klecksigen Farben. Über diesem Wirbel von taumelnden, wahnsinnigen und wie irre Kreisel rasenden Flecken verstärkte der Wind sein Register von Sekunde zu Sekunde. Jetzt ging er wie ein endloses Rasiermesser quer über das Eisfeld, über die ganze Breite, und lange Risse liefen hinter ihm her, Zickzacksprünge, Spalten, Gräben, die wie Wunden aufbrachen und deren geplatzte Lippen sogleich ein schwarzes und brodelndes Wasser herausspritzen ließen.

    Blaise Cendrars, Dan Yack

    Das erste deutsche Polarforschungsschiff stach im Juli 1901 von Kiel aus in See: Kurs Antarktis, Expeditionsleitung Erich von Drygalski. Drei andere Forschungsschiffe setzten zur gleichen Zeit Segel: ein britisches unter dem berühmten Robert Falcon Scott, ein schwedisches und ein schottisches. Alle hatten dasselbe Ziel: die Landmasse am Südpol.

    Zu dieser Zeit waren die internationalen Beziehungen schon stark durch nationalistische Töne belastet, die Großmächte trieben auf den Konflikt zu. Das Deutsche Reich forderte die britische Krone, die Herrscherin der Meere, mit einem Flottenbau-Programm heraus. Doch die vier Expeditionen konkurrierten nicht mit einander. Geographen und Geologen, Meteorologen und Geophysiker stellten sich gegen den Geist der Zeit: Auf einem internationalen Kongress einige Jahre zuvor hatten sie verabredet, die Südpolar-Forschung gemeinsam anzugehen.

    "Auf diesem Kongress 1895 in London wurde eine große Resolution verfasst, die da heisst, die Antarktis ist das letzte noch unerforschte Gebiet auf der Erdkugel, man solle doch alles daran tun, dass dieser weiße Fleck auf der Erde doch bis zur Jahrhundertwende erforscht werden sollte. "

    Vor allem wollte man endlich klären, ob das Land im äußersten Süden ein eigener Kontinent war, berichtet Dr. Cornelia Lüdecke, Wissenschaftshistorikerin an der Universität Hamburg.

    Doch die Politik versprach sich etwas anderes von dem Projekt. Als das Forschungsschiff "Gauss" offiziell verabschiedet wurde, erschien unter Hunderten begeisterter Zuschauer auch Kaiser Wilhelm II. am Kai. Für die komfortable Finanzierung der Expedition hatte sich Seine Majestät persönlich eingesetzt.

    "Es war ja vor dem Hintergrund der deutschen Flottenpolitik zu sehen, und so eine Expedition nach Süden ist dann natürlich ein gutes Aushängeschild, um die deutsche Seestellung und vielleicht künftige Seemacht damit zu unterstreichen. "

    Doch Wind und Wetter durchkreuzten des Kaisers nationalistische Hoffnungen. Der Segler kam erst an Neujahr 1902 in der Antarktis an, der Südpolar-Sommer war schon weit fortgeschritten, und der "Gauss" erreichte nur noch 66° Süd, bevor er im Packeis einfror. Die Engländer dagegen stießen bis auf 82° vor.

    Dem wissenschaftlichen Programm schadete die Überwinterung im Eis, noch vor der Kante des Festlandes, nicht. Für 52 Wochen rührte sich das Schiff nicht von der Stelle, die Wissenschaftler aber gruben Messstationen in die umgebenden Eisberge und sammelten Unmengen an Daten. Auf Schlitten-Touren erforschten sie den erloschenen Vulkan "Gaussberg", den einzigen eisfreien Fleck der Antarktis.

    Drygalski selbst maß von einem Fesselballon aus Temperatur, Luftdruck und Feuchtigkeit in 500 Metern Höhe. Aus den meteorologischen Daten konnten die internationalen Expeditionsteams schließlich die Antwort auf die entscheidende, geographische Frage ableiten:

    "Das Wichtigste waren die Luftdruck- und die Windrichtungs-Messungen, weil man daraus dann auch schließen kann, was ist rundrum, ist da jetzt ein Kontinent oder nicht? Und wenn man – wie es bei diesen vier Expeditionen gewesen ist – an den vier verschiedenen Stellen diese Messungen hat, konnte man hernach tatsächlich berechnen, dass es sich wohl um einen Kontinent von über 2000 Meter Höhe handelt. "

    Im November 1903 kehrte die erste deutsche Südpolar-Expedition nach Kiel zurück. Der Kaiser entzog den Forschern seine Huld, ihr Schiff wurde sofort verkauft. Doch die internationale Kooperation bewährte sich: Wie vereinbart tauschten die Forscher ihre Daten zu Meteorologie und Magnetismus aus. Und das deutsche Team veröffentlichte in 20 Bänden und 2 Atlanten eine Fülle neuer wissenschaftlicher Ergebnisse.

    Menschen durchquerten einen großen Teil des antarktischen Kontinents erstmals bei einer Expedition von Ernest Shackleton 1909 und beim Wettlauf von Scott und Amundsen zum Südpol um die Jahreswende 1911/12. Cornelia Lüdecke betont jedoch: Bis heute sind im Wissen über die Antarktis noch viele weiße Flecken geblieben.

    Alfred Wegener, der bekannteste deutsche Polarforscher, brach 1930 zu seiner letzten Expedition nach Grönland auf. Dort kam er auf dem Marsch durch das arktische Eis zu Tode. Sein Mitarbeiter Johannes Georgi berichtete nach der Rückkehr im Rundfunkstudio der Norag in Hamburg, wie es zu dem Unglück kam.

    "Am 15. Juli 1930 reiste ich vom Aufstiegsgletscher aus mit neun Hundeschlitten gen Osten. Das Ziel war 400 Kilometer von der Westküste, 400 Kilometer von der Ostküste, dort wollten wir unsere Station "Eismitte" aufbauen. Am 30. Juli kamen wir zum Punkt Eismitte, dort wurden die meteorologischen Apparate sofort aufgestellt und am nächsten Tag reisten die Begleiter zurück zur Küste und ich blieb allein in der Mitte des weiten grönländischen Kontinentes."

    Georgi wollte Wettermessungen im Inlandeis machen, mitten auf dem gewaltigen Eisschild, der den größten Teil der Insel Grönland bedeckt. Geplant war auch, die Dicke des Eises zu bestimmen. Schließlich sollte das Schwerefeld der Erde gemessen werden, um die Theorie von der Kontinentaldrift zu überprüfen, mit der Wegener berühmt geworden war. 1912 hatte er die revolutionäre Vermutung publiziert, dass die Kontinente einst eine einzige Landmasse bildeten, der Ur-Kontinent aber später zerbrach und die Teile nach und nach auseinander drifteten. Seine Theorie setzte sich in den sechziger Jahren als Modell der "Plattentektonik" durch.

    Die Meteorologie stand jedoch im Mittelpunkt der Grönland-Expedition, denn die Forscher wollten die Wettervorhersagen für die expandierende Luftfahrt verbessern. Reinhard Krause, Historiker des Forschungsinstituts, das heute Alfred Wegeners Namen trägt, erläutert:

    "Zu diesem Zweck hatte man vor, mit Fesselballons Vertikal-Aufstiege zu machen, der Fesselballon war an einem Stahldraht befestigt und stieg dann vertikal in die Atmosphäre auf, das Ganze war an einer kleinen Handwinde befestigt und wurde dann wieder heruntergekurbelt und man konnte dann auf dem selbst registrierenden Instrument Druck, Temperatur und Feuchte ablesen."

    Das Unglück begann damit, dass die Expedition zu spät startete - wie so oft in der Geschichte der Polarforschung.

    Durch Packeis behindert, kann man die Ausrüstung erst sechs Wochen später entladen als geplant. Der Sommer ist schon weit fortgeschritten, als Johannes Georgi ins Inland aufbricht, um die Station "Eismitte" einzurichten. Im September stößt der Gletscher-Experte Ernst Sorge zu ihm. Mit einer Kanne Petroleum und einer Kiste Proviant ausgestattet, warten die beiden, dass Wegener das restliche Material für die Überwinterung bringt. Doch der Oktober vergeht, und sie sind immer noch allein.

    "Nun plötzlich, während wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, mitten in einer ungeheuren Kälteperiode mit Temperaturen bis minus 54°, kommt noch Professor Wegener mit Dr. Löwe und dem Grönländer Rasmus. Sie kommen ohne Nutzlast, 2000 Kg Nutzlast haben sie unterwegs abwerfen müssen – aber Professor Wegener kommt, um sich zu überzeugen, ob wir überwintern können. "

    Wegener hat die Ausrüstung zurücklassen müssen, weil seine hoch modernen Propellerschlitten im Neuschnee stecken geblieben sind. Er hat dann auf Hunde-Schlitten zurückgegriffen - aber:

    "Es kam hinzu, dass diese große Schlitten-Expedition nach Eismitte im Oktober 1930 davon abhing, dass also auch die Eingeborenen mit teilnahmen. Die hatten aber dann zunehmend Bedenken, und diese Bedenken waren gerechtfertigt, wie man später erkennen konnte, und tatsächlich ist es so, dass dann bei Kilometer 153 die Expedition gegen Null ging, es waren nur noch drei Personen da, Alfred Wegener, der Physiker Löwe und der Grönländer Villumsen. "

    Autor XIII
    Die drei erreichen die Station am 31. Oktober. Ihre Kollegen dort erklären, das sie sich auch ohne Nachschub einer Überwinterung gewachsen fühlen. Wegener ist zufrieden. Er lässt den Physiker Löwe, der sich die Zehen erfroren hat, bei Georgi und Sorge zurück und bricht schon am 1. November zusammen mit Villumsen wieder auf. Es ist sein 50. Geburtstag.

    "Und dann reiste er beschleunigt zurück, denn er wusste, wie viel davon abhing, dass er die wissenschaftlichen Arbeiten der West-Station einrichtete und dass er auch im nächsten Jahr uns neuen Proviant und Entsatz schaffen sollte. So sahen wir ihn mit Rasmus wegziehen – und wir ahnten nicht, dass wir ihn zum letzten Mal gesehen haben würden. "

    "Die beiden waren aber wirklich durchtrainiert und härtegetestet und hatten die Idee, sie würden den Rückweg gut schaffen, zumal also der Wind von hinten kam und sie ja im weitesten Sinne bergab fuhren. Und tatsächlich sind sie bei Kilometer 191 gescheitert – und an dieser Stelle wurde im darauf folgenden Jahr Wegeners Grab gefunden. "

    Wahrscheinlich erlag Wegener infolge der Anstrengung einem Herzschlag. Was sich genau abgespielt hat, bleibt ein Rätsel, denn auch Rasmus Villumsen sah man nie wieder. Er ist für immer in der unwegsamen Weite der Schneewüste verschwunden, vermutlich weil er auf dem letzten Stück zur Küste die Richtung verloren hat.

    Im folgenden Frühjahr wurden zwei der Forscher von "Eismitte" abgezogen. Nur Georgi hielt weiter in der brutalen arktischen Ödnis aus, bis die Station im August 1931 geräumt wurde.

    "Ich blieb wiederum allein zurück, diesmal für mehr als zwei- einhalb Monate und ich darf wohl sagen, ich hoffe, es war die schwerste Zeit meines Lebens. Es war fürchterlich, und ich glaubte manchen Tag, dass ich wahnsinnig werden würde. Ich war im ganzen vier Monate auf dem Inlandeis und das Inlandeis allein – ist fürchterlich."