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Mit Schwung ins 21. Jahrhundert

Mit "La página en blanco" wagt sich Gerard Mortier - seit 2010 Intendant am "Königlichen Theater" in Madrid - auf neues Terrain. Gestern wurde die Oper der zeitgenössischen spanischen Komponistin Pilar Jurado uraufgeführt.

Von Frieder Reininghaus | 13.02.2011
    Anfang der Oper "La página en blanco" von Pilar Jurado

    Bedeutungsschwere Worte schweben in den Raum. Prolog: Der Chor bekundet aus dem Off, jedermann sei selbst seines Glückes Schmied. Aber da lachen ja die Götter. Denn die Zukunft ist ein weißes Blatt. Und ansonsten geht es erst einmal um eine Geschichte, die ein wenig spanisch-surreal vorkommt.

    Zum Vorspiel von "La página en blanco" zeigt sich so etwas wie ein Klappaltar auf der Bühne, zunächst geschlossen und auf alte Schrift verweisend. Vielleicht handelt es sich um Worte aus der Offenbarung Johannis, aus deren 13. Kapitel einzelne Sentenzen immer wieder vom Chor eingestreut werden.

    Das von Titus Engel effektiv gesteuerte Orchester legt sich bereits kräftig ins Zeug, indem sich die Altarflügel öffnen, auf denen alsbald Claudia Rohrmosers Video-Animationen eine von Hieronymus Bosch inspirierte Fabeltierwelt kriechen, flattern und picken lässt, wird ein steriles weißes Zimmer sichtbar. Der von Alexander Polzin konzipierte unwirkliche Raum funktioniert theatertechnisch wie ein Schalltrichter, er ist extrem "sängerfreundlich".

    In diesem Appartement, dessen eine Wand viele ausgestopfte Vögel schmücken, wird der Komponist Ricardo von der Stille gepeinigt. Seine Ex-Frau kommt und lässt zwei Möbelpacker das mitnehmen, was sie haben möchte. Freund Xavi tröstet ihn über sie und mysteriöse E-Mails hinweg, in denen jeweils das enthalten ist, was Ricardo gerade gearbeitet hat – und dazu eine weiße Seite. Der Operndirektor Gérard Musy drängt auf Ablieferung des Werks. Er bringt die Sopranistin Aisha mit, die unverzüglich Ricardos Muse wird und genauso irrational über Arien singt, wie Sängerinnen eben im wirklichen Musikleben reden. Aber deshalb bekommt sie keine Gewissensbisse, sondern eben wegen Ricardo: Sie fürchtet, ihn zu betrügen.

    Arie Aisha, aus: "La página en blanco" von Pilar Jurado

    Pilar Jurado hat sich eine große Partie "auf den Leib" geschrieben, in der sie genau das vorführt, was ihr liegt: vor allem emotionsgestützte Kantilenen. Im Übrigen hat die Dirigentin, Komponistin und Musikwissenschaftlerin für gut zwei Stunden Theatermusik gesorgt, die jeweils situationsbezogen auf verschiedene Schichten der Musikgeschichte zurückgreift. Neben einem erweiterten Spektrum tonaler Harmoniefolgen für ihre "Sprachmelodien" finden sich in ihrer Partitur komplexere Akkordkonstruktionen, die auf serieller Grundlage konstruiert wurden. So ergeben sich Anklänge an traditionelle spanische Musik, Anspielungen auf Renaissance-Musik oder an den farbenfrohen Orchestersatz Olivier Messiaens.

    Musik für einen Plot, in dem es um den Erschaffungsprozess einer Oper geht, in welchen sich auch ein Gesangscomputer in Menschengestalt einmischt. Der Sound scheut weder das musikantische Geklöppel noch gelegentlich den starken Weihrauchdunst neoreligiöser Tonalität, der seit Jahren ganz Europa heimsucht. Vom Dnjeper bis zum Guadalquivir.

    Aus der siebten Szene der von Pilar Jurado selbst konzipierten Handlung, der Zweitletzten, erschließt sich, dass der Komponist Ricardo einen Unfall gehabt haben muss. Der Zeitpunkt und das Ausmaß seines Gehirntraumas bleiben unklar. Aber die Bedeutung der wiederkehrenden weißen Seite erschließt sich. Freund Xavi, Computerexperte und offensichtlich auch Neurochirurg, zapft dem im Koma liegenden Tonsetzer das Gehirn an und verdichtet das, was dort womöglich als Fantasie präformiert war, zur musikalischen Materie. Die lässt sich als Partitur drucken.

    Dieser Gedanke, der an die alten Alchemisten erinnert, die aus Stroh oder Urin Gold machen wollten, begründet den heiteren Charakter von Jurados Oper, die David Hermann auch schlicht und schön brav inszenierte. Dass die Komposition am Ende dann noch mit tieferem religiösem Sinn und medizinethischer Moral aufgepfropft wurde, ist ihr weniger gut bekommen. Vielleicht hätte die attraktive Pilar doch nicht so viel selbst machen sollen bei der Erschaffung ihres Gesamtkunstwerks, sondern wenigstens einen umsichtigen Dramaturgen neben sich dulden mögen.