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Mit struktureller Strenge

Noch heute zählt die sogenannte "zweite" Wiener Schule für viele Musikhörer zur "modernen" oder zeitgenössischen Musik, obwohl die bahnbrechenden Werke Arnold Schönbergs und seiner beiden Schüler Anton Webern und Alban Berg inzwischen ein Jahrhundert auf dem Buckel haben. Der radikalste der drei war Webern, der heute vor 125 Jahren in Wien geboren wurde.

Von Dietmar Polaczek | 03.12.2008
    Wer dieses symphonische Gedicht nicht kennt, denkt eher an Richard Strauss als an Anton Webern. Die Wiener Schule um Arnold Schönberg begann romantisch, bevor sie als Avantgarde das Publikum schockierte. Weberns Idyll "Im Sommerwind" von 1904 ist ein Frühwerk, das der Schöpfer keiner Opuszahl würdigte. Er ließ erst die Stücke ab 1908 gelten, wählte streng und zählte, was er für gut hielt, bis zum Opus 31. In diesem schmalen Katalog unheimlich verdichteter Werke gibt es ein Extrem: die 6 Bagatellen für Streichquartett an der Schwelle zur Zwölftonmusik, alle zusammen kaum drei Minuten lang. Es sind die kürzesten Werke der Musikgeschichte. Nur zwanzig Sekunden dauert der zweite Satz, gespielt vom LaSalle-Quartett.

    "Jeder Blick lässt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen. Aber einen Roman durch eine einzige Geste, ein Glück durch ein einziges Aufatmen auszudrücken: solche Konzentration findet sich nur, wo Wehleidigkeit in entsprechendem Maße fehlt."

    schrieb Arnold Schönberg zu den Bagatellen. Walter Levin, Primarius des legendären LaSalle-Quartetts, ergänzt:

    "Es ist so viel reingepackt in diese Musik an komplexen Zusammenhängen, wenn man die alle hören will, müsste man die Stücke einfach ganz langsam zuerst mal spielen, so dass sie eine Stunde dauern anstatt nur zehn Minuten, damit man das alles hören kann, was da vorgeht."

    Anton Webern wurde am 3. Dezember 1883 als Sohn eines Bergbauingenieurs in Wien geboren, studierte dort von 1902 bis 1906 Musikwissenschaft, nahm ab 1904 Kompositionsunterricht bei Arnold Schönberg und wurde mit Alban Berg und Theodor W. Adorno einer von dessen berühmtesten Schülern. Sein Leben verdiente er sich als Dirigent und Chorleiter, der im Wiener Arbeiter-Singverein schwierigste Chorwerke einzustudieren verstand.

    In der Entwicklung zur Atonalität, schon von Richard Wagner angebahnt, überholte Webern sogar seinen Lehrer Schönberg, wie ein postum entdecktes Streichquartett von 1905 beweist. Wie Schönberg wandte sich auch Webern später von der freien Atonalität zur Organisation der Töne nach strengen Regeln: zur Zwölftonmusik oder Dodekaphonie, so in den Klaviervariationen opus 27, gespielt von Maurizio Pollini.

    Der Komponist Ernst Krenek war einer der ersten, die dafür den Begriff punktuelle Musik verwendeten:

    "Sicherlich war es dieser punktuelle Charakter, auf den die frühe Schockwirkung von Weberns Musik zurückgeführt werden kann."

    Die konsequente Organisation nicht nur der Tonhöhen, auch der Tondauern und Klangfarben wurde für die serielle Musik der sechziger Jahre zum Vorbild. Igor Strawinsky fasste die komplexen Kristallgitterstrukturen in ein poetisches Bild:

    "Zum völligen Misserfolg in einer tauben Welt der Unwissenheit und Gleichgültigkeit verurteilt, blieb er unerschütterlich dabei, seine blitzenden Diamanten zu schleifen, von deren Minen er eine so vollkommene Kenntnis hatte."

    Zur tauben Welt gehörten die Nationalsozialisten, die Weberns Musik verboten. Der Komponist ging schweigend in die innere Emigration und in die Berge.

    In seinen Bergen starb er, zwar von den Nazis verfemt und verboten, aber zu Kriegsende ein Opfer der Befreier. 1945 wurde er im salzburgischen Mittersill von einem amerikanischen Soldaten bei einer Razzia versehentlich erschossen.

    Die blitzenden Diamanten seiner Musik gewinnen seither an Leuchtkraft, sein Opus 1, die Passacaglia für Orchester, ist wohl das am häufigsten gespielte Werk.