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Mit und ohne Musharraf

Pakistans nationale Einheit steht auf dem Spiel. Eine Schlüsselrolle im Machtkampf spielen die Militärs, die seit Jahrzehnten einen großen Einfluss im Staat haben. Die Tradition der Armee reicht bis in die Kolonialzeit zurück.

Von Marc Thörner | 19.11.2007
    Blütenweiße Tischtücher, silbernes Besteck, Diener hinter den Stühlen und auf einem kleinen Podest ein Militärorchester, das paschtunische Weisen spielt: In der Offiziersmesse des pakistanischen Frontier Corps sieht es aus, als hätte sich seit 100 Jahren nichts geändert. Ein zutreffender Eindruck, meint der gastgebende Major.

    "Ich würde sagen: Zu 80 Prozent folgen die pakistanischen Streitkräfte den Traditionen der britisch-indischen Armee. Vor 100 Jahren meinte man: Wer immer den Khyber-Pass beherrscht, beherrscht auch Delhi. Das stimmt. Wenn man von der afghanischen Seite eine Invasion vorhat, muss man nur den Khyber-Pass überwinden, und anschließend ist die Bahn frei."

    Dort, wo das Frontier Corps eingesetzt ist, an der pakistanisch-afghanischen Grenze, heißen seine offiziellen Gegner heute zwar El Kaida und Taliban. Aber der Khyber-Pass ist noch immer der Khyber-Pass, das Hinterland noch immer das Hinterland, gekämpft wird noch immer gegen die Stämme. Und verteidigt wird, folgt man dem pakistanischen Innenminister Aftab Khan Sherpao, noch immer die Zivilisation.

    "General Pervez Musharraf hat die Grundhaltung eingenommen, sich an der internationalen Koalition zu beteiligen. Wir wollen keinen Terrorismus in unserem Land. Wir wollen nicht, dass unschuldige Menschen getötet werden. Deshalb versuchen wir den Menschen in den Stammesgebieten deutlich zu machen, dass der Krieg gegen den Terror kein religiöser Krieg ist. Denn das haben viele bisher anders gesehen, und die ausländischen Elemente, die sich in Pakistan befinden, haben das entsprechen gepredigt. Wir sagen ihnen: Was für einen religiösen Krieg kämpft ihr? Gegen wen? Gegen andere Muslime? Gegen euere eignen Leute, gegen euer eigenes Volk?"

    Überbevölkerung, Gesundheitsnotstand, Arbeitslosigkeit und Elend - Pakistans Metropolen wirken weniger wie Städte und mehr wie gigantische Agglomerationen von Dörfern, zwischen denen sich ein chaotischer Verkehr hindurchschiebt. Sobald man in die Cantonements einfährt, ändert sich das Bild. Diese von den Briten errichteten autarken Ansiedlungen befinden sich stets außerhalb der Stadtgrenzen. Alles, was es im übrigen Land gibt, gibt es hier auch - nur schöner, besser, sauberer und vor allem funktionierend: breite Alleen, kleine parkartige Enklaven, langgestreckte Bungalows aus Ziegeln und mit arkadenartigen Vorbauten. An manchen liest der Betrachter staunend das Baujahr, zum Beispiel 1854.

    "Die britischen Cantonements","

    schreibt Winston Churchill, der 1897 als junger Offizier in Indien stationiert war,

    ""liegen, einem alten und unveränderlichen Brauch zufolge, fünf bis sechs Meilen von den volkreichen Städten, die sie bewachen, entfernt. In dem Raum dazwischen sind die (einheimischen) Regimenter stationiert. Die britischen Truppen sind in weiträumigen, kühlen, von Kolonnaden umgebenen Kasernen untergebracht. Vorzügliche Straßen, endlose Alleen mit Doppelreihen von Bäumen, reichliche Zufuhr von frischem Wasser, großartige Diensträume, Lazarette und Verwaltungsgebäude, umfangreiche Exerzierplätze und Reitbahnen sind kennzeichnend für diese Daseinsmittelpunkte ansehnlicher weißer Gemeinwesen."

    Heute verfügt die pakistanische Armee zwar über Atomwaffen. Zugleich vermittelt sie jedoch den Eindruck eines vor 150 Jahren aufgezogenen Uhrwerks, das noch immer zuverlässig seinen Dienst verrichtet. In den Cantonements spielt sich das Leben der Offiziere zwischen Dienst, Sport und Clubnachmittagen ab. Die Militärs und ihre Angehörigen leben wie in einer Parallelgesellschaft. Eigene Krankenhäuser und eigene Schulen bewahren sie vorm Bildungs- und Gesundheitsnotstand, dem der zivile Rest der Bevölkerung ausgesetzt ist. Für Dr. Shaschahan, Leiter der Fakultät für Medien an der Universität von Peshawar, ist diese Militärwelt seit seiner Kindheit ein vertrauter Anblick.

    "Das ist die Gewohnheit. Die Menschen haben sich daran gewöhnt. Tief im Kopf haben sie das akzeptiert, diese Teilung von der Stadt. Das Militär hat hier eine Geschichte in diesem Land, 1947 wurde Pakistan unabhängig von dem indischen Subkontinent, und seit 1958 haben wir immer wieder Militär an der Macht. Das heißt, die Leute haben das direkt oder indirekt akzeptiert, weil unsere politischen Parteien auch nicht richtig die Rolle gespielt haben, die sie spielen sollten."

    Gedacht und konzipiert war Pakistan als ein Musterland der islamischen Moderne. Nach dem Abzug der Briten und der Trennung von der mehrheitlich hinduistischen Bevölkerung des Subkontinents, so die Vision des Staatsgründers Mohammed Ali Jinnah, würden die Muslime ihre verschüttete Kreativität explosionsartig freisetzen. Wirtschaft, Kultur und Wissenschaften würden erblühen. Gebildet aus den Regionen Pandschab, Sindh, Kaschmir, Belutschistan und den nordwestlichen Grenzprovinzen, würde die gemeinsame Religion, das gemeinsame Fortschrittsideal die unterschiedlichen Volksgruppen zusammenhalten. Pakistan, das war für Jinnah die Hoffnung für die gedemütigten Muslime der Welt. Aber es kam anders, sagt Arnold Heredia vom in Karatschi ansässigen Komitee für Frieden und Gerechtigkeit:

    "Pakistan ist fest im Griff der Feudalherren, ob in der Provinz Sindh, ob in Belutschistan. In den nordwestlichen Grenzprovinzen gibt es zwar kein Feudal-, aber ein Stammessystem. Diese Feudalherren kontrollieren das Parlament. Und diese Gruppe wiederum unterhält Beziehungen in die Verwaltung. Bei so einem System, wie soll die Demokratie da Wurzeln schlagen?"

    Hinter den modernen Institutionen Parlament, unabhängiger Gerichtsbarkeit, hinter Wahlen, und politischen Parteien, so Arnold Heredia, scheinen die ländlichen Feudalstrukturen durch.

    "Nehmen Sie Nawaz Sharif, kein klassischer Großgrundbesitzer, sondern Industrieller. Aber er hat sich stets nach Gutsherrenart verhalten. In seinen eigenen Unternehmen hat er nicht einmal Gewerkschaften zugelassen, er hat den Arbeitern stets ihre grundlegenden Rechte verweigert. Und dabei ging es um nichts Außerordentliches, sondern um die grundlegenden Rechte. Und was Benazir Bhutto betrifft, gibt es zahlreiche Anschuldigungen, diverse seriöse Zeitungen haben in Sachen Korruption über sie und ihren Ehemann recherchiert. Es ging darum, dass sie Geld aus der Staatskasse zur Förderung ihres eigenen Images verschwendet haben oder für unnötige Auslandsreisen mit einem übertrieben großen Hofstaat. Ihre Politik bestand im wesentlichen darin, ihr Bild gegenüber dem Ausland zu pflegen, das Bild einer progressiven Premierministerin."

    Seit 1958 putschte die Armee immer wieder, versuchte, sich als Retter vor der Gier der Feudalkaste, als Garant von Jinnahs Fortschrittsideal zu profilieren. Durch schlecht vorbereitete Feldzüge führte sie Pakistan in eine Niederlage gegen Indien, eine Niederlage gegen China und verspielte mit der blutigen Unterdrückung eines Aufstands den östlichen Landesteil Bengalen - heute als Bangladesch ein unabhängiger Staat.

    Als Alternative bot sich bald schon eine andere mächtige Kraft an: die Jamaat Islami, die Partei Maulana Maududis, eines der Vordenker des modernen Islamismus. Beide Systeme, Militär und Religiöse, schienen einander zunächst wie Antipoden gegenüberzustehen. Doch 1977 begann die für Pakistan folgenreichste Entwicklung seiner jüngeren Geschichte: die Annäherung der scheinbar so gegensätzlichen Kräfte, der Islamisten und der Militärs. 1977 putschte der strengreligiöse General Zia ul Haq gegen Premierminister Zulfiqar Ali Bhutto, den Vater der heutigen Oppositionellen Benazir Bhutto. Um sich vom betont weltlichen Stil Premierminister Bhuttos abzuheben, öffnete Zia ul Haq die Armee für religiöse Tendenzen.

    Die Verbindung zwischen Religiösen und Armee verfestigte sich Ende der 70er Jahre, räumt heute Generalmajor Shaukat Sultan ein, Präsident Musharrafs Armeesprecher:

    "Als die Sowjetunion 1979 in Afghanistan einfiel, stand die ganze Welt dagegen auf und verurteilte diese Invasion. Die internationale Gemeinschaft war der Auffassung, dass der Aufstand des afghanischen Volkes gegen die Sowjets unterstützt werden sollte. Ausgangsbasis dafür war Pakistan. Damals kamen die freiwilligen Kämpfer aus der ganzen Welt, vor allem der islamischen Welt hierher. Das Hauptkontingent stellten die Afghanen selbst, aber viele Pakistanis beteiligten sich ebenfalls am Kampf. Damals wurde das religiöse Element gezielt benutzt, um diese Leute zu ihrem Kampf gegen die sowjetische Besatzung zu motivieren."

    Nach dem erfolgreichen Krieg gegen die Sowjets brachen unter den "freiwilligen Kämpfern", den Mudschaheddin, erbitterte Flügelkämpfe aus. Statt die Allianz mit den Gotteskriegern zu beenden, beging die pakistanische Regierung damals einen aus heutiger Sicht unkorrigierbaren Fehler. Und sie beging ihn in enger Abstimmung mit ihrem großen Verbündeten, den USA. Alles begann mit der US-amerikanischen Idee, durch das von sowjetischem Einfluss befreite Territorium turkmenisches Erdöl bis zum Meer zu transportieren. Der Politologe und Pakistan-Spezialist Munir. D. Ahmed:

    "Amerikanische Erdölgesellschaften hatten diesen Plan entwickelt. Der pakistanische Innenminister und der amerikanische Botschafter, die sind gemeinsam in einem Helikopter bis nach Herat geflogen. Sie haben die ganze Route inspiziert, wo dann die Pipeline gebaut werden soll. Das heißt, die waren von den Erdölgesellschaften, die ja die Route sehr genau ausgekundschaftet hatten, hinbestellt worden: Kommt her und seht, was wir vorhaben. Und wie könnt ihr uns garantieren, dass hier Ruhe und Ordnung herrscht, damit wir diese Pipeline auch bauen können? Und plötzlich tauchte eine Gruppe von jungen Schülern der Medressen in Pakistan auf. Die sind vom pakistanischen Militär dort hingebracht worden."

    Gemeinsam förderten die USA und Pakistan die Taliban. Für Pakistan waren sie bloß Marionetten, um die eigene Hegemonie über das Nachbarland Afghanistan zu festigen. Für Washington stellten sie eine Ordnungsmacht dar und ein Instrument, um im Machtkampf unter den Mudschaheddin die iranfreundlichen Fraktionen einzudämmen. Was damals ein genialer Schachzug schien, ist nach dem 11. September 2001, gelinde gesagt, politisch unkorrekt. Gemäß der heutigen offiziellen Linie bestreitet General Musharrafs Armeesprecher Shaukat Sultan vehement, dass Pakistan mit den Taliban irgendetwas zu tun gehabt hat:

    "Alles, was die pakistanische Armee an Unterstützung geleistet hat, endete schon 1988. Damals zog die Sowjetunion sich zurück. Also hörte auch unsere Hilfe für die Afghanen auf. Die Taliban-Bewegung ist nicht von irgendjemandem geschaffen worden. Die Taliban-Regierung entstand als eine Reaktion auf einen zehnjährigen Bürgerkrieg in Afghanistan."

    Im Krieg gegen die neuen Taliban steht das Frontier Corps an vorderster Front. Seine Mannschaften rekrutiert es traditionell aus den paschtunischen Stammeskriegern der Grenzregion. Uniformen, Protokoll und Auftreten der Offiziere sind noch immer betont britisch. Doch je mehr der gastgebende Major am Tisch der Offiziersmesse ins Reden kommt, umso deutlicher zeigt sich das jahrelange politische Doppelspiel: mal Unterstützung des Dschihadismus, mal dessen Eindämmung. Dieses Wechselbad ist an den Offizieren der Truppe nicht spurlos vorübergegangen:

    "Wenn Sie die Menschen in diesem Grenzgebiet hier fragen würden, wären Sie erstaunt. Die interessieren sich nicht für Osama Bin Laden, die interessieren sich nicht für Präsident Bush. Die fragen sich eher, was sie heute essen können. Die haben nicht mal Brot zu essen, so arm sind sie. Die haben seit Tagen kein Bad genommen. Die haben keine Schuhe an den Füßen. Die haben nichts, um sich im Winter vor der Kälte zu schützen. Und all diese Leute haben jetzt auch noch unter der fremden Besatzung Afghanistans zu leiden."

    Die verbündeten ISAF-Truppen in Afghanistan - Besatzungstruppen? Wie verträgt sich diese Ansicht mit dem Antiterrorkampf, bei dem das Frontier Corps eingesetzt ist? Sollen die pakistanischen Soldaten die El-Kaida-Leute nicht den Amerikanern zwecks Vernichtung über die Grenze entgegentreiben? Der Major des Frontier Corps macht aus seinem Unmut keinen Hehl:

    "Wenn ich einen Amerikaner umbringe, dann wird es heißen, ich sei ein Terrorist. Aber wenn eine amerikanische Bombe jemanden von meiner Familie umbringt, dann ist das ein Kollateralschaden. Auf diese Fragen sollten uns die Verantwortlichen Antworten liefern. Wie viele Menschen sind am 11. September 2001 in den beiden Türmen des World Trade Centres gestorben? 3000. Und für diese 3000 Menschen, wie viele Menschen bringen die USA nun im Irak und in Afghanistan um? Wie hoch ist der Preis für diese 3000 Menschenleben? Millionen? Milliarden anderer Menschenleben? Ich sage das nicht, weil das Muslime sind. Aber sie sind auch Menschen, egal in welchem Land der Welt sie leben, ob in Kuba, Russland, Pakistan oder in anderen Ländern der Welt."

    Diese Stimmungslage unter den Offizieren ist nicht gerade überraschend. Schließlich, so der Politologe Munir D. Ahmed, hat das Frontier Corps, ja hat die gesamte pakistanische Armee noch vor wenigen Jahren die Taliban trainiert und mit Waffen ausgerüstet.

    "Die Taliban sind ihre Zöglinge. In der pakistanischen Armee gibt es nach wie vor, obwohl mehrere Generäle und mehrere hohe Offiziere auf Veranlassen der Amerikaner entlassen worden sind oder versetzt worden sind - oder man hat sie ins Privatleben, in Zivilberufe versetzt, aber trotzdem scheint es immer noch unter den pakistanischen Militärs Leute zu geben, die mit den Taliban sympathisieren. Überhaupt mit der Idee sympathisieren, einen islamischen Staat zu haben."

    Musharrafs Sprecher, Generalmajor Shaukat Sultan, bemüht sich, Pakistans Bündnisfähigkeit hervorzuheben:

    "Obwohl die Pakistanis sehr offen, obwohl sie ausgesprochen religiös sind, sind sie zugleich doch sehr gemäßigt. Und das gilt auch für die Armee. Jeder dort hat gemäßigte Ansichten. Wer immer extremistische Ansichten vertritt, hat in der pakistanischen Armee keinen Platz."

    Inzwischen machen sich die neuen Taliban nicht länger nur in den autonomen Stammesgebieten breit. Sie sind ins Swat-Tal vorgedrungen - und das gehört zum pakistanischen Kernland. Mullah Fazlullah, ein religiöser Führer, ist dort dabei, einen Taliban-ähnlichen Gegenstaat aufzubauen. Für Pakistan geht es nicht mehr um das Fortschrittsideal Mohammed Ali Jinnahs. Auch nicht um den Ausbau seines nuklearen Arsenals, um Stärke gegenüber Indien, um den Besitz des umstrittenen Kaschmir-Gebietes. Für Pakistan geht es nur noch um die eigene nationale Einheit, um den Fortbestand des Staates. Und ob die Armee da hilft oder ob sie eher schadet? Viele grübeln da nicht weniger als Dr. Schaschahan, Leiter der Fakultät an der Universität von Peshawar:

    "Ich habe Militär immer gehasst, aber es kam eine Zeit, dass Menschen wie ich und andere auch Pervez Musharraf irgendwie nicht unterstützt, aber trotzdem... . Vielleicht war das mein Fehler, dass ich hundertprozentig der Militärregierung die Unterstützung zugesagt habe."