Noltze: Das Forum läuft ja unter der Überschrift "Mit Wahrheit zum Erfolg?" Die Provokation des Titels liegt in der Voraussetzung, dass wer Erfolg haben will, lügen muss. Und die Neuheit würde darin liegen, dass man mit Wahrheit vielleicht auch ans Ziel kommt. Ist das schon Philosophie, oder nur Unternehmensphilosophie?
Lissmann: Na ja, das ist zuerst einmal, ich würde sagen, im generellsten Sinn, politische Philosophie. Es gibt ja in der Politik seit Platon und seinem großen Werk über den Staat die Frage, ob etwa der Politiker dem Volk immer die Wahrheit sagen muss, oder ob es nicht zu einem gleichsam politisch drakonischen Verfahren gehört, zum Besten des Volkes, wie das ja immer genannt wird, mit unter mit der Wahrheit etwas zurückhaltender umzugehen und gleichsam aus pädagogischer Sorge das eine oder andere Täuschungsmanöver zu riskieren. Machiavelli, der Gegenstand des Vortrages sein wird auf dieser Tagung, hatte das in seinem Buch über die Arbeitsweise des Fürsten ja ganz deutlich formuliert, das List und Lüge, wenn es denn zum Wohl des Staates nötig sein sollte, sehr wohl in Anspruch genommen werden kann, als Strategie. Und wer sich die Diskussion der letzten Jahre auch in der internationalen Politik ansieht - man denkt etwa an den Irakkrieg und die, sagen wir mal gelinde formuliert, Halbwahrheiten, die da verbreitet worden sind, um diesen Krieg propagandistisch vorzubereiten - dann wird man wohl zu dem Schluss kommen, dass das Arbeiten mit Halbwahrheiten, mit Gerüchten, vielleicht sogar auch tatsächlich Lügen, nach wie vor ganz groß zum Geschäft von Politik und vielleicht auch von Wirtschaft gehört. Und wir wollen in der Tat die Frage stellen, ob das so sein muss, oder ob die wohlmeinende Position der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit die besten Erfolgsgarantien darstellen in dieser Welt, in der wir ja von Inszenierungen aller Art und von Täuschungs- und Vortäuschungsmanövern aller Art überflutet werden, ob das noch irgend einen Stellenwert haben kann?
Noltze: Es sind ja auch Journalisten dabei, also auch Günter Wallraff als Repräsentant dessen, was man Enthüllungsjournalismus nennt und ein Aufdecker von Wahrheit unter zu Hilfenahme von Lügen, also zum Beispiel falscher Identität.
Lissmann: Ja, richtig. Das ist ja auch der Grund gewesen, warum wir ihn gebeten haben teilzunehmen, weil er eine der interessantesten und raffiniertesten Strategien gewählt hat und genau diese Doppeltheit zum Ausdruck kommt, denn bei ihm müsste man ja sagen "Mit der Lüge zum Erfolg" oder noch pointiert "Mit der Lüge zur Wahrheit".
Noltze: Ist das nicht eine schöne Erinnerung an die Zeit, als die Wahrheit noch geholfen hat? Denn Wallraff hat ja tatsächlich etwas bewirkt. In der Süddeutschen Zeitung heute wird einmal kurz aufgezählt, wie viele Wahrheiten der aktuellen amerikanischen Regierung schon nachgewiesen wurden, peinliche Wahrheiten. Neu ist, es macht ihr nichts mehr aus. Die Enthüllung wird einfach ignoriert. Was nutzt die Wahrheit?
Lissmann: Ich denke, dass das auch ein Phänomen ist, über das man nachdenken muss. Deshalb kommen wir auch zusammen in Lech, dass es in der Tat so erscheint, dass die Strategie der Fehlinformation, der Täuschung, der Verstellung und vielleicht auch wirklich der nackten Lüge, wenn sie entdeckt, wenn sie enthüllt werden, keinerlei Gestus der Empörung oder der Entrüstung mehr hervorrufen. Das heißt, wir haben uns offensichtlich daran gewöhnt, oder befinden uns auch in einer gewissen inneren Übereinstimmung damit, zu wissen, dass gelogen wird, dass im großen Stil gelogen wird und meine These ist ja, dass das durchaus etwa einer Einsicht von Friedrich Nietzsche entspricht, dass wir ohne Täuschungen gar nicht leben könnten, ja das wir sogar eine gewisse Lust am Täuschen und am getäuscht werden entwickeln. Das einzige, was uns vielleicht wirklich noch stört ist, wenn wir allzu plump belogen werden. Also ich denke, dass die Kritik an den großen medialen Lügeninszenierungen unserer Zeit eben nicht mehr darauf hinausläuft, dass nicht die Wahrheit gesagt wurde, sondern wir ärgern uns, wenn das zu plump war, zu leicht durchschaubar war, zu vordergründig war.
Noltze: Schlechte Aussichten für das Projekt "Aufklärung" würde ich sagen.
Lissmann: Ich denke, das ist eine der Hauptfragen unserer Zeit, die Diagnosen, die davon ausgehen, dass das Projekt der Aufklärung wenn nicht gescheitert, dann doch in gewisser Weise im Sande zu verlaufen droht. Das ist natürlich eine Provokation für die Philosophie, denn die Philosophie als solche, oder die Wissenschaft im Allgemeinen, das trifft ja auf die empirische Naturwissenschaft genauso zu, ist natürlich aufgrund ihrer eigenen Methoden und ihres eigenen Ethos auf Wahrheit verpflichtet. Und das war ja auch der Pathos der Aufklärung, dass diese Wahrheit Hand in Hand gehen sollte mit einer gewissen Mündigkeit der Menschen, mit dieser Wahrheit auch umzugehen und diese Wahrheit selbst hervorzubringen und auch auszuhalten. Da muss man schon sehr ernsthaft drüber nachdenken, ob dieses Programm der Aufklärung unter den gegenwärtigen Bedingungen noch aufrechterhalten werden kann, beziehungsweise ob man um eine Fortsetzung dieses Projektes der Aufklärung kämpfen sollte.