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Mitbewohner im Schmelztiegel

Das echte Leben als Bühne des Theaters: Das Projekt "X-Homes" verlegt Spielhandlungen in ein berüchtigtes Viertel von Johannesburg. Für Weiße wird hier die Kunst zum Abenteuer.

Von Dagmar Wittek | 07.07.2010
    Wohl ist mir nicht bei diesem – Theaterbesuch. Wir sind zwei weiße Frauen, die sich in Hillbrow nicht auskennen, die allein schon wegen ihrer Hautfarbe als Fremde in Hillbrow auffallen. Und es fühlt sich eher so an, als ob wir diejenigen sind, auf die der exotisierende Blick geworfen wird. Estie, meine Begleitung, fasst es so zusammen:

    "Ich komme mir wie eine Touristin in meinem eigenen Land vor. Ich sehe Dinge, die ich noch nie gesehen habe, das ist fabelhaft. "

    Hochhäuser mit zerbrochenen Fensterscheiben, die mit Zeitungen gegen den kalten Winterwind verklebt sind. Ratten, die am helllichten Tag über die Straßen flitzen, überall zerfetzte Mülltüten und stinkender Unrat. Unsere erste Station: ein aus Backsteinen gemauertes Hochhaus, dessen Eingang mit Gitterstäben verbarrikadiert ist. Kurzer Sicherheitscheck am Eingangsdrehkreuz, wir zeigen unsere Tickets – ein blaues Armband – vor. Eine Lolita-Figur in roter Federboa und hochhackigen Schuhen begrüßt uns.

    Wir lassen uns auf einem grau-braunen Cordsofa nieder und schauen uns um in dem vollgestopften 12-Quadratmeter-Zimmerchen: Eine gewaltige Anrichte dient als Raumteiler, eine Stereoanlage, ein Kühlschrank und ein Doppelbett erhöht auf Backsteinen, gegen bösen Zauber. An der Wand Zeitungsausschnitte, an der Decke eine kahle Energiesparlampe. Jazzer Xoli Norman improvisiert, während die Lolita-Stimme aus dem Off die glorreichen Tage Hillbrows schildert, als es zu Apartheidzeiten das Szene- und Ausgehviertel der Weißen war, bis zum Niedergang in den 90-ern, als sich Prostituierte und schließlich mehr und mehr Kleinkriminelle hier einfanden. Das Ende der Musik signalisiert uns, dass wir gehen müssen.

    Eine weitere Station. Die Lifts sehen aus, als ob sie seit 20 Jahren nicht mehr in Betrieb waren. Wo einst Druckknöpfe waren, hängen lose Drähte. Wir schnaufen in den 9. Stock rauf. Es riecht nach Eintopf, Müll und seit Monaten nicht geschrubbtem Flur. Oben angekommen, werden wir jäh ins Theatergeschehen katapultiert.

    Gezwungenermaßen werden wir zu Mitspielern. Wir sind in einer WG gelandet, in der wir uns als potentielle Mitbewohner bewerben. Regisseur Paul Grootboom bietet uns den kompletten südafrikanischen Schmelztiegel: eine spuckende Aidskranke, voneinander klauende Mitbewohner und Leben auf engstem Raum. Zwei Zimmer sind einfach im Flur durch Tücher abgetrennte Räume. Unser Aufenthalt endet jäh, als es nach Drogenmissbrauch zu einer gewalttätigen Eifersuchtsszene kommt, in deren Verlauf wir gar unter den sich prügelnden Schauspielern landen.

    Wieder draußen auf der Straße, nach tiefem Durchatmen. Esties erste Reaktion:

    "Es ist eine aufregende, unheimlich direkte Theatererfahrung. Ganz neu für mich. Es ist ein fantastisches Konzept, weil es unsere herkömmliche Vorstellung und Erwartung von Theater, in dem man einfach nur passiv dasitzt und zuschaut, ausradiert, und dich körperlich fordert und all deine Sinne anspricht."

    "X-Homes" ist intensiv. Eine unmittelbare Erfahrung. Sie fordert den Theatergänger. Die Wohnungen werden zur Kulisse mit der Kraft der Wirklichkeit – im ständigen Wechsel zwischen Realität und Fiktion; Dokumentation und Erdichtung. Die Geschichten, die die Künstler aus Südafrika, Deutschland und Kolumbien erzählen, setzen sich fast alle mit dem Ort und seiner sozialen Realität auseinander. Gesine Dankwart aus Berlin lässt ihre Darstellerin Thobeka, die die tatsächliche Bewohnerin der Wohnung ist, ihre Geschichte erzählen:

    "Der Tag, an dem es passierte, da war ich gerade von der Nachtschicht zurückgekommen, ich bin Krankenschwester. Es klopfte, ich machte auf, da waren lauter Männer mit Pistolen, sie schlugen mich zusammen, fesselten mich, gossen kochendes Wasser über mich…sie wollten Geld. Sie dachten, weil ich Geld für Strom und Wasser von den anderen Mietparteien hier einsammle, dass ich welches hätte. Ich dachte, ich würde sterben, weil einer noch sagte, lass sie uns umbringen, sonst landen wir noch im Knast."

    "X-Homes" ist Dokumentartheater im soziokulturellen Kontext. Nach Thobekas Geschichte sind weder Estie noch ich mehr sicher, was real, was gespielt ist. Heftige Verunsicherung tritt ein. Im Aufzug eines Hotels, das als Spielort dient, könnte die aufgetakelte junge Frau mit einem Bierglas in der Hand, die uns anspricht, auch Teil des Sets sein. Kurator Christof Gurk erklärte mir im Vorfeld, dass es der Versuch eines exotisierenden Blickes auf die Nachbarschaft ist – na, der ist gelungen.

    Informationen zu X-Homes Johannesburg