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Mittelalterliche Musik
"Eine Ausstellung, die alle Sinne anspricht"

Die Quedlinburger Stiftskirche stellt derzeit mittelalterliche Musik vor. Acht Mal am Tag werden Psalme im Wechsel mit Antiphonen gesungen. Dieser Wechselgesang sei ein Bestandteil des Chorgebets, das ein zentrales Element des Lebens im Stift war, sagt Kurator Christoph Winterer.

Christoph Winterer im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 01.06.2014
    Eine Kerze steht in der Ostermesse in der katholischen Kirche St. Michael in Kassel (Hessen) neben einem Gesangbuch.
    Wechselgesagt war im Mittelalter Teil des Chorgebets (picture-alliance/dpa/ Uwe Zucchi)
    Burkhard Müller-Ullrich: In der Quedlinburger Stiftskirche findet ab heute eine ganz besondere Ausstellung statt, eine Ausstellung mittelalterlicher Musik - und zwar als Beitrag zum 20-jährigen Jubiläum der Ernennung Quedlinburgs zum kulturellen Welterbe durch die UNESCO. Christoph Winterer, Sie sind der Kurator dieser Schau, die nicht nur zum Schauen ist, sondern vor allem auch zum Hören. Wie hat man sich das vorzustellen?
    Christoph Winterer: Unser Star hier ist eigentlich ein stiller Star. Das ist ein Antiphonar, ein Gesangbuch aus dem frühen 11. Jahrhundert, ungefähr tausend Jahre alt, und es ist eins der ganz frühen und ganz seltenen Antiphonare aus dieser Zeit, die den Gesang enthalten, die Lieder enthalten für das Chorgebet der Frauen.
    Müller-Ullrich: Und zwar nicht nur den Text, sondern auch – und da komme ich mal gleich zur ersten Schwierigkeit - denn so ungefähr vor tausend Jahren wurde die Notenschrift ja erst entwickelt.
    Winterer: Da haben Sie vollkommen recht. Deswegen ist es ganz besonders, dass da jetzt schon überall diese Neumen, diese frühen Noten enthalten sind.
    Müller-Ullrich: Neumen waren ja eigentlich so Winkbewegungen des Vorsängers. Die standen in Konkurrenz zu verschiedenen anderen Schriften. Guido von Arezzo hat was versucht, Hermann der Lahme auf der Reichenau hat was versucht. Was ist es denn jetzt?
    Winterer: Es sind Neumen und wenn man es gedanklich nachvollzieht, könnte man sich eigentlich vorstellen, dass man damit ein wenig dirigiert, weil ja auch sehr langsam gesungen wird. Die Gregorianik ist ja sowieso einstimmig und langsam, ein sehr getragener Gesang. Man kann sich vorstellen, dass man da den Finger nach oben macht, weil sozusagen diese Neumen anzeigen die Bewegung auf der Melodie auf einer einzigen Silbe. Das ist nicht möglich, dort eine Melodie anzuzeigen, die man dann pfeifen könnte oder auf dem Klavier spielen könnte.
    Rekonstruktionen von Traditionen aus Klöstern
    Müller-Ullrich: Ganz sicher sind wir nicht, wie es damals geklungen hat. Das kann man ja nicht reproduzieren.
    Winterer: Das ist im 19. Jahrhundert wiederentdeckt worden, also nicht das Quedlinburger Antiphonar, sondern die Gregorianik an sich ist wiederentdeckt worden. Die war sehr überformt, es gab noch was in ein paar Klöstern, und da hat man versucht, aus den Traditionen von den lebenden Klöstern und den Notationen vom Ende des Mittelalters, wo man schon die Tonhöhen absolut angab und auch Tonlängen manchmal angab, da hat man versucht, das zu rekonstruieren. Und jetzt sind wir eigentlich doch so weit, dass man einigermaßen gute Rekonstruktionen hinbekommen kann.
    Müller-Ullrich: Jetzt ist das Interessante an dem Quedlinburger Fall, an diesem Antiphonar, über den wir sprechen, dass er für Frauen war.
    Winterer: Ja. Das ist absolut ein früher Fall, das Älteste überhaupt. Das älteste Antiphonar für den Chorgesang von Frauen ist es. Man muss überlegen, es sind natürlich auch nur zwei andere Antiphonare überhaupt älter oder gleich alt wie das Quedlinburger Antiphonar. Die anderen sind alle untergegangen. Das ist aber auch besonders interessant für uns hier in Quedlinburg, weil das natürlich das zentrale Element des Lebens des Stiftes war, dass man zum Chorgebet sich versammelte, achtmal am Tag, die Psalmen sang und vor jedem Psalm und nach jedem Psalm eine Antiphon, die für das jeweilige Tagesfest die Stimmung vorgab und das Thema vorgab. Deswegen sind wir froh, eigentlich das Herzstück, auch den Betriebsablauf für ein ganzes Jahr vom Quedlinburger Damenstift in dieser Form wiederzubekommen für diese Ausstellung.
    Müller-Ullrich: So ungefähr in der Zeit, ein bisschen später hat ja Hildegard von Bingen gelebt. Können Sie an deren Erfolg – die hat ja auch viel für die Musik getan - anknüpfen?
    Winterer: Das ist eine interessante Frage. Es ist so, dass tatsächlich Hildegard von Bingen immer dann in Verbindung damit erwähnt wird. Natürlich würden wir das ganz gerne haben, aber natürlich ist Hildegard auch eine ganz individuelle Persönlichkeit.
    "Eine Ausstellung, die alle Sinne anspricht"
    Müller-Ullrich: Es gibt ja immer mal wieder so in Wellen eine Hinwendung zur Gregorianik. So ganz eintauchen kann man von heute eigentlich nicht, weil auch das Weltbild, dieses Alleinheitliche, völlig fehlt.
    Winterer: Sagen wir mal so: Es einfach nur als Hintergrundmusik laufen zu lassen, ist sicherlich schwieriger als bei anderer Musik. Richtig beeindruckend ist, wenn man wirklich dabei sitzt, in der Kirche dabei sitzt und einmal ein Stundengebet miterlebt. Das wird ja wieder praktiziert. Dann ist das natürlich schon ein Eintauchen, und zwar vor allem, wenn es ein Erlebnis ist, das alles umfasst, den Raum, dann die Optik dieser Kirchen und natürlich auch Bewegungsabläufe. Das ist natürlich das Schöne an dieser Ausstellung, dass wir jetzt mal eine Ausstellung haben, die alle Sinne anspricht. Normalerweise hat man nur Objekte, die legt man in Vitrinen, jetzt haben wir die Musik, und zwar auch noch an dem Ort, wo sie ursprünglich aufgeführt wurde, und dazu entsprechend natürlich auch noch Informationen, die der Besucher mitnehmen kann. Aber das ist natürlich nicht die ästhetische Erfahrung, die man hat, wenn man sich in den Chor setzt und die rekonstruierte Musik auch hört.
    Müller-Ullrich: Vielen Dank, Herr Winterer. Das war Christoph Winterer, Kurator der heute eröffneten Ausstellung "Der Klang der Frauen" in der Quedlinburger Stiftskirche.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.