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Mittelstand am Stammtisch

Um dumpfe Gewohnheit, Betäubung der Sinne und Gefangenschaft im eigenen kleinen Dasein geht es in Roland Schimmelpfennigs "Ambrosia", das Jürgen Gosch am Deutschen Theater Berlin aufgeführt hat. Doch während der Alkoholspiegel der sieben Saufbrüder auf der Bühne steigt, sinkt die Spannungslinie des Stücks immer weiter.

Von Eberhard Spreng | 21.09.2006
    Eine Kneipengesellschaft lungert hinter einer langen Tafel, auf der sich schon diverse, leere und halbleere Flaschen und Gläser angesammelt haben. Das neue Stück des Roland Schimmelpfennig beginnt denn auch mit der Mitteilung eines der Trinkbrüder, dass er nun besoffen sei und die Heimreise antreten möchte. Aber - wer kennt es nicht von langen durchzechten Nächten: Der erste Deserteur von König Alkohols Tafel wird mit sanfter Gewalt zurückgehalten, denn er ist immer eine milde Widerlegung für alle andere, denen der Pegel noch nicht hoch genug ist und die noch bleiben wollen.

    Was die sieben Saufbrüder zusammengebracht hat, und die eine verlorene Ehefrau, was auch immer sie hier feiern, erfährt man nicht, und alle Anekdoten, die hier erzählt werden, alle Geschichten kleiner und großer Lebensverzweiflungen scheinen wie ungehörte Monologe zu verhallen.

    Da ist der Senior Gallasch, der von seiner Nichte erzählt, für die er nach dem Tod ihrer Eltern finanziell widerwillig aufkommen musste, die ihm aber das geborgte Geld überraschend schnell zurückzahlen konnte, nachdem sie mit einer äußerst erfolgreichen Geschäftsidee reich geworden war. Nun aber, im Alter wird er abhängig von ihrer Unterstützung.

    Von Geld redet auch der Schiffsverkäufer Kronberg gerne, der einer wenig interessierten Gesellschaft vorrechnet, wie lohnend und steuerlich günstig eine Teilhaberschaft am Containerschiffs "MS Alabama" wäre, das gerade gebaut wird. Gegen Ende des zähen und dumpfen Kneipenabend erfährt er allerdings telephonisch, dass das Schiff noch im Trockendock gekentert, ins Hafenbecken gerutscht und dort gesunken ist.

    Man hätte diese etwas plumpe Untergangs-Metapher kaum gebraucht, um zu begreifen, dass die Geld- und Lebensträume dieses deutschen Mittelstandes zu weltausgreifenden Horizonten nicht mehr reichen und um des weiteren zu vermuten, dass Schimmelpfennigs "Ambrosia" nicht mehr Götterspeise meint, auch nichts dionysisches, keinen Rausch mit bewusstseinserweiternden Drogen, sondern dumpfe Gewohnheit, Betäubung der Sinne, Gefangenschaft im eigenen kleinen Dasein.

    Den schönsten, den verzweifelten Ausbruchsversuch liefert Ernst Stötzner. Er war es, der zu Beginn die Tafel gerne verlassen hätte und plötzlich, in einem Moment lyrischen Wahns zu einer nächtlichen Jagd aufruft.

    Roland Schimmelpfennig, der gelegentlich die Kollision alter archaischer Mythen mit der Alltagsemotionalität, dem Opportunismus und der Banalität heutiger Menschen vorgeführt hat, und etwa in der "Frau von Früher" einen Racheengel für den Selbstbetrug, den Verrat am Liebesversprechen ins Routineleben dreinschlagen ließ, entwirft in "Ambrosia" trotz des vollmundigen Titels und der prätentiösen Werkbezeichnung "Satyrspiel" keinen wirklichen Spannungsraum für die Konfrontation nobler klassischer Embleme und plumper zeitgenössischer Gewohnheit.

    Wenn Jörg Gudzuhn von der Schönheit des Etiketts blökt, das auf den Einbecker Urbock-Flaschen klebt, wenn man sich im Rülpsen und Furzen Wettkämpfe liefert und der Kellnerin unbeholfen an die Wäsche geht, dann ist damit der triste Höhepunkt der Ekstase schon erreicht.

    Da Jürgen Gosch außerdem kein Regisseur für den Rausch, sondern eher einer für den Kater ist, erlebt der Zuschauer, eine über zweieinhalb Stunden kontinuierlich sinkende Spannungslinie, während doch eigentlich der Alkoholspiegel steigen müsste. Goschs fragmentierter Realismus, die unzähligen zerbrechenden Gläser, die sich weinrot färbenden Tischdecken und das Theaterblut des in der Toilette ausgerutschten Trinkers schaffen nicht eine theatralische Version jener speziellen Wirklichkeit, in der sich nur Betrunkene virtuos zurechtfinden.

    Die Schauspieler behaupten ihr Betrunkensein zwar immer wieder kurz mal mit deutlichen Gesten und Sprechhaltungen, aber als Grundfarbe kommt es der Aufführung dauernd abhanden. Und so klebt eine treuherzige Ur-Inszenierung ganz fest und rechtschaffen an einem ziemlich flachen und nicht gerade berauschenden Stück.