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Mnemosyne

Am Mikrofon Frank Kämpfer. Ich habe für Sie heute morgen zwei Neuproduktionen ausgewählt, die sich genremäßig nur sehr schwer zuordnen lassen. Der Gattungsbegriff 'Lied' stimmt allenfalls vage, wenngleich gesungen wird. Auch Theater wäre zur Bezeichnung weder richtig noch falsch. Auf jeden Fall werden Traditionen mit Neuem verbunden und die Grenze zwischen unterhaltend und ernst scheint eine sehr fließende zu sein. * Musikbeispiel: Mesomedes - "Hymn to the sun" darin: HÖLDERLIN, MNEMOSYNE

Frank Kämpfer |
    Ein Zeichen sind wir, deutungslos Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren. Wenn nämlich über Menschen Ein Streit ist an dem Himmel und gewaltig Die Monde gehn, so redet Das Meer auch und Ströme müssen Den Pfad sich suchen. Zweifellos Ist aber Einer. Der Kann täglich ändern. Kaum bedarf er Gesetz. Und tönet das Blatt und Eichbäume wehn dann neben Den Firnen. Denn nicht vermögen Die Himmlischen alles. Nämlich es reichen Die Sterblich eh' an den Abgrund. Also wendet es sich, das Echo Mit diesen. Lang ist Die Zeit, es ereignet sich aber das Wahre.

    Bilder schwermütig-romantischer, weitgehend heiler Natur sowie Friedrich Hölderlins Gedicht "Mnemosyne" fungieren als Projektionsfläche fast ideal: was erklingt, atmet Weite, lädt ein zur Kontemplation, suggeriert eine allumfassende Einheit von Geist, Zeit und Raum. "Mnemosyne", die neue Doppel-CD des britischen Hilliard Ensembles, erschienen in München bei ECM, greift auf Bewährtes zurück: geistliche Vokalmusik aus alter Zeit, mit Zeitgenossen versetzt, opulent kombiniert mit einem Blasinstrument. Wie seinerzeit bei ihrem Verkaufshit "Officium" assistiert den Herren James, Jones, Potter und Covey-Crump mit Jan Garbarek ein Jazzer und Saxophonist. Anders als vor 5 Jahren jedoch birgt "Mnemosyne" kaum mehr Provokatives. Crossovers von neu und alt, unterhaltend und ernst, authentisch und improvisiert gehören heute zum "guten Ton" und beherrschen inzwischen den Markt. Und der erregende Querstand von einst, mittelalterliche, also sogenannt Frühe Musik, als partiell improvisierte zu sehen, sie aus heutiger Sicht mit einem modernen Improvisations-Instrument zu kombinieren - all dies ist scheint gegenwärtig normal und keinerlei Sensation. Dennoch ist die im Kloster St. Gerold technisch perfekt aufgenommene Doppel-CD an sich nicht ohne Reiz. Im schönen Booklet nahezu unkommentiert, spricht die Musik sehr verlockend für sich: Titel von Thomas Tallis und Hildegard von Bingen, zeitgenössische Miniaturen des Esten Veljo Tormis und des Norwegers Garbarek, dazu Fragmente alter peruanischer, baskischer oder russischer Folksongs, Bruchstücke antiker Kulturen gar sorgen für eine Mischung, deren Konsum verführerisch, wenn nicht gar gleichschaltend wirkt, Grenzen verwischt, Differenzen zurücktreten läßt hinter dem Surrogat eines allgewaltig Kontemplativen, einem Unisono von Seele und Körper, Atem und Klang, Zeit und Raum. * Musikbeispiel: T. Tallis - "O Lord in thee is all my trust" Tomas Tallis und "O Lord in Thee is all my trust". - Jan Garbareks Saxophon und das britische Hilliard Quartett haben dieser alten Motette ihre Stimmen verliehen und sie - befreit ursprünglicher Botschaft und Funktion - als reinen Sound für heute neu konsumierbar gemacht.