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Mobil, flexibel und gestresst

Fast jeder zweite Deutsche gehört in seinem Leben einmal in die Gruppe der Berufsnomaden, die dem Job hinterher ziehen oder täglich zur Arbeit pendeln. Wie die berufsbedingte Mobilität in Europa von den Menschen erlebt wird, welche Folgen sie für Familie, Karriere und Lebensqualität hat, war Gegenstand einer europäischen Studie, die jetzt in Mainz vorgestellt wurde.

Von Christoph Gehring |
    Der Mensch ist mobil, wenn er täglich mindestens zwei Stunden für den Weg zur Arbeit und zurück braucht. Oder wenn er wegen des Jobs mindestens 50 Kilometer weit vom bisherigen Wohnort weg- oder gleich ins Ausland zieht. Oder wenn er berufsbedingt mehr als 60 Nächte im Jahr irgendwo verbringt, nur nicht zuhause. Die Zahl der Menschen in Deutschland, die wenigstens eines dieser Kriterien erfüllen, die für ihren Beruf also wirkliche Mobilität beweisen, ist erstaunlich groß, sagt Professor Norbert Schneider. Professor Schneider lehrt an der Universität Mainz Soziologie und er koordiniert die Studie "Job Mobilities and Family Lives in Europe", die in sechs europäischen Ländern Umfang und Folgen der berufsbedingten Mobilität bei Menschen zwischen 25 und 54 Jahren untersucht. Für Deutschland gilt:

    "Betrachtet man diese Population, dann sind 15 Prozent gegenwärtig mobil in einer der genannten Formen. Betrachtet man nur die Vollerwerbstätigen, dann sind es 20 Prozent. Und betrachtet man diejenigen, die zwar gegenwärtig nicht mobil sind, aber mindestens einmal im Laufe ihres Berufslebens mobil waren, dann sind es 47 Prozent. Also man kann sagen: Annähernd jeder zweite Deutsche hat im Laufe seines Lebens Erfahrung mit berufsbedingter Mobilität gemacht - oder macht sie gerade."

    Gerne machen diese Erfahrung nur die Wenigsten. Denn der Mensch an sich, zumal der Deutsche, ist sesshaft und heimatverbunden. Doch der Arbeitsmarkt ist unerbittlich: Er verlangt heute von denen, die ihre Arbeitskraft anbieten, Beweglichkeit als Grundvoraussetzung. Anders als früher ist "Mobilität" kein Synonym mehr für "Karriere":

    "Werde mobil, und du steigst sozial auf - diesen Zusammenhang können wir heute nicht mehr feststellen. Mobilität dient eher zur Erhaltung des Status Quo oder zur Vermeidung des sozialen Abstiegs, nicht mehr aber sozusagen automatisch zum sozialen Aufstieg."

    Was Norbert Schneider beschreibt, nennt die Studie "Survival-Mobilität" - umziehen oder pendeln fürs Überleben in der Marktwirtschaft. Die Überlebensstrategien sind allerdings abhängig vom Alter, vom Bildungs- und vom Familienstand der Betroffenen. Norbert Schneider:

    "Also wir können feststellen: Junge Menschen ziehen lieber um, ältere Menschen bevorzugen das Pendeln. Akademiker ziehen lieber um, Menschen mit niedrigeren Schulabschlüssen vermeiden Umzug, wo es geht, nehmen alle möglichen Arten von Pendeltätigkeiten in Kauf. Und Menschen mit Familie pendeln lieber, solange sie keine Kinder haben, also wenn nur eine Partnerschaft da ist. Wenn Kinder ins Spiel kommen, wird eher ein Umzug präferiert."

    Doch die Umzieher sind eine Minderheit: Vier von fünf der für die Studie Befragten - und das waren in Deutschland fast 1.700 Menschen - entscheiden sich dafür, zur Arbeit und zurück zu pendeln. Manche werden zu Wochenendpendlern, die sich am Arbeitsort eine kleine Zweitwohnung nehmen, die meisten aber fahren jeden Tag zur Arbeit und zurück. Wie weit die Strecke ist, spielt dabei kaum eine Rolle - eine offenkundig besonders leidensfähige Teilnehmerin der Studie gab beispielsweise an, täglich mit dem ICE zwischen dem niedersächsischen Celle und Frankfurt am Main hin- und herzufahren. Dabei zahlen Pendler nach der Studie einen hohen Preis für ihre Mobilität, der sich nicht in Euro und Cent ausdrücken lässt, sagt Norbert Schneider:

    "Pendeln hat negative Konsequenzen für das subjektive Wohlbefinden und für die Gesundheit. Im Hinblick auf die Gesundheit muss man zunächst sagen: Pendler haben wenig Zeit, weil sie auf der Strecke sind, und können deswegen weniger Gesundheitsvorsorge betreiben als andere Personengruppen. Übrige gesundheitliche Beeinträchtigungen resultieren aus dem Fahren, aus dem Pendeln selber. Das sind oft Stressphänomene wie Erschöpfungszustände, Schlafstörungen, Kopf- und Gliederschmerzen, Verspannungen, Rückenschmerzen - also: Typische Stressphänomene ohne körperlichen Befund. Das ist das, was Pendler sozusagen als Gesundheitsrisiko mit sich tragen. Daneben berichten Pendler über chronischen Zeitmangel, der dazu führt, dass ihre eigenen Erholungsphasen knapper bemessen sind und dass die Beziehungspflege zu Kindern, Partnern, Freunden ein Stück weit darunter leidet, dass sie weniger Zeit haben als sie gerne möchten, weniger Zeit haben als Nicht-Mobile. Und wenn sie Zeit haben - das kommt noch hinzu - dass sie sich nach Ruhe und Entspannung sehnen und lieber zuhause sein wollen. Und von daher fehlt ihnen auch ein Stück weit Energie für eine aktive Freizeitgestaltung mit anderen."

    Deswegen ist es wenig überraschend, dass die berufsbedingte Mobilität, wie sie die Unternehmen verlangen und die Menschen liefern, eher als Zwang denn als Chance wahrgenommen wird:

    "Fragt man die Menschen, wie sie ihre eigene Mobilität einschätzen, dann kann man feststellen, dass immerhin zwölf Prozent sagen: Meine Mobilität lehne ich ab. Ich fühle mich vollkommen gezwungen, in dieser Form mobil zu sein, wie ich es bin. Und die Hälfte erlebt ihre Mobilität als - na ja: Notwendigkeit, die sie zu akzeptieren haben, aber die sie nicht gerne akzeptieren."

    Anders ausgedrückt: Gerade mal ein Drittel der Fern- und Wochenendpendler sind damit zufrieden, dass sie vor und nach dem Job einen beträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit auf der Straße, im Zug oder im Flugzeug zubringen. Ohnehin, so Norbert Schneider, ist die große Mobilität in vielen Fällen ökonomischer Unsinn - jedenfalls für die Betroffenen selbst:

    "Oftmals entscheiden sich Menschen für Pendeln oder Umzug, weil sie einige hundert Euro mehr verdienen, und kalkulieren nicht richtig die Mobilitätskosten. So dass sie zwar mehr verdienen, aber unter dem Strich weniger verfügbares Einkommen haben. Und gerade in den vergangenen Wochen und Monaten mit den steigenden Benzinpreisen, den steigenden Energiekosten ist das Pendeln immer teurer geworden. Ob sich daraus, wenn das so bleiben sollte, ein Wandel im Hinblick auf Umzug oder ein Wandel mit Blick auf eine Abnahme der Pendelbereitschaft einstellen wird, lässt sich aus heutiger Sicht nicht sagen. Anzeichen dafür können wir bisher nicht feststellen."