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Modellbeitrag

Ich halte es für fatal für eine Gesellschaft, wenn da junge Menschen sind, die für sich das Selbstbild verankert haben: Ich bin ein 'Nichts', ich bin ein 'Nur', ich kann nichts leisten und ich werde in dieser Gesellschaft nicht gebraucht.

Von Agnes Steinbauer |
    Hildburg Kagerer - Rektorin der Ferdinand-Freiligrath-Oberschule in Berlin-Kreuzberg - hat aus dieser Erkenntnis Konsequenzen gezogen. Nach schmerzlichen Erfahrungen an ihrer eigenen Schule plädiert sie für die Abschaffung der Hauptschule an sich. Das Stigma sitzt so tief, dass Reformen zwecklos sind, findet die Lehrerin und Psychotherapeutin:

    Ich denke, wenn im Bildungssystem eine Schule zur Restschule geworden ist, dann muß man sich das ganze System angucken.

    Berlin ist besonders betroffen. Dort gehen nur noch sechs Prozent der Schüler zur Hauptschule - Warnung und Ansporn für Hildburg Kagerer, neue Wege einzuschlagen. Die Ferdinand-Freiligrath-Schule - früher ein schwieriger sozialer Brennpunkt - ist heute integrierte Haupt- und Realschule. Der Schulform-übergreifende Unterricht von der siebten bis zur zehnten Klasse ist für Kagerer aber nur e i n wichtiger Aspekt im Kampf gegen das Stigma Hauptschule. Anfang der 90er Jahre hat sie sich das Projekt "KidS" ausgedacht - eine Kurzform für "Kreativität in der Schule". Sogenannte "Dritte" - Personen aus verschiedenen Berufsgruppen - arbeiten mit den Schülern in sogenannten "Arenen" zusammen. Die "Dritten" aus den Bereichen Technik, Kunst, Musik, Sport oder Medien vermitteln einerseits Berufsrealität, sollen aber auch Vorbilder und Förderer für die Schüler sein. Wichtigstes Ziel: Den Jugendlichen zu zeigen, wo sie stark sind, ihr Selbstbewußtsein aufzubauen und ihr Interesse zu wecken. Der deutsch-türkische Schauspieler und Regisseur Deniz Döhler ist einer der "Dritten". Er arbeitet er mit seinen Schülern in der "Arena - Bühne Theater". Nach vier Jahren Arenen-Erfahrung in Kreuzberg gibt es für ihn keine typischen Hauptschüler mehr:

    Am Anfang war es ein bißchen schwierig, weil man gewisse Strukturen erst einmal schaffen mußte, gruppendynamische Strukturen, dass sie zuhören können, dass sie sich an bestimmte Regeln halten. Das hat schon gedauert, aber mittlerweile gibt es fast keinen Unterschied mehr zu den Schülern, die ein Gymnasium, eine Realschule besuchen.

    Ich werd Schauspieler. Ich wollte Schauspieler werden - immer schon. Seit ich in der Dritten war, hab ich angefangen, Theater zu spielen.

    Chamsa aus der 9.Klasse spielt bei der Horrorkomödie mit, die sich die Arena "Theater" gerade ausdenkt. Selbstbewußt agiert er auf der Bühne und ist mit Feuer und Flamme bei der Sache.

    Die Arenen-Stunden - 14 in der Woche - sind aber nicht nur Spiel und Spaß. Dort wird Deutsch, Mathe oder Englisch unterrichtet, aber eben anders - nicht als Schulfächer im Frontalunterricht, sondern praxisbezogen im jeweiligen Projekt. Lehrerin Dorothea Quast erklärt, wie man zum Beispiel in der Arena "Bühne -Theater" deutsch lernen kann:

    Bildbeschreibung. Wie sieht ein Bühnenbild aus? Beschreib das mal: Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund - also wirklich auch Unterricht, aber die Schüler wissen warum...es ist mit der Praxis ganz eng verwoben. Es gibt einen wirklichen Sinn. Sie wissen, warum sie es lernen sollten.

    Gamse strahlt, sie spielt in der Horror-Komödie eine Hexe. In der Arena fällt ihr das Lernen leichter:

    Ich bin extra wegen den Arenen hier in diese Schule gekommen. Wir haben hier mit der Grundschule verschiedene Arenen besucht. Das hat mir sehr gefallen. Sowas hab ich ja noch nie zuvor gesehen...dacht ich mir, probier ich`s aus.

    Seit dem Schuljahr 1999/2000 ist "KidS" ein Schulversuch des Landes Berlin - zunächst befristet bis 2004. Der Senat übernimmt die Kosten für die "Dritten". Für Hildburg Kagerer ist "KidS" zusammen mit der integrierten Haupt- und Realschule im Augenblick die einzige Möglichkeit, Hauptschüler vor Vorurteilen zu schützen. Sie findet:

    Es darf generell - wie sie heißt ist egal - keine Schulform geben, die die Menschen vor Ort als Stigma erleben, weil man da nicht lernen kann.