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Moderne Bakchen

Beim Theater der Welt am Stuttgarter Schauspiel gab es ein Uraufführung, die den Backchen des Euripides aus dem vierten Jahrhundert vor Christus folgt. Der Einbruch der Unordnung in vernünftiger Zeit, die Macht unverfügbarer Zerstörung, die über uns bricht, ist Kern einer Bearbeitung dieser Bakchen, die in Stuttgart unter dem Titel VIRUS auf die Bühne kam.

Von Christian Gampert |
    Das europäische, das griechische Theater beginnt mit der Herauslösung des Einzelnen aus dem Chor, des Individuums aus der Masse. Es ist der Schritt von den quasi-religiösen Dioynsien, einem weinberauschten, enthemmten Volksfest während der Erntezeit, zum Spiel mit Frage und Antwort, zum Zwiegespräch. Aus einem Kult wurde Kultur; den vielen Tiermasken-Trägern stand einer mit menschlichem Antlitz gegenüber.

    Ein paar Jahrhunderte später, um 400 vor Christus, hat der Dramatiker Euripides den Bürgern Athens eine schaurige Parodie auf das überwundene Chaos des Dionysos-Kults geschrieben: die Bakchen, also Bacchantinnen, Mänaden, rasende Racheweiber, die vom Gott Dionysos selbst in einen wütenden, menschenzerfleischenden Furor versetzt werden, weil die Einwohner Thebens seinen, den enthemmten, rauschhaften Kult ablehnen. Wieder bei Sinnen, sehen die Frauen erschrocken die faschistoide Mordorgie, die sie gerade begangen haben.

    Im Lauf der europäischen Kulturgeschichte sind Apollinische und das Dionysische, das Helle und das Dunkle, das Vernünftige und das Emotionale immer wieder gegeneinander abgewogen worden. Und traditionell sucht, wer in einer vernunftbestimmten Gesellschaft lebt, seine dunklen Seiten mehr als jener, der im Chaos ist und ein wenig Licht ins Dunkel bringen will. Ein besonderes Exemplum jener geheimnisvoll raunenden Sinnsucher ist der Regisseur Sebastian Nübling: er hat sich schon immer für das Rituelle interessiert, am auffälligsten bei den chorisch brüllenden Fußballfans in seiner Stuttgarter Debüt-Inszenierung "I Furiosi". Auch bei seinen "Bakchen" spielt der Chor die Hauptrolle, wenngleich sich dort ein Virus eingeschlichen hat, der dionysische Gott, der alles zersetzt. "Virus" heißt nun auch das ganze Stück, und es ist, als habe jemand - im Sinne einer Doppelbelichtung - lauter moderne Bilder, Ideen, Monologe auf den antiken Text projiziert.

    Nübling vergleicht das Umsichgreifen des Wahnhaften bei den thebanischen Frauen mit dem Eindringen von modernen Viren in hochkomplexe Gesellschaften. Ob biologische Viren oder Computerviren, das ist ihm alles eins: es geht um Kriegführung, um das Ausgrenzen des Fremden, des Angreifers. Das heißt, ein normaler Erkältungsvirus, durch Niesen übertragen (das wird auf der Bühne in extenso vorgeführt), ist theatralisch seltsamerweise ebenso wichtig wie das Aids-Virus, Ebola, Sars, biologische Kampfstoffe oder das technische Iloveyou-Virus, das weltweit die Computer lahm legte.

    Gedanklich ist die Analogisierung von biologischen und gesellschaftlichen Prozessen prekär: schon die Nazis, die Gesellschaft als Organismus begriffen, haben Natur und Kultur gleichgesetzt und so die Ratio vernichtet. Nübling spinnt das noch weiter, indem er seine viralen Theaterübungen als Kampf des Eigenem mit dem Fremden definiert - und das Fremde sind natürlich jene Mächte, die aus der Dritten Welt kommen und als Terror-Schläfer schon mitten unter uns wuchern.

    Rein theatralisch ist dies alles bei Nübling dann von rührender Schlichtheit: am Anfang, unterlegt von einer leise kratzenden Geige auf staubknisternder Schallplatte, suchen die 10 uniformen Virus-Schauspieler in einem somnambulen Part noch einigermaßen geheimnisvoll danach, wer unter ihnen denn der Eindringling sei, der Dionysos. Gliederzittern, Veitstänze wie in der Psychiatrie, stummes Mitsprechen des Textes. Bald aber greift Nübling zu herzigen Sinnbildchen, lässt die fast nackte Schauspielerin Katja Bürkle wie einen Käfer dem Kollegen Daniel Wahl unter den Schutzanzug kriechen, lässt einen Buddha-artigen Computer-Hacker berichten und steuert seine fleischfarben gekleideten Mänaden durch ein menschliches Ersatzteillager aus Schaufensterpuppen. Vor allem aber überblendet er den Euripides-Text durch ein Konglomerat geschwätziger eigener Texte und Zitate. Körpertheater, Workshop-Theater, jedem Virus sein Solo. Man dämmert weg und wacht erschrocken wieder auf, wenn Nübling, durchaus zustimmend, die Ängste feiert, die ausgerechnet der palästinensische Terrorismus produziert.

    Ja, es gibt viele Arten der Infektion. Eine der schlimmsten ist die der ideologischen Beliebigkeit.