Herr Wilberg war ein ganz treuer Untertan des letzten deutschen Kaisers. Vier Tage lang marschierte er im Sommer 1911 durch Marokko, in der glühenden Sonne. 120 Kilometer, von Mogador nach Agadir, wo die "Panther" vor der Küste ankerte. Ein vergleichsweise bescheidenes Schlachtschiff, mit 130 Mann Besatzung und einer eigenen Blaskapelle. Wilhelm der Zweite und sein Außenstaatssekretär Alfred von Kiderlen-Waechter hatten den Kreuzer nach Nordafrika beordert, um die dort lebenden Deutschen vor angeblich drohenden Übergriffen zu retten. Das Problem war nur: Es gab keinen einzigen Deutschen in Agadir, erzählt Philipp Blom.
"Deswegen musste Herr Wilberg da schleunigst hingeschickt werden, damit er dann am Hafen stehen und gerettet werden konnte. Dieser Panther-Sprung war eine der ganz großen Krisen, 1911. Es gab andere: 1909, 1912, 1913, die jede ein besserer Grund für einen Weltkrieg gewesen wären. Ich glaube, es ist wichtig, sich gewahr zu werden, es gab nichts Notwendiges, nichts Unausweichliches an diesem Weltkrieg."
Ausgehend von dieser Prämisse hat der Historiker einen sehr eigenwilligen Versuch unternommen: In seinem Buch "Ein taumelnder Kontinent" erzählt Philipp Blom die europäische Geschichte der Jahre zwischen 1900 und 1914, ohne sie auf ein bloßes Vorspiel des Ersten Weltkriegs zu reduzieren. Vielmehr ergründet er eine kurze, intensive Ära, in der die Moderne in Europa endgültig zum Durchbruch kam und die von berühmten Zeitgenossen wie Max Weber oder Walter Rathenau als rasend beschrieben worden ist. Die Städte wuchsen rapide an. Und durch den massenhaften Einsatz vieler Erfindungen veränderte sich die Lebenswelt rasant.
"Man konnte auf einmal hunderte Kilometer weiter weg mit dem Zug in die Ferien fahren. Man konnte auf einmal Telegramme schicken, musste nicht mehr auf Briefe warten. Dinge konnten mit dem Telefon in Minutenschnelle abgeklärt werden. Es gab eine Umwandlung der Erfahrung auch. Auch im Kino konnte man Dinge sehen, die tausende Kilometer weg passiert waren. Und natürlich auch durch den Filmschnitt konnte man Dinge anders erzählen, konnte man Zeit raffen."
Philipp Blom belässt es nicht bei der Aufzählung all dieser Neuerungen. Ihn interessieren ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen, etwa auf die Familienplanung von Fabrikarbeitern und auf die veränderten Geschlechterbilder von Männern und Frauen. Der Feminismus, nicht nur die Frauenwahlrechtsbewegung, erlebte in den Jahren nach 1900 eine erste Hochkonjunktur. Die Herren aus dem mittleren Bürgertum hingegen ertrugen den gleichförmigen Büroalltag nicht mehr und ließen sich zu hunderttausenden mit ihren Seelenleiden in Nervensanatorien kurieren. Derweil sorgte vielerorts in Europa eine andere technische Innovation für das Ende der alten Aristokratie: das Turbinenschiff. Denn mit seinem Einsatz begann ein reger Import von Agrarprodukten aus anderen Erdteilen. Abhängig von Grundbesitz und Landwirtschaft, geriet der Adel in Schwierigkeiten.
"Der europäische Markt kann einfach nicht mithalten mit diesem billigen Weizen, mit dem Fleisch, mit der Butter, die da kommt. Das wird sehr enthusiastisch aufgenommen und die Preise verfallen so radikal, dass die Adeligen auf einmal anfangen müssen, ihre Paläste zu verkaufen, in England. Hunderte von Landhäusern sind auf dem Markt. In den 1920er-Jahren wurden viele von ihnen demoliert, weil es zu viele gab und niemanden, der sich darum kümmern konnte. Hier ist wirklich die Wohlstandsbasis des Adels zusammen gebrochen und man hört, so wie im Kirschgarten von Tschechow schon die Ängste im Hintergrund."
Gerade die Rekonstruktion von solchen Zusammenhängen macht das Buch von Philipp Blom spannend. Hinzu kommt das Interesse des Autors für die weniger bekannten Ereignisse dieser Jahre, Dinge, die im Schatten der politischen Großtaten lagen. Wie zum Beispiel ein Kapitel über den Kongo zeigt. Damals ein Gebiet so groß wie Europa und Kolonie des belgischen Königs Leopold: Nachdem der Gummireifen in Europa zum Einsatz kam, wurde der Kongo binnen weniger Jahre zum Abbaugebiet für Kautschuk. Und zum Schauplatz eines bis heute selten thematisierten Massenmordes, verübt im Auftrag seiner Majestät.
"Er hat natürlich persönlich gar nichts getan. Persönlich saß er in Belgien und hat sich amüsiert. Aber seine Agenten haben zu hunderttausend die Menschen zusammen getrieben und gefangen genommen, damit die Männer in den Urwald gingen und Kautschuk ablieferten. Und wenn sie nicht genug abgeliefert haben, dann wurden sie entweder verstümmelt, ihnen wurden die Hände abgehackt. Oder sie wurden einfach ermordet. Nicht nur das. Dadurch dass die Familien auseinander gerissen waren, dadurch, dass sie ihre Felder nicht mehr bestellen konnten, haben sie auch an Hunger gelitten, wenn sie keinen Kautschuk suchen mussten. Ihre Ökonomie war zerstört."
Zehn Millionen Menschen sind diesem grausamen Raubbau zum Opfer gefallen, direkt und indirekt. In Europa nahm man dieses große Verbrechen überhaupt nicht wahr. Lediglich zwei Briten ist es zu verdanken, dass die Ereignisse publik gemacht worden sind: der eine ein Konsul, Robert Casement, der andere ein junger Reedereiangestellter aus Liverpool, Edmund Dene Morel, der bei Recherchen in Antwerpen Hinweise auf den Massenmord entdeckte.
"Er hat seinen Job aufgegeben. Und er hatte nota bene weder Geld noch einflussreiche Verwandte oder Freunde. Er war jemand, der glaubte, mit einer solchen Monstrosität in seiner Zeit nicht leben zu können. Und er hat angefangen, eine Zeitung herauszugeben, Spenden zu sammeln, endlos Briefe zu schreiben, um das bekannt zu machen. Und er hat es tatsächlich geschafft, dass über ein Jahrzehnt der Druck auf König Leopold so stark wurde, dass der Völkermord begann aufzuhören."
Auch solche Lebensgeschichten kann man in einem Buch entdecken, dass sich den tiefen Veränderungen von Gesellschaft und Kultur widmet. Die Nervosität ist ein zentraler Begriff der 15 Jahre währenden, rasenden Ära vor dem Ersten Weltkrieg. Das gilt nicht nur für die Mentalität der Zeitgenossen. Sondern auch für die Politik, sagt Philipp Blom.
"Die Situation spitzt sich international zu. Und auch dadurch kommt eine gewisse Nervosität hinein. Es gibt ein großes Waffenwettrennen, ein Wettrüsten. Es geht um die großen Schlachtschiffe, die damals gebaut wurden, von denen jedes neue Modell größer und natürlich auch kostspieliger ist, als die vorherige Generation. Und natürlich auch gleichzeitig alle vorherigen Schiffe obsolet macht. Das heißt, alle Mächte müssen auf einmal nachziehen."
Insofern bleibt der Erste Weltkrieg letzten Endes doch der Schlusspunkt dieses besonderen und sehr anregend geschriebenen Buches über Europa, den taumelnden Kontinent. Philipp Blom deutet den Kriegsausbruch nicht als ein zwingendes Resultat einer enorm beschleunigten Moderne. Und trotzdem kann er ihn nicht ausblenden. Es wäre interessant gewesen, den Bogen der Darstellung noch weiter zu spannen als nur bis zum Juli 1914, etwa mit Blick auf die Erfahrung eines plötzlich hoch technisierten Massenkrieges, der ja auch Ausdruck der rasenden Moderne war. Dieses Kapitel muss ein anderer erzählen. Philipp Bloms Buch ist trotzdem ein sehr origineller Beitrag für die Beschäftigung mit einer lange verkannten Zeit. Einer Zeit, die uns mit Blick auf die Erfahrung von Schnelligkeit und Zukunftsängsten übrigens näher liegt, als wir glauben.
Philipp Bloms Buch "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 bis 1914" ist erschienen im Carl Hanser Verlag München. 536 Seiten kosten 25,90 Euro.
"Deswegen musste Herr Wilberg da schleunigst hingeschickt werden, damit er dann am Hafen stehen und gerettet werden konnte. Dieser Panther-Sprung war eine der ganz großen Krisen, 1911. Es gab andere: 1909, 1912, 1913, die jede ein besserer Grund für einen Weltkrieg gewesen wären. Ich glaube, es ist wichtig, sich gewahr zu werden, es gab nichts Notwendiges, nichts Unausweichliches an diesem Weltkrieg."
Ausgehend von dieser Prämisse hat der Historiker einen sehr eigenwilligen Versuch unternommen: In seinem Buch "Ein taumelnder Kontinent" erzählt Philipp Blom die europäische Geschichte der Jahre zwischen 1900 und 1914, ohne sie auf ein bloßes Vorspiel des Ersten Weltkriegs zu reduzieren. Vielmehr ergründet er eine kurze, intensive Ära, in der die Moderne in Europa endgültig zum Durchbruch kam und die von berühmten Zeitgenossen wie Max Weber oder Walter Rathenau als rasend beschrieben worden ist. Die Städte wuchsen rapide an. Und durch den massenhaften Einsatz vieler Erfindungen veränderte sich die Lebenswelt rasant.
"Man konnte auf einmal hunderte Kilometer weiter weg mit dem Zug in die Ferien fahren. Man konnte auf einmal Telegramme schicken, musste nicht mehr auf Briefe warten. Dinge konnten mit dem Telefon in Minutenschnelle abgeklärt werden. Es gab eine Umwandlung der Erfahrung auch. Auch im Kino konnte man Dinge sehen, die tausende Kilometer weg passiert waren. Und natürlich auch durch den Filmschnitt konnte man Dinge anders erzählen, konnte man Zeit raffen."
Philipp Blom belässt es nicht bei der Aufzählung all dieser Neuerungen. Ihn interessieren ihre Auswirkungen auf das Leben der Menschen, etwa auf die Familienplanung von Fabrikarbeitern und auf die veränderten Geschlechterbilder von Männern und Frauen. Der Feminismus, nicht nur die Frauenwahlrechtsbewegung, erlebte in den Jahren nach 1900 eine erste Hochkonjunktur. Die Herren aus dem mittleren Bürgertum hingegen ertrugen den gleichförmigen Büroalltag nicht mehr und ließen sich zu hunderttausenden mit ihren Seelenleiden in Nervensanatorien kurieren. Derweil sorgte vielerorts in Europa eine andere technische Innovation für das Ende der alten Aristokratie: das Turbinenschiff. Denn mit seinem Einsatz begann ein reger Import von Agrarprodukten aus anderen Erdteilen. Abhängig von Grundbesitz und Landwirtschaft, geriet der Adel in Schwierigkeiten.
"Der europäische Markt kann einfach nicht mithalten mit diesem billigen Weizen, mit dem Fleisch, mit der Butter, die da kommt. Das wird sehr enthusiastisch aufgenommen und die Preise verfallen so radikal, dass die Adeligen auf einmal anfangen müssen, ihre Paläste zu verkaufen, in England. Hunderte von Landhäusern sind auf dem Markt. In den 1920er-Jahren wurden viele von ihnen demoliert, weil es zu viele gab und niemanden, der sich darum kümmern konnte. Hier ist wirklich die Wohlstandsbasis des Adels zusammen gebrochen und man hört, so wie im Kirschgarten von Tschechow schon die Ängste im Hintergrund."
Gerade die Rekonstruktion von solchen Zusammenhängen macht das Buch von Philipp Blom spannend. Hinzu kommt das Interesse des Autors für die weniger bekannten Ereignisse dieser Jahre, Dinge, die im Schatten der politischen Großtaten lagen. Wie zum Beispiel ein Kapitel über den Kongo zeigt. Damals ein Gebiet so groß wie Europa und Kolonie des belgischen Königs Leopold: Nachdem der Gummireifen in Europa zum Einsatz kam, wurde der Kongo binnen weniger Jahre zum Abbaugebiet für Kautschuk. Und zum Schauplatz eines bis heute selten thematisierten Massenmordes, verübt im Auftrag seiner Majestät.
"Er hat natürlich persönlich gar nichts getan. Persönlich saß er in Belgien und hat sich amüsiert. Aber seine Agenten haben zu hunderttausend die Menschen zusammen getrieben und gefangen genommen, damit die Männer in den Urwald gingen und Kautschuk ablieferten. Und wenn sie nicht genug abgeliefert haben, dann wurden sie entweder verstümmelt, ihnen wurden die Hände abgehackt. Oder sie wurden einfach ermordet. Nicht nur das. Dadurch dass die Familien auseinander gerissen waren, dadurch, dass sie ihre Felder nicht mehr bestellen konnten, haben sie auch an Hunger gelitten, wenn sie keinen Kautschuk suchen mussten. Ihre Ökonomie war zerstört."
Zehn Millionen Menschen sind diesem grausamen Raubbau zum Opfer gefallen, direkt und indirekt. In Europa nahm man dieses große Verbrechen überhaupt nicht wahr. Lediglich zwei Briten ist es zu verdanken, dass die Ereignisse publik gemacht worden sind: der eine ein Konsul, Robert Casement, der andere ein junger Reedereiangestellter aus Liverpool, Edmund Dene Morel, der bei Recherchen in Antwerpen Hinweise auf den Massenmord entdeckte.
"Er hat seinen Job aufgegeben. Und er hatte nota bene weder Geld noch einflussreiche Verwandte oder Freunde. Er war jemand, der glaubte, mit einer solchen Monstrosität in seiner Zeit nicht leben zu können. Und er hat angefangen, eine Zeitung herauszugeben, Spenden zu sammeln, endlos Briefe zu schreiben, um das bekannt zu machen. Und er hat es tatsächlich geschafft, dass über ein Jahrzehnt der Druck auf König Leopold so stark wurde, dass der Völkermord begann aufzuhören."
Auch solche Lebensgeschichten kann man in einem Buch entdecken, dass sich den tiefen Veränderungen von Gesellschaft und Kultur widmet. Die Nervosität ist ein zentraler Begriff der 15 Jahre währenden, rasenden Ära vor dem Ersten Weltkrieg. Das gilt nicht nur für die Mentalität der Zeitgenossen. Sondern auch für die Politik, sagt Philipp Blom.
"Die Situation spitzt sich international zu. Und auch dadurch kommt eine gewisse Nervosität hinein. Es gibt ein großes Waffenwettrennen, ein Wettrüsten. Es geht um die großen Schlachtschiffe, die damals gebaut wurden, von denen jedes neue Modell größer und natürlich auch kostspieliger ist, als die vorherige Generation. Und natürlich auch gleichzeitig alle vorherigen Schiffe obsolet macht. Das heißt, alle Mächte müssen auf einmal nachziehen."
Insofern bleibt der Erste Weltkrieg letzten Endes doch der Schlusspunkt dieses besonderen und sehr anregend geschriebenen Buches über Europa, den taumelnden Kontinent. Philipp Blom deutet den Kriegsausbruch nicht als ein zwingendes Resultat einer enorm beschleunigten Moderne. Und trotzdem kann er ihn nicht ausblenden. Es wäre interessant gewesen, den Bogen der Darstellung noch weiter zu spannen als nur bis zum Juli 1914, etwa mit Blick auf die Erfahrung eines plötzlich hoch technisierten Massenkrieges, der ja auch Ausdruck der rasenden Moderne war. Dieses Kapitel muss ein anderer erzählen. Philipp Bloms Buch ist trotzdem ein sehr origineller Beitrag für die Beschäftigung mit einer lange verkannten Zeit. Einer Zeit, die uns mit Blick auf die Erfahrung von Schnelligkeit und Zukunftsängsten übrigens näher liegt, als wir glauben.
Philipp Bloms Buch "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900 bis 1914" ist erschienen im Carl Hanser Verlag München. 536 Seiten kosten 25,90 Euro.