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Modernist des 20. Jahrhunderts

Das Centre Pompidou widmet Edvard Munch, der neben van Gogh, Cézanne, Gauguin, Matisse und Picasso als einer der Urväter der Moderne gilt, eine Retrospektive. Der Blick konzentriert sich auf den "modernen Munch" des 20. Jahrhunderts.

Von Kathrin Hondl | 26.09.2011
    Eins gleich vorweg: "Der Schrei" ist im Centre Pompidou nicht zu sehen. Munchs bekanntestes Bild darf nicht mehr als Leihgabe um die Welt reisen. Doch auf "Munch, wie man ihn kennt" müssen die Pariser Ausstellungsbesucher nicht ganz verzichten. Im ersten Saal sind einige Meisterwerke versammelt, die wie "Der Schrei" in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden sind. "Der Kuss" etwa von 1897, "Der Vampir" oder das Bild "Pubertät" auf dem ein junges Mädchen mit verschränkten Armen auf einer Bettkante sitzt. Doch die bekannten Bilder sind nur der Prolog. Denn im Centre Pompidou konzentriert sich der Blick auf den "modernen Munch", den Munch des 20. Jahrhunderts, so die Kuratorin Angela Lampe:

    Munch ist eher als ein Künstler des 19. Jahrhunderts bekannt, als ein Symbolist, als Vorreiter des Expressionismus, als ein Naturalist. Aber man
    vergisst: Munch ist 1944 gestorben, zufällig im selben Jahr wie Mondrian und Kandinsky. Drei Viertel seines künstlerischen Werks hat er im 20.
    Jahrhundert geschaffen.

    Und Munch war nicht nur Maler, sondern auch Fotograf. 1902 kaufte er sich in Berlin eine kleine Kodak-Kamera und fotografierte von da an wie besessen - vor allem sich selbst. Unzählige Selbstporträts sind in der Ausstellung zu sehen. Edvard Munch sitzend, liegend, stehend - im Garten, im Atelier oder auf dem Krankenbett. Fotografien, die man im Centre Pompidou nicht wie in früheren Munch-Ausstellungen als simple Dokumente zeigt, sondern eben als Teil seines künstlerischen Werks. Denn Munch sei ein außerordentlich innovativer Fotograf gewesen, sagt Angela Lampe:

    Zum Beispiel hat Munch um 1930 eine Porträtreihe realisiert, wo er eine Kamera nimmt, und sie in der Hand hält und sich damit fotografiert. Also im Grunde die Geste macht, die wir heute alle machen mit unserem Handy, und das ist etwas, das überrascht und in der Fotografiegeschichte in der Art eigentlich nicht bekannt ist.

    Die Fotografien zeigen aber auch, wie wichtig letztlich die Malerei für Munch ist. Immer wieder fotografiert er sich nämlich auch vor seinen Gemälden, und er belichtet diese Aufnahmen so, dass sein Körper transparent erscheint - als ob der Künstlerkörper sich auflöst und eins wird mit der Malerei.

    Und umgekehrt wird in der Malerei sichtbar, wie wichtig die Fotografie und auch der Film für diesen Künstler waren. Edvard Munch war ein begeisterter Kinogänger, und er war von der Bilddynamik der frühen Kinofilme offensichtlich sehr fasziniert. Die Ausstellung zeigt eine ganze Reihe von Gemälden mit energisch nach vorne drängenden Motiven:
    Arbeiter, die eine Fabrik verlassen und direkt auf den Betrachter zulaufen oder ein Pferd, das galoppierend näher kommt.

    Man hat den Eindruck, es platzt aus der Leinwand heraus, und das ist auch genau das, was die frühen Kinogänger einfach gefühlt und gesehen haben. Sie hatten Angst bei den ersten Kinofilmen der Frères Lumière, der Zug, der in den Bahnhof von La Ciotat einfuhr, machte den Zuschauern Angst. Sie hatten den Eindruck, der Zug fuhr auf sie zu.

    "Ich male nicht, was ich sehe, sondern was ich sah." Dieser berühmte Satz von Edvard Munch war also nicht nur eine Absage des tiefgründigen "Seelenmalers" an die flüchtige Leichtigkeit des Impressionismus, sondern, das wird in der Pariser Ausstellung überraschend deutlich:

    Munch malte tatsächlich, was er sah. Die Dynamik der bewegten Kinobilder übertrug er in seine Malerei. Ähnlich war es mit dem Theater. Munch hatte in Berlin mit August Strindberg und Max Reinhardt zusammengearbeitet, den Verfechtern eines intimen Kammerspiel-Theaters, bei dem die Bühne einem geschlossenen Raum ähneln sollte. Unmittelbar nach seinen Erfahrungen am Theater entwarf Munch genau so eine Szenerie in der Bilderserie "Das grüne Zimmer" kammerspielhafte eindringliche Bildwelten, denen man sich nur schwer entziehen kann.

    Die Ausstellung im Centre Pompidou kommt ohne lange Kommentartexte an den Wänden aus - und das ist ihre Stärke: Allein durch Auswahl und Hängung der Bilder wird hier analysiert und sichtbar gemacht, wie Edvard Munch malte und was seine Bildsprache beeinflusste.

    Er gelingt also tatsächlich der "andere" Blick auf den alten Bekannten Edvard Munch - und er ist so spannend, dass am Ende kein Hahn mehr nach dem "Schrei" kräht.