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Modische Moderne (2/3)

Bei der modischen Moderne geht es nicht nur um den Laufsteg, sondern auch um Querverbindungen zu den Bereichen Kunst und Architektur. Die Mode Sie ist die Grenzgängerin zwischen Kommen und Gehen. Sie zeigt Leichtsinn, Übertreibung und Fieber, vor allem aber ein radikales Verhältnis zur Geschichte.

Von Mona Mahall | 10.07.2011
    "Was ist moderne Architektur?" lautete die Frage, auf die Adolf Loos eine theoretische und praktische Antwort suchte. Eine Antwort, die der österreichische Architekt nicht nur für seine Zeit geben wollte, also für die Epoche, die wir heute als die klassische Moderne des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnen. Loos ist die Frage nach der modernen Form vielmehr mit dem Anspruch auf endgültige Klärung angegangen. Nicht nur jetzt, sondern ab jetzt und für immer war die Zeitansage jeder seiner Äußerungen, egal ob gebaut oder geschrieben.

    Als Sohn eines Steinmetzes und Bildhauers 1870 in Brünn geboren, verließ Loos nach einer Maurerlehre schnell sein bürgerliches Elternhaus und kehrte nach einem Streit mit seiner Mutter nie mehr zurück. Stattdessen ging er von Österreich für einige Jahre in die USA, zunächst mit dem Ziel der Weltausstellung in Chicago, die 1893 im Jackson Park stattfinden sollte. In den USA lernte er die fortschrittliche Architektur Frank Lloyd Wrights und Louis Sullivans kennen, von der die amerikanische Szene der Jahrhundertwende geprägt war. Ohne echtes Erfolgserlebnis, aber mit einer klaren Vision kehrte Loos nach Österreich zurück und ließ sich in Wien als Architekt und Publizist nieder.

    Die Frage nach der modernen Architektur beantwortet er zunächst in Aufsätzen, Rezensionen und Polemiken. Mit Artikeln zu Mode, Kunst, Wohnen und Möbeln erarbeitet er sich zudem einen Ruf als scharfer Kulturkritiker. Zur Herrenmode schreibt er - in einer Typografie aus Kleinbuchstaben:

    Gut gekleidet sein, wer möchte das nicht? Unser Jahrhundert hat mit den Kleiderordnungen aufgeräumt und jedem steht das recht zu, sich wie der König anzuziehen. Als Gradmesser für die Kultur eines Staates kann der umstand gelten, wie viele seiner Einwohner von dieser freiheitlichen Errungenschaft gebrauch machen. In England und Amerika alle, in den Balkanländern nur die oberen Zehntausend. Und in Österreich? Ich wage diese Frage nicht zu beantworten. Ein amerikanischer Philosoph sagte irgendwo: Ein junger Mann ist reich, wenn er verstand im Kopf und einen guten Anzug im Kasten hat. Der Mann kennt sich aus. Der kennt seine Leute. Was nütze aller verstand, wenn man ihn nicht durch gute Kleider zur Geltung bringen könnte. Denn die Engländer und Amerikaner verlangen von jedem, dass er gut gekleidet ist...

    Gut angezogen sein, was heißt das? Das heißt korrekt angezogen sein. Korrekt angezogen sein! Mir ist, als hätte ich mit diesem Wort das Geheimnis gelüftet, mit dem unsere Kleidermode bisher umgeben war. Mit Worten wie schön, schick, elegant, fesch und forsch wollte man der Mode beikommen. Darum handelt es sich aber gar nicht. Es handelt sich darum, so angezogen zu sein, dass man am wenigsten auffällt. Ein roter Frack fällt im Ballsaale auf. Folglich ist der rote Frack im Ballsaale unmodern. Ein Zylinder fällt auf dem eise auf. Folglich ist er auf dem eise unmodern. Alles auffallen aber gilt in der guten Gesellschaft für unfein.


    Und jede Mode als unmodern, könnte man mit Loos folgern. Die englische Tradition stellt sich für Loos als das klassisch moderne Ideal heraus. In England finden sich vorbildliche hunting dresses, Uniformen und Frack coats. Norfolkjaquets und Coaching coats werden hier in perfekter Reinform geschneidert. Die englischen Hüte sind das Ergebnis unendlicher Feinfühligkeit, großer Sensibilität für Vornehmheit und feiner Witterung für das Kommende. Die Österreicher, könnten, Loos zufolge, froh sein, einen drei Jahre alten englischen Hut zu bekommen:

    Das wäre für uns noch ein so hypermoderner Hut, dasser in Wien noch niemandem auffallen würde. Und das kann man von einem modernen Hut verlangen. Die Mode schreitet langsam, langsamer als man gewöhnlich annimmt. Gegenstände, die wirklich modern sind, bleiben es auch lange. Hört man aber von einem Kleidungsstück, das schon in der nächsten Saison unmodern wurde, das heißt mit anderen Worten unangenehm auffiel, dann kann man auch behaupten, dass es nie modern war, sondern sich fälschlich als modern ausgab.

    Loos wendet sich nicht nur gegen die falsche Mode, sondern gegen jede Form von Falschheit. In der Architektur nimmt er diese vor allem im Umgang mit Materialien und Oberflächen wahr. Imitationen oder "Surrogatarbeiten", wie Loos sie nennt, bringen ihn in Rage und zur Moralpredigt. Er wendet sich gegen Papiertapeten, die Seidendamast sein wollen, gegen Möchte-gern-Mahagoni, gegen Kupfer- oder Bronzeanstriche und vor allem gegen den Zementguss zur Imitation von Stukkateur-Arbeiten. Dabei hätten wiederum die Engländer gezeigt, wie es gemacht wird: Loos beruft sich, wie zuvor schon Hermann Muthesius vom deutschen Werkbund, auf die englischen Wohnhäuser, mit Tapeten, die "sich nicht schämen aus Papier zu sein".

    Auch wenn sich Loos textlich gern an solchen Details abarbeitet, architektonisch geht es ihm um die Gesamtanlage des englischen Landhauses, das er kontinental interpretiert und weiterentwickelt. Dabei spielt die zweigeschossige Halle im Zentrum des Gebäudes die Hauptrolle. Sie enthält eine Treppe mit Zwischenpodesten und erzeugt ein Raumgefüge mit Bezügen in alle Bereiche des Hauses. Sie dient dem internen Verkehr und markiert die offenste Zone der Wohnung, die sich in unterschiedliche Privatheiten differenziert.

    Aus diesem Motiv der Halle entwickelt Loos den Raumplan, eine Entwurfsmethodik, die das Gebäude von innen heraus, als komplexes dreidimensionales Raumgefüge versteht. In diesem Gefüge durchdringen sich Ebenen, entstehen Nischen, Treppen und Plateaus, und es bildet sich ein Weg durch das Haus, der nicht nur Verkehrsraum, sondern zugleich Wohnraum ist.

    Im Grunde geht Loos als Kulturtheoretiker noch weiter: Er identifiziert das Ideal abendländischer Zivilisation mit der anglo-amerikanischen cosiness, der Bequemlichkeit. Hier erkennt er das moderne Leben und den modernen Menschen, der in einem sachlichen, aus den Funktionen und dem komfortablen Gebrauch abgeleitetem Haus wohnt.

    Die englische Architektur erscheint als Gegenentwurf zur zentraleuropäischen "Stilarchitektur", die als unecht und scheinhaft entlarvt wird. Gemeint ist der Jugendstil, vor allem die Wiener Sezession, vertreten durch Joseph Maria Olbrich und Josef Hofmann. 1897 gegründet war die Vereinigung bildender Künstler Wiener Secession, die österreichische Variante des Jugendstils, für Loos das, was für Karl Kraus der literarische Kreis des Jungen Wien war: der erklärte, künstlerische Feind.

    Brauchen wir den 'angewandten Künstler'?

    Nein.
    Alle Gewerbe, die bisher diese überflüssige Existenz aus ihrer Werkstatt fernzuhalten wussten, sind auf der höhe ihres könnens. Nur die Erzeugnisse dieser Gewerbe repräsentieren den Stil unserer Zeit. Sie sind so im Stile unserer Zeit, dass wir sie - und das ist das einzige Kriterium - gar nicht als stilvoll empfinden. Sie sind mit unserem Denken und Empfinden verwachsen. Unser Wagenbau, unsere Gläser, unsere optischen Instrumente, unsere Schirme und Stöcke, unsere Koffer und Schmuckstücke, unsere Juwelenarbeiten und Kleider sind modern. Sie sind es, weil noch kein Unberufener sich in diesen Werkstätten aufzuspielen versuchte.


    Unberufen sind für Loos vor allem die Künstler, die sich ins Handwerk einmischen, die fremdes Terrain erobern möchten, um den modernen Stil der Zeit zu finden. Dabei bemerken sie nicht, dass die einfachen Dinge schon modern sind, und es nicht erst durch ihre Formänderungen und Formeingriffe werden. Im Gegenteil, an den pseudo-modernen Formen der angewandten Künstler erkennt der moderne Mensch die Barbarei. An den "aufpatronierten" und "eingelegten" Ornamenten nimmt er das Missverständnis wahr. Der moderne Mensch hält nämlich ein "untätowiertes Antlitz für schöner als ein tätowiertes".

    Aber ich gehe weiter. Ich sage es frei heraus, dass ich meine glatte, leicht gebogene, exakt gearbeitete Zigarettendose schön finde, dass sie mir ein inniges ästhetisches Vergnügen bereitet, während ich die von einer dem Werkbunde angehörigen Werkstätte (Entwurf Professor soundso) scheußlich finde. Und wer einen stock mit silbernem Griff aus solcher Manufaktur trägt, ist für mich kein Gentleman.

    Die Verbindung von Ethik und Ästhetik, von Gut und Schön durchzieht die gesamte Loossche Argumentation: Sie bildet das Fundament eines Artikels über einen fiktiven reichen Mann, der glücklich war bis zu dem Zeitpunkt, als er sein Haus in die gestaltenden Hände eines Architekten gab. Dann war kein Leben mehr möglich in einem Gesamtkunstwerk aus Jugendstil, das für nichts mehr Platz gelassen hatte, weder für alltägliches Leben noch für irgendwelche Wünsche oder Träume.

    Die Verbindung von Ethik und Ästhetik findet ihren berühmten Höhepunkt in Ornament und Verbrechen, einem Aufsatz, der 1908 erstmals publiziert wurde. Darin verurteilt Loos jede moderne Dekoration, jedes Ornament als Zeichen des Amoralen oder Verbrecherischen. Primitive und Kinder, die Wände bekritzeln haben noch kein Verständnis für den ethischen Zusammenhang der Form. Moderne Menschen, die Ornamente bewusst schaffen, sind dagegen Degenerierte oder Verbrecher. Sie missachten die Loossche Erkenntnis, nach der kulturelle Evolution heißt, das Ornament vom Gebrauchsgegenstand zu entfernen. Je weiter eine Kultur in ihrer Entwicklung fortgeschritten ist, desto weniger benötigt und will sie das Ornament:

    Wenn ich ein Stück Pfefferkuchen essen will, so wähle ich mir eines, das ganz glatt ist und nicht ein Stück, das ein Herz oder ein Wickelkind oder einen Reiter darstellt, der über und über mit Ornamenten bedeckt ist. Der mann aus dem fünfzehnten Jahrhundert wird mich nicht verstehen. Aber alle modernen Menschen werden es. Der Vertreter des Ornaments glaubt, dass mein drang nach Einfachheit einer Kasteiung gleichkommt. Nein, verehrter Herr Professor aus der Kunstgewerbeschule, ich kasteie mich nicht! Mir schmeckt es so besser.

    Hinzu kommt, dass der moderne Mensch sich das Ornament nicht mehr leisten soll, weder wirtschaftlich noch gesundheitlich. Loos zufolge darf moderne Kultur nicht ständig und nach unterschiedlichen Moden verpacken, dekorieren oder ornamentieren. Sie ist keine moderne Kultur, solange sie Schichten aufträgt auf eine darunterliegende, wahre Form. Sie ist so lange nicht modern, so lange sie Formen findet, die der Zeit nicht folgen und die schöne Kunst sein wollen. Sie ist so lange nicht modern, so lange sie die "Schönheit des nackten Steines" nicht empfinden kann.

    Moderne Form meint bei Loos die Reduktion jeder Form auf ihren ehrlichen Kern, die totale Entkleidung von jedem Ornament zugunsten ihres reinen, wahren Nacktseins.

    Als Loos nach langer Zeit des Theoretisierens seinen ersten großen architektonischen Auftrag bekommt, weiß er, dass er nichts an überlieferten architektonischen Formen ändern muss, sondern dass er diese zu reduzieren und zu befreien hat von allen künstlerischen Krusten.

    Unauffällig muss das Haus aussehen. Hatte ich nicht einmal den Satz geprägt: Modern gekleidet ist der, der am wenigsten auffällt.
    Sein "Looshaus" auf dem Michaelerplatz in Wien provozierte jedoch großes Aufsehen. Die Schneiderfirma für feine Herrenkleider, Goldmann & Salatsch, hatte einen Wettbewerb für ein neues Geschäftshaus ausgelobt, der aber keinen geeigneten Entwurf für den renommierten Platz gegenüber der Hofburg lieferte. Man fasste den Beschluss, Adolf Loos mit der Aufgabe zu betrauen. Das Ergebnis endete 1909 in einem Architekturskandal. Die Fassade des Gebäudes war tatsächlich nackt, ohne Gesimse, ohne Schmuck, ohne alles.

    Die Wiener Bevölkerung war empört, umso mehr als das Haus in einem Kontext von reich geschmückten Prachtbauten steht. Kaiser Franz Joseph I. fühlte sich durch das Nichts so gestört, dass er im gegenüberliegenden Michaelertrakt der Hofburg die Vorhänge dauerhaft schließen ließ. Ein Baustopp wurde verhängt, der erst wieder aufgehoben wurde, als sich Loos einverstanden zeigte, wenigstens Blumenkästen aus Bronze an den Fenstern des Hauses ohne "Augenbrauen" anzubringen.

    Das Looshaus erschien nicht unauffällig modern, sondern vielmehr extravagant wie der englische Dandy. Wenn man die Loossche Aussage zur modernen Unauffälligkeit zurückverfolgt, gelangt man tatsächlich zum "Dandy der Dandies" George Bryan Brummel, genannt Beau Brummel. Von ihm stammt die Aussage, wonach man, um elegant zu sein, nicht auffallen dürfe. Dass dieser Dandy äußerst auffällig ist, legt eine Beschreibung Walter Benjamins nahe, der ihn als "letzte Verkörperung und als wahres Subjekt der modernité" bezeichnet. Auch Albert Camus sieht die Rolle des Dandys gerade nicht im unauffällig Angepassten, sondern in der Opposition. Nur in der Herausforderung kann der Dandy sich selbst bewahren.

    Natürlich gilt England als das Land des gelebten Dandyismus, eines Lebens, das in Londons Clubs, Salons und Ballhäusern schon Mitte des 19. Jahrhunderts geführt wurde. Es ist ein Leben in Zeiten des Übergangs, nicht als Ausdruck einer bestimmten Periode, sondern vielmehr gegen diese gerichtet. Der Dandy lebt in der Opposition, er lebt eine Sonderexistenz und reagiert präzise auf seine Umwelt. Er wurde als Figur des Widerstands beschrieben, und als der letzte Rettungsversuch für das moderne Subjekt.

    Der Dandy will seine Umwelt herausfordern, er testet Grenzen der gesellschaftlichen Ordnung, zumindest in der ästhetischen Regelübertretung. Seine Haltung ist die der Distanz gegenüber allen anderen und sein quasi-aristokratischer Anspruch bezieht sich vor allem auf die Form: auf eine Gegenform zu den herrschenden Strukturen, zur monotonen Realität der Massengesellschaft. Der Dandy träumt vom künstlichen Paradies und formt sich selbst entsprechend seiner Vision. Er ist Künstler und Kunstwerk zugleich und gilt als Prototyp des elitären Avantgardisten vom Anfang des 20 Jahrhunderts.

    Ein Avantgardist wie Adolf Loos hat sich immer in großer Distanz zu seinem Wiener Umfeld wahrgenommen. Mehr noch, er war ein Avantgardist, der die Distanz zu seinem Umfeld gesucht hat, in kritischen Polemiken, scharfen bis zynischen Beobachtungen, in einer empfundenen Einsamkeit. Und vor allem in seinem architektonischen Schaffen. Wie es sich für einen österreichischen Dandy gehört, ging es Loos um die Antiposition zur zeitgenössischen Wiener Architekturszene der Sezession. Gegen dieses Umfeld wollte er entwerfen und eine Form der Negation, eine Antiform finden.

    Er wies jede oberflächliche Modearchitektur, vom Historismus bis zum Jugendstil zurück. Dabei differenzierte er wenig, obwohl er wusste, dass nicht einmal der Jugendstil eine geschlossene Bewegung darstellte, sondern viele verschiedene Ausprägungen hatte. Loos war sich sehr bewusst darüber, dass er in seiner Kulturkritik eine Reihe von teilweise sehr divergierenden Strömungen innerhalb Europas über einen Kamm scherte. Ihm war klar, dass der Jugendstil selbst mit modernem Anspruch auftrat und die Abkehr vom Historismus forderte, im Grunde von jeder Nachahmung historisch überlieferter Formvorbilder.

    Als scharfer Beobachter nimmt Loos jedoch wahr, was alle diese sogenannten Stilrichtungen verbindet: die Betonung der Fläche. Gegen solch eine zweidimensionale Stilarchitektur, gegen die Interpretation der Wand als Fläche für Applikationen tritt Loos an. Konsequent wendet er sich gegen die zeitgenössische Mode des Grafischen, der Zeichnung, der Blumen- und Pflanzenornamentik in der Architektur.

    Fürchterlich aber ist es, wenn eine Architekturzeichnung, die man durch die art ihrer Darstellung schon als grafisches Kunstwerk gelten lassen muss - und es gibt wirkliche grafische Künstler unter den Architekten - in stein, eisen und glas ausgeführt wird. Denn das Zeichen des echt empfundenen Bauwerks ist: dass es wirkungslos in der fläche bleibt.

    Sein Gegenangebot ist der Raum, vor allem der nach Innen gerichtete Raum, ganz im Sinne der Unauffälligkeit, die der Dandy proklamiert. Die Architektur ist für Loos die dreidimensionale Raumdurchdringung, der schon erwähnte Raumplan, der die Wand nicht als Fläche, sondern als körperliches Gefüge wahrnimmt. Besonders nach außen, ein ehrlicher, weil einfacher, nackter Körper, der befreit wurde von allem Überflüssigem. Gegen alle modischen Kostümierungen, entwirft sich der Dandy ein ernstes, nüchternes und sachliches Äußeres, in der festen Überzeugung, dass darin das moderne Leben lokalisierbar wäre.

    Loos gestaltet ein Haus, das sich gerade in seiner Einfachheit und Reduktion gegen seine Wiener Umwelt abhebt. Es stellt sich gegen den flachen Mainstream, als eine Art ästhetischer Panzer im Loosschen Kampf, der wiederum vergleichbar ist mit dem Feldzug, den Karl Kraus gegen die Verflachung der Sprache unternommen hat. Was für Loos die gestaltete Welt, war für Kraus die Sprache voller Phrasen und hohler Worte. Wie Loos kämpft Kraus gegen den Mainstream der breiten Öffentlichkeit, verkörpert im Feuilleton:

    Die Verschweinung des praktischen Lebens durch das Ornament, wie sie Adolf Loos nachweist, entspricht jener Durchsetzung des Journalismus mit Geistelementen, die zu einer katastrophalen Verwirrung geführt hat. Die Phrase ist das Ornament des Geistes.

    Gegen romanische Verspieltheit setzt Loos englischen common sense. Gegen überkommene Stilformen hält er den reinen Raum. Dieser Raum ist vom Interieur her gedacht, von der Idee der modernen Wohnung, die das private Individuum und sein Leben von der Öffentlichkeit abschirmen soll. Loos versteht unter dem Schirm eine neutrale Schicht, die stumm bleibt und zurückhaltend ist bezüglich jeder Aussage über das Innere. In seinen Häusern geht es nicht um die Transparenz einer modernen Glasarchitektur, sondern um den Schutz hinter einer starren Maske.

    Loos steckt alle seine Energie in die Entwicklung einer Formensprache, die der modernen Individualität geschützte Freiräume bietet. Jedoch ist nicht nur die Wohnung als paradigmatische Aufgabe zeitgenössischer Architektur gemeint, sie ist Teil der Loosschen Arbeit an einer modernen Lebensform.

    Im Jahr 1903 publiziert er sein eigenes Magazin, das unter dem Titel Das Andere: Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich nur in zwei Ausgaben erscheint. Mit einem Dandy auf dem Titel ist diese Zeitschrift tatsächlich ein kulturtheoretisches Manifest zur Anti-Form. In ihm sind alle Ebenen des Lebens behandelt, von Kleidung über Möbel bis zum Essen. Der Titel Das Andere bezieht sich dabei doppeldeutig auf Peter Altenbergs Zeitschrift über Kunst und alles andere und auf den faktischen Generalwiderspruch gegenüber der etablierten Wiener Kultur.

    Der Titel alleine ist schon reine Provokation, denn Wien begriff sich ja als die avancierteste und modernste Metropole des europäischen Kontinents. Loos sucht jedoch die Herausforderung und hält an der absoluten Notwendigkeit fest, den wahren, modernen Standard erst nach Wien bringen zu müssen.
    Auszug aus einem Gespräch:

    a: "Ihr Blatt ist ja ganz gut, aber der titel ist eine Frechheit! "
    b: "Warum? Ich verstehe nicht ---"
    a: "Nun das mit der abendländischen Kultur. Die besitzen wir doch! "
    b: "Gestatten sie eine Zwischenfrage: halten sie den gebrauch des Klosettpapiers, oder, um mich deutlicher auszudrücken, des Papiers überhaupt, für einen wesentlichen Bestandteil der abendländischen Kultur? "
    a: "Gewiss. "
    b: "Und noch eine Zwischenfrage: könnte ein Zulukaffer, der einen Zylinder aufsetzt, behaupten, er sei nach den begriffen abendländischer Kultur gekleidet? "
    a: "Gewiss nicht, ich würde sagen, zur zivilisierten Kleidung fehlen ihm noch achtzig Prozent. "
    b: "Ganz gut. Und sehen sie: Achtzig der Bewohner Österreichs ist der gebrauch des genannten Papiers vollständig fremd. "
    a: "Ist das möglich? "
    b: "Es ist so. Jeder Offizier, der bei der Truppe dient, kann ihnen das bestätigen. "
    a: "Ja, aber diese achtzig Prozent werden sie durch ihr Blatt nicht bekehren. Sie können sie ja nicht erreichen. Den Lesern dieses Blattes werden sie doch die abendländische Kultur nicht absprechen wollen?"

    "Gewiss nicht,"

    antwortet Adolf Loos auf diese Frage. Natürlich hat er nicht ernsthaft an die Wiener Kulturlosigkeit geglaubt. Aber er glaubte daran, Wien die zeitgenössische Mode des Jugendstils ausreden zu müssen, um diese durch eine andere Moderne abzulösen. Mode und Moderne kann man dabei, gegen Loos, als Synonyme begreifen. Sein Anderes war tatsächlich nur ein Anderes, kein Besseres und kein Wahres.

    Das hat die Reaktion auf das Loos-Haus und die weitere Architekturgeschichte deutlich gemacht, indem sie Loos' Fassaden selbst als unehrliche, weil das Innere verbergende, Masken entlarvte. Und weil sie offenlegte, dass Anti-Form, wie der Dandy sie propagierte, nicht das Ende der Form, sondern nur eine weitere Formschicht, also selbst Ornament, bedeutete.

    Die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, inwieweit "das Andere" als Avantgarde-Strategie zu identifizieren ist. Eine Avantgarde, die zwar der Mode immer einen Schritt voraus ist, die aber trotzdem Teil der Mode bleibt. Diese Mode erscheint als die Funktion der modernen Kultur. Sie erscheint als das dynamische Prinzip einer Moderne, die auf einer ständigen Umwertung der bestehenden Werte basiert. Das Eine wird vom Anderen abgelöst und umgekehrt.

    "Das Loo'sche Andere" lag in der Opposition zur Wiener Kultur, die als das Eine ersetzt werden sollte, um Loos zum Schöpfer einer neuen Kultur zu machen. Um diese neue Kultur als rational, ökonomisch und modern darzustellen, musste er die etablierte Kultur des Jugendstils für irrational, verschwenderisch, primitiv erklären und sogar als kulturlos kriminalisieren. Jedoch ist offensichtlich, dass seine Gebäude zumindest ebenso teure, maßgeschneiderte haute couture waren, die zudem einen irrationalen Fetisch für edle Materialien offenbarten. Sie inszenierten und erotisierten den Innenraum bis hin zur gebauten Fantasie.

    Loos' Entwurf zu einem Haus für die berühmte Tänzerin Josephine Baker von 1928 sollte eine horizontal schwarz-weiß gestreifte Marmorfassade erhalten. Das Innere glich einem Etablissement mit verschiedenen Empfangsräumen und einem Café in einem Turm an der Frontseite des sonst einfachen kubischen Gehäuses. Im Zentrum sollte ein Schwimmbad Platz finden, das durch eine Glaskuppel im Dach großartig beleuchtet würde. Das Schwimmbad selbst sollte durch Schaufenster für alle Gäste einsichtig sein, so dass man der Tänzerin auch beim Schwimmen zusehen könnte. Leider wurde dieser modische Entwurf nie realisiert.

    Dagegen wurde der Ornamentverzicht in der Folge selbst als kultureller Zerfall interpretiert und als Bejahung der modernen Unfähigkeit, überhaupt Ornamente zu schaffen. Der österreichische Literat Hermann Broch erkannte darin das grundlegende Problem des modernen Denkstils mit seiner nackten, rein funktionellen Logik, die keine höheren Zwecke mehr kenne, außer jenen von Handel und Krieg. Für ihn war die Architektur von Loos zunächst ein Beispiel für die zeitgenössische, oberflächliche und mangelhafte Kunstanstrengung, und er forderte eine ethische Kunst an ihrer Stelle. Dass Broch seine Meinung über Loos und die moderne Architektur später ändern wird, offenbart das moderne Dilemma, das Nietzsche in einen Satz gefasst hat:

    Jedes Wort ist ein Vorurteil.

    Loos hatte aber keine andere Wahl. Er musste sich als Dandy und seine Formensprache als das Andere darstellen, um sich in der hart umkämpften Wiener Kulturszene hervorzutun. Dass er dafür die Anti-Position zur Wiener Sezession und zum Deutschen Werkbund wählte, war das strategische Mittel auf dem Weg zur eigenen formalen Identität. Diese Identität ist in der modernen Kultur nur durch die Negation des Vorgefundenen möglich. Als strategische Negation spielt sie nicht nur in der künstlerischen, sondern auch in der architektonischen Avantgarde die zentrale Rolle im Kampf um kulturelle Aufmerksamkeit. Eine Form der Aufmerksamkeit, die besonders anfällig ist für schnelle Wechsel, für das Neue, Überraschende und für die flüchtige Mode.

    Natürlich wendet sich die Avantgarde aggressiv gegen das Modische, gegen das Flüchtige und Oberflächliche - in besonderem Maße die Architektur, die auf eine Tradition des Klassischen und der formalen Kontinuität zurückblickt. Sie sucht sich das Alibi in einer scheinbar rationalen, modernen Form, die nicht nur ökonomisch, sondern endgültig sein soll. Dabei hat schon Georg Simmel festgestellt, dass gerade die Attitüde vom ewigen Leben das paradoxeste Merkmal der Mode selber sei.

    Auch Loos gibt sich als englischer Gentleman aus, als Dandy, der gerade nicht der Mode folgt. Tatsächlich folgt der Dandy nicht der Mode, sondern führt diese an. Der Dandy bestimmt, was zu tragen ist, wann und für wie lange. Er ist ein fashion master, der sich sogar selbst widersprechen muss. Denn sein Regelbruch ist die einzige Regel, die für ihn gilt. Der Dandy gehört zur elitären Schicht, die man heute als Szene bezeichnet, die mediale Aufmerksamkeit genießt und immer einen stilistischen Schritt voraus zu sein scheint.

    Dass dieser Dandy immer noch eine Schlüsselfigur heutiger Kultur darstellt, steht außer Frage. Er oder sie trägt nicht mehr unbedingt den schwarzen Gentleman-Look, aber er oder sie führt immer noch die Avantgarde einer endlosen Moderne an.

    Für sein Magazin hatte Loos einige solcher Titel mit Führungsanspruch notiert: "Das Eigene", "der Same" und "der Einsame" verraten genauso wie "Adolf Loos" und "der Mahner", um was es ihm bei diesem Magazin ging. Nicht die abendländischen Kultur wollte Loos in Wien einführen, sondern vielmehr seine Vision einer neuen, anderen formalen Sprache für die moderne Kultur. Dieses Andere sollte das Eine werden und Loos sein Überarchitekt: Auszug aus "Aus meinem Leben (1903)"

    b: "Ich treffe den berühmten modernen Raumkünstler X. auf der Straße. Guten Tag, sage ich, gestern habe ich eine Wohnung von ihnen gesehen."
    a: "So - welche ist es denn?"
    b: "Die des Dr. Y."
    a: "Wie, die des Dr. Y. Um Gottes Willen, schauen sie sich doch den Dreck nicht an. Das habe ich vor drei Jahren gemacht."
    b:"Was sie nicht sagen! Sehen sie, lieber Kollege, ich habe immer geglaubt, zwischen uns gibt es einen prinzipiellen Unterschied. Nun sehe ich, dass es sich nur um einen Zeitunterschied handelt. Einen Zeitunterschied, den man sogar in Jahren ausdrücken kann. Drei Jahre! Ich habe nämlich schon damals behauptet, dass es ein Dreck ist - und sie tun das erst heute."

    Modische Moderne:


    Teil 1: Aufriss der Avantgarden - Dada-Dandy und Punk