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Möglicher Rechtsruck

Bei der Stichwahl um das chilenische Präsidentenamt am kommenden Sonntag deutet sich ein äußerst knapper Ausgang an. Nach Umfragen lagen der Kandidat des regierenden Mitte-Links-Bündnisses Edurardo Frei und sein konservativer Herausforderer Sebastián Piñera in etwa gleichauf.

Von Peter B. Schumann | 16.01.2010
    Wahlkampf in Chile. Die zweite und entscheidende Runde im demokratischen Kampf um die Moneda, den Präsidentenpalast. Von den ursprünglich vier Kandidaten sind zwei übrig geblieben: der 67-jährige Christdemokrat Eduardo Frei, den die Regierungskoalition aufgeboten hat, und der 60-jährige Milliardär Sebastián Piñera, der für die oppositionelle Rechte antritt.

    20 Jahre lang hat das Regierungsbündnis aus Christ- und Sozialdemokraten den Sieg der rechts-konservativen Kräfte und Erben der Pinochet-Diktatur verhindert. Aber bei der morgigen Wahl könnte eine Wende nach rechts eintreten, könnte ein rechter Präsident siegen - zum ersten Mal auf demokratischem Weg seit einem halben Jahrhundert. Es ist also eine historische Wahl, bei der auch eine Epoche zu Ende gehen könnte: die zwei Jahrzehnte der Concertación, des sogenannten chilenischen Modells, das dem Land wirtschaftlichen Aufschwung und politische Stabilität garantierte. Präsident Patricio Aylwin im März 1990:

    "Es ist eine großartige und vielfältige Aufgabe, die wir vor uns haben: ein Klima des Respekts und des Vertrauens zu schaffen im Zusammenleben der Chilenen, ganz gleich welche Glaubensrichtung, Ideen und Haltungen sie vertreten oder welcher gesellschaftlichen Herkunft sie sind, Zivile oder Militärs - jawohl Landsleute: Zivile oder Militärs, es gibt nur ein Chile."

    Mit diesen Worten hat Patricio Aylwin vor rund 20 Jahren ein neues Kapitel der chilenischen Geschichte aufgeschlagen: das Ende der Pinochet-Diktatur und den Wiederbeginn der Demokratie. Er versuchte sogleich zu versöhnen, eine Brücke zu schlagen über den tiefen Graben zwischen den Exekutoren der 16-jährigen Gewaltherrschaft und dem Großteil der Bevölkerung.

    Aufmerksam tastend bewegte man sich aufeinander zu, nannte das Projekt nicht etwa demokratischen Neuanfang, sondern Transición, Übergang. Und die Parteien-Koalition, auf der es basierte, wurde als Concertación, konzertierte Aktion, bezeichnet. Denn auch hier mussten zwei Partner zusammenspielen, die in der Vergangenheit Gegner waren: die Sozialisten und die Christdemokraten, die ursprünglich den Putsch unterstützt hatten. Eine komplizierte Situation. Antonio Skármeta, Schriftsteller und zeitweise Botschafter in Deutschland:

    "Chile konnte sich nicht sofort nach dem Ende der Diktatur demokratisieren, weil die Militärs es nach wie vor 'beschützten'. Sie wollten verhindern, dass sich das Land gegen jene Kräfte wendete, auf die sie sich während der Diktatur gestützt hatten. Auch erwies sich die neue Demokratie als reichlich instabil. Die demokratischen Kandidaten hatten zwar 51 oder 52 Prozent der Stimmen erhalten und die Parteigänger Pinochets nur etwa 47 Prozent. Aber faktisch hielten die Militärs und die Wirtschaftskräfte die Macht in Händen, und deshalb mussten die Demokraten sehr vorsichtig vorgehen, um ihre Gegner, die sie bei den Wahlen besiegt hatten, nicht zu verärgern."

    Das erklärt den Versöhnungskurs von Patricio Aylwin. Es wird aber auch von einem Stillhalte-Abkommen, sogar von einem Pakt gesprochen, auf dem diese neue Demokratie beruhte, einem Pakt zwischen der regierenden Mitte-Links-Koalition und den Militärs. Der Historiker Alfredo Jocelyn-Holt:

    "Es war eigentlich eine Allianz zwischen der Concertación und der Diktatur, die es erlaubte, das Erbe der Diktatur fortzuführen, vor allem die Verfassung von 1980 und das neoliberale Wirtschaftsmodell. Eine Allianz zwischen der Rechten, den Putschisten und Militärs einerseits sowie der Christdemokratischen Partei und den Sozialisten andererseits. Und in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Verfassung auch nicht wesentlich verändert. Zwar wurden einige Vergünstigungen der Militärs abgeschafft, aber alle Klauseln, die sich auf die nationale Sicherheit beziehen, stellen den Militärs nach wie vor Blankoschecks aus."

    Diese haben ihre Rolle in der Demokratie inzwischen neu definiert. Das hat lange gedauert und wäre ohne die Verhaftung Pinochets 1998 in London wegen Verbrechen gegen die Menschheit nicht so leicht möglich gewesen. Hinzu kam, dass ihm und seiner Familie eine Reihe von Korruptionsfällen nachgewiesen werden konnte. Dadurch verlor der Saubermann sukzessive an Prestige unter seinen Heerscharen. Das Militär ging ganz allmählich auf Distanz zu Pinochet, seinem obersten Dienstherrn. Die Historikerin Verónica Valdivia Ortíz de Zárate:

    "Bis 1998 haben die Streitkräfte immer wieder die politische Entwicklung bedroht. Es gab zwar keine großen Putschversuche, aber 1991 und 1993 Ansätze dazu. Auch behielten sie ihre Autonomie und konnten ihre Oberkommandierenden sowie ihre Institutionen selbst bestimmen. Erst im Jahr 2004 bekannte der neue Oberkommandierende Juan Emilio Cheyre, dass die Streitkräfte Menschenrechtsverletzungen begangen und Menschen verschleppt hatten."

    Die Vergangenheit ist aber ein noch längst nicht abgeschlossenes Kapitel, weil die juristische Aufarbeitung nur zögernd in Angriff genommen wurde. Verurteilt wurden bis heute überhaupt nur 56 Verantwortliche. Dabei sind rund 2000 Fälle von Verschwundenen und 28.000 Fälle von Gefolterten dokumentiert. Das Amnestie-Gesetz und eine willfährige Justiz verhinderten zunächst eine gründliche Auseinandersetzung. Doch hin und wieder finden sich mutige Richter wie im vergangenen Herbst, als auf einen Schlag 129 ehemalige Mitarbeiter der DINA, der brutalsten Repressionstruppe Pinochets, festgesetzt wurden. Juristisch sind inzwischen solche Maßnahmen möglich, weil sich die Formel von der "fortgesetzten Entführung" international durchgesetzt hat. Der Politologe Arturo Fontaine:

    "Sie beruht auf der folgenden Idee: Solange kein Körper gefunden wird, obwohl alles darauf hindeutet, dass die Person tot ist, gehen die Gerichte davon aus, dass sie noch lebt, dass sie entführt wurde, sich irgendwo befindet. Solange es also diesen Beweis für den Tod nicht gibt, greift auch die Amnestie nicht, denn das Verbrechen könnte noch andauern, und solange kann es untersucht und abgeurteilt werden."

    Neben dem politischen Konsens bildete die Übereinkunft über das ökonomische System die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg der Concertación und damit für die Zukunft der Demokratie. Er ist die zweite Säule des sogenannten chilenischen Modells. Antonio Skármeta:

    "Über die Wirtschaftsentwicklung gab es zwischen den großen Parteien keinerlei Diskussion. Über die neoliberale Wirtschaftsform und die für das Land entscheidende Exportpolitik waren sich die herrschenden Kräfte beider Lager völlig einig. Und die kleinen Parteien, die mit der neoliberalen Richtung nicht einverstanden waren, besaßen keinerlei parlamentarische Repräsentanz und waren auch in keinem anderen Organ vertreten. Sie befanden sich außerhalb des Systems."

    Man könnte fast von Kohabitation zwischen den beiden, an sich feindlichen Lagern sprechen. Aber sie war ein Erfolgsrezept. Ein paar Zahlen:

    Das Wirtschaftswachstum ist bei einem Jahresdurchschnitt von 4,9 Prozent in den letzten drei Jahrzehnten fast doppelt so hoch wie im übrigen Lateinamerika. Das Bruttoinlandsprodukt ist mit rund 10.000 Dollar pro Kopf das höchste der Region. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika hält Chile auch für einen Spitzenreiter beim Investitionsklima. Und für Transparency International gilt das Land als das am wenigsten korrupte im südlichen Amerika. Experten prophezeien, dass der kleine Staat mit 17 Millionen Einwohnern in diesem Jahrzehnt den Status eines Entwicklungslandes verlassen wird.

    Das Erfolgsmodell Concertación bewirkte jedoch auch zahlreiche soziale Brüche in der chilenischen Gesellschaft, eine Kluft zwischen Arm und Reich, eine der tiefsten auf dem gesamten Kontinent. Die Regierung versuchte zunächst nur zögerlich, mit sozialen Maßnahmen gegenzusteuern, um die negativen Folgen des ungebremsten Wirtschaftsliberalismus zu dämpfen. Die beiden sozialdemokratischen Präsidenten, Ricardo Lagos und Michelle Bachelet, verstärkten dann im letzten Jahrzehnt die Hilfsprogramme für den ärmsten Teil der Bevölkerung. Der Politologe Arturo Fontaine:

    "Als die Regierung an die Macht kam, lebten 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Grenze extremer Armut. Heute sind es noch 13 Prozent, es ist also nur etwa jeder Zehnte betroffen. Ein ungeheurer Fortschritt. Es gelang aber nicht, die extreme Ungleichheit der Einkommen zu reduzieren. Sie ist auf einem ganz ähnlichen Niveau geblieben, allerdings sind die Einkünfte insgesamt gestiegen, und die Armut ist insgesamt zurückgegangen."

    Die Skyline des Wohlstands - der luxuriösen Wohntürme und der glitzernden Glaspaläste von Banken, Hotels und Unternehmen - wirft auf die Benachteiligten dieses Systems tiefe Schatten. Zwei Lehrerinnen, kurz vor der Pensionierung:

    "Unsere Pension reicht noch nicht einmal für die Medikamente, die wir brauchen, ganz zu schweigen fürs Überleben. Und wenn ich heute was am Magen habe, dann darf ich in drei Monaten wiederkommen, weil es in der Klinik keine Termine für eine Untersuchung oder gar eine Operation gibt. Das ist die triste Wirklichkeit eines Rentners, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, im Bildungswesen, so wie wir. Wir von der Mittelschicht erhalten keinerlei Unterstützung. Niemand kümmert sich um uns. In diesem Land ist es besser, ganz arm zu sein. Denn dann wird einem das Licht bezahlt, das Wasser, die Unterkunft, und man erhält noch weitere Vergünstigungen."

    Die Probleme der Mittelschicht hat die Concertación vernachlässigt. Sie leidet unter niedrigen Löhnen, und viele Rentner klagen über niedrige Renten, vor allem viele Lehrer. Denn die Diktatur hatte in ihrem Dezentralisierungswahn das Schulwesen umgekrempelt. Es ist zwar schon seit langem gespalten in einen öffentlichen und einen privaten Bereich. Aber damals war die Pinochet-Regierung noch einen Schritt weiter gegangen und hatte die öffentlichen Schulen den Kommunen aufgehalst - mit erschreckenden Folgen. Arturo Fontaine:

    "Die Verwaltung durch die Gemeinden war einfach schlecht. Die Schulen waren staatlich und gehörten bis Anfang der 80er Jahre zum Erziehungsministerium. Dann gingen sie in die Kommunen über. Aber die verfügten gar nicht über die nötige Kompetenz und oft nicht über die nötigen Mittel. Auch wurde die Entlohnung der Lehrer damals, 1981, herabgestuft, was auch Auswirkungen auf die Renten hatte. Als dann der wirtschaftliche Aufschwung begann, wurden sie nicht angepasst. Und zwar bis heute nicht. Dadurch entstand die sog. historische Schuld, für deren Bezahlung die Lehrer im vergangenen November sogar gestreikt haben. Sie sind verärgert, weil sie zu wenig verdienen und schlecht leben. Ich halte ihren Kampf für sehr legitim."

    "Deshalb werden wir nicht für die Concertación stimmen. Da sind wir Lehrer uns einig. Sie haben uns schlecht behandelt. Seit Beginn der Demokratie haben wir der Regierungskoalition genügend Gelegenheiten gegeben, unsere Probleme zu lösen, sich die äußerst schlechten Bedingungen mal anzusehen, unter denen wir arbeiten müssen. Wir wollen nichts gratis haben, nur was uns, der arbeitenden Mittelschicht in Chile, zusteht. Und ich fordere das nicht nur für den Bildungsbereich, sondern für alle Werktätigen in diesem Land."

    Die Concertación hat sich lange auf ihrem ökonomischen Erfolg ausgeruht, hat den Status Quo gepflegt und die immer dringender werdenden Reformen bemäntelt oder nur zögerlich angepackt. Die politischen Eliten arrangierten sich mit dieser Situation, denn sie profitierten davon. Sie begnügten sich damit, ihre Machtpositionen in dem zunehmend verknöcherten System abzusichern. In den letzten Jahren wurde es immer brüchiger, und die Altherrenriege an seiner Spitze zeigte keinen Willen zur Erneuerung. Der Historiker Alfredo Jocelyn-Holt:

    "Zum ersten Mal können wir das Ende der Concertación absehen. Sie war eine sehr erfolgreiche Koalition und hat seit 1989 alle Wahlen gewonnen. Und alle aktuellen Kandidaten haben irgendeine Beziehung zu dieser Koalition. Der Verschleiß der Regierung ist jedoch gewaltig. Das Ausmaß an Korruption ist immer größer geworden und überall sichtbar, denn mit dem Ausmaß an Reichtum stieg auch der Grad an Korruption in der Regierung. Selbst der Staatsapparat ist immer ineffizienter geworden, weil die Funktionen nach Quote und nicht nach Fähigkeit vergeben werden. Und auch unser Wahlsystem repräsentiert längst nicht mehr die Gesellschaft, die immer pluralistischer geworden ist."

    Deshalb hat das Ergebnis des ersten Wahlgangs, in dem keiner der insgesamt vier Kandidaten die absolute Mehrheit erreichte, niemanden überrascht.

    Sebastián Piñera, Kandidat der rechten Opposition: 44 Prozent. Eduardo Frei, Kandidat der Concertación: 30 Prozent. Marco Enríquez-Ominami, unabhängiger Kandidat, früher Mitglied der Sozialistischen Partei: 20 Prozent. Jorge Arrate, Kandidat der Kommunisten, ebenfalls ein früheres Mitglied der Sozialistischen Partei: sechs Prozent.

    Noch nicht einmal ein Drittel der Wähler votierte in dieser ersten Runde für den Regierungskandidaten Eduardo Frei, den 67-jährigen Christdemokraten und ehemaligen Staatspräsidenten. Eine Mehrheit von 64 Prozent plädierte dagegen für die Wende. Dabei sind die 20 Prozent für den jüngsten Kandidaten von besonderem Gewicht. Marco Enríquez-Ominami, Parlamentsabgeordneter, ist aus seiner Partei ausgetreten, weil die Concertación keine innerparteiliche Demokratie praktizieren wollte. Der Politologe Arturo Fontaine:

    "Die Concertación hat es fertig gebracht, ein wirkliches Auswahlverfahren zu verhindern, bei dem der viel jüngere Marco Enríquez mit Frei hätte konkurrieren können. Und sie hat stattdessen mit Frei einen Kandidaten bestimmt, der völlig aus dem Rahmen fällt und die Zukunftsfähigkeit des Bündnisses gefährdet."

    Wie groß die Unzufriedenheit mit der Regierungskoalition ist, zeigt der Zustrom an Wählerstimmen, die Marco Enríquez-Ominami in einem halben Jahr und ohne etablierten Parteiapparat mobilisieren konnte. Er hat zwar sein Ziel nicht erreicht, am entscheidenden Wahlgang teilzunehmen, aber er hat die cariñocracia, die auf allseitige Übereinstimmung und Selbstgefälligkeit angelegte Demokratie, nachhaltig erschüttert. Und er hat durch seinen Aufstieg auf ein zentrales Problem des chilenischen Systems aufmerksam gemacht. Die Historikerin Verónica Valdivia Ortíz de Zárate:

    "Natürlich gibt es hier bürgerliche Freiheiten, werden Wahlen abgehalten, aber es ist keine 'Bürger-Demokratie', in der die Menschen aufgerufen sind, an einer im Wandel befindlichen Gesellschaft teilzuhaben. Michelle Bachelet hat in ihrer Präsidentschaftskampagne von 2005 ein Projekt von Regionalparlamenten vorgeschlagen, um die Bevölkerung stärker an politischen Debatten teilhaben zu lassen. Doch die Idee hat ihren Amtsantritt nur wenig überdauert. Ich glaube, dass der Gedanke an Bürgerbeteiligung alle Parteien ängstigt."

    Dennoch ist möglich, dass am morgigen Sonntag der Kandidat der Rechten, der Milliardär Sebastián Piñera, von einer Mehrheit der Chilenen ins Präsidentenamt gewählt wird. Das dürfte zwar nicht zu einem politischen Umsturz führen, denn sein Spielraum ist begrenzt: Er hat keine Mehrheit im Parlament. Seine Wahl könnte jedoch Wasser auf die Mühlen der Pinochet-Anhänger spülen, und deren Zahl ist nicht gering. Ihr erneutes Erscheinen auf der politischen Bühne wäre ein Rückschlag für die chilenische Demokratie und das Ansehen, das sie in 20 Jahren in aller Welt erworben hat.

    Doch noch hofft Eduardo Frei, der Kandidat der Concertación, zum zweite Mal auf den Einzug in die Moneda. Wie auch immer diese Präsidentenwahl ausgehen wird, die Altvorderen der Mitte-Links-Koalition werden danach ihre Versäumnisse überdenken und einer jüngeren Führungsschicht die Erneuerung ihrer Parteien überlassen müssen.