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"Mörder sind so gut informiert wie noch nie"

Für ihre Thriller-Serie um die Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta recherchiert die US-amerikanische Krimiatuorin Patricia Cornwell akribisch. Kürzlich war sie zu Recherchen im Gefängnis und "schockiert, wie viele Mörder meine Fans waren". Heute erscheint der neue Band "Bastard".

Patricia Cornwell im Gespräch mit Tobias Wenzel | 14.09.2011
    Ein Tatort, nachdem die Spurensicherung da war.
    Ein Tatort, nachdem die Spurensicherung da war. (Stock.XCHNG / Nate Nolting)
    Tobias Wenzel: In Ihrem neuen Buch, "Bastard" heißt es auf Deutsch, erfahren wir über Kay Scarpetta, dass sie mit einem Mörder verwandt ist. Ist das Böse genetisch bedingt?

    Patricia Cornwell: Das ist die große Frage. Niemand weiß es wirklich genau. Auch nicht in der Psychiatrie und der Genetik, wo man versucht herauszufinden, ob sich das Gehirn eines Serienmörders von Gehirnen anderer Menschen unterscheidet. Es hat wohl mit dem Erbgut, aber auch mit der Sozialisierung der Person zu tun, ihrer eventuellen Traumata. Wir wissen es nicht wirklich. Jemand, der mit einem Mörder verwandt ist, kann ein Heiliger sein, genauso, wie jemand, der von einem Heiligen abstammt, ein Mörder sein kann.

    Wenzel: So wie Scarpetta ja einen ungeheuren Gerechtigkeitssinn hat. Woher kommt dieser Gerechtigkeitssinn, der ja offensichtlich nicht nur bei Kay Scarpetta zu finden ist, sondern auch bei Ihnen?

    Cornwell: Ich weiß nicht, woher das kommt. Als Kind habe ich so einiges durchgemacht. Ich war sehr sensibel. Auch heute noch bedrücken mich grausame Menschen. Vielleicht bin ich so geboren worden. Aber ich ertrage einfach keine Grausamkeit, Tieren oder Menschen oder wem auch immer gegenüber. Deshalb schreibe ich vielleicht über Verbrechen, weil sie mich erschüttern. Auch Scarpetta ist ja die Antithese zu jemandem, der anderen Menschen schadet. Sie sieht es als ihre Lebensaufgabe an, für Gerechtigkeit zu sorgen und auch zu heilen. Das klingt jetzt sicher seltsam, weil ihre Patienten tot sind. Aber sie hat ja auch mit den Hinterbliebenen zu tun.

    Wenzel: Sie haben nun 20 Jahre diese Kay-Scarpetta-Romane geschrieben und haben unglaublich viel dafür recherchiert. Sind die Morde über die vielen Jahre grausamer geworden?

    Cornwell: Ich wüsste nicht, dass sie grausamer geworden wären. Die Fähigkeit der Menschen zur Grausamkeit ist wohl über tausende von Jahren relativ gleich geblieben. Allerdings glaube ich schon, dass unsere Gesellschaft in wachsendem Ausmaß von Gewalt beherrscht wird. Je öfter Menschen Verbrechen in Büchern und im Fernsehen begegnen, desto eher kommen sie auf dumme Gedanken. Ich denke vor allem an die Massenmorde in den USA, wo Leute an öffentlichen Orten zehn, elf, 20 Menschen getötet haben. Die Gewalt wächst also in der Gesellschaft. Aber die Menschen sind nicht grausamer als zuvor.

    Wenzel: Dieser Einfluss der Medien, geht der auch so weit, dass man sagen kann, diese Pathologen-Thriller und -Krimis, die man im Fernsehen sieht, in Büchern liest, beeinflussen sogar Mörder?

    Cornwell: Kriminelle sind sehr wohl von Medien beeinflusst. Sie kennen die Technologien, die an einem Tatort angewandt werden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Täter nach seiner Tat sich sehr genau säubert, die Kleidung vernichtet, weil er eben weiß, was DNS ist, dass nur ein Haar ihn verraten könnte. Zum Glück sind aber die meisten Kriminellen immer noch sehr unvorsichtig. Sie lassen oft klare Beweise zurück. Aber es stimmt: Mörder sind so gut informiert wie noch nie. Ich war kürzlich für Recherchen zu meinem nächsten Buch im Gefängnis und war schockiert, wie viele Mörder meine Fans waren. Ich weiß nicht, ob ich mich jetzt gut oder schlecht fühlen soll.

    Wenzel: Ich habe Ihnen vorhin die Frage nach dem Einfluss der Medien und speziell dieser Pathologen-Thriller auf potenzielle Mörder auch deshalb gestellt, weil ich vor einigen Jahren mit einem Mann von der Berliner Mordkommission gesprochen habe und er mir gesagt hat: Er kann an einigen Morden erkennen, dass Leute durchgedreht sind, weil sie fälschlicher Weise dachten, es sei so einfach jemanden umzubringen, so einfach, wie es zumindest vor einigen Jahren noch im Fernsehen gezeigt wurde. Ist Ihnen das bekannt?

    Cornwell: Ich habe nicht viele Fälle gesehen, bei denen ich das Gefühl hatte, der Mörder hat eine Mordmethode aus den Medien übernommen und dann aber festgestellt, dass sie in der Realität nicht so funktioniert wie im Film - auch wenn ich mir das gut vorstellen kann. Aber ich habe folgendes beobachtet: Viele Kriminelle gehen präziser vor als früher, weil sie wissen, wie ihnen die Polizei auf die Schliche kommen könnte. Vorbei sind die Tage, in denen Kriminelle nur darauf geachtet haben, keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Sie achten nun auf alles mögliche. Das erschwert der Polizei die Arbeit. Aber der Einfluss der Medien und Pathologen-Krimis auf die Bürger ist noch viel gravierender. Ich war schon an Tatorten, an denen die Opfer die Beweise für die Polizei sichern wollten und so den gesamten Tatort zerstört haben. Aber sie dachten: Wir sehen doch fern und wissen, wie man so etwas macht.

    Wenzel: Wir haben vorhin über den Gerechtigkeitssinn ihrer Figur und von Ihnen selbst gesprochen. Wie kam es dazu, dass Sie sich für Jack the Ripper interessierten. Hatte das auch etwas mit ihrem Gerechtigkeitssinn zu tun?

    Cornwell: Meine Nachforschungen zu Jack the Ripper sind eher zufällig entstanden. Ich war gerade in London und sprach mit jemandem von Scotland Yard, der sehr viel über den Fall wusste. Er führte mich zu den Tatorten von Jack the Ripper. Ich fragte ihn: Wer waren die Verdächtigen? Er nannten ein paar Namen. Und ich: Worauf fußen die Verdächtigungen? Und er: Auf gar nichts. Nur auf Theorien. Ich fragte: Gibt es denn heute noch Beweisstücke von damals? Die gibt es, sagte er: Hunderte von Briefen, die Jack the Ripper den Zeitungen und der Polizei geschickt hat. Da sagte ich: Ich würde gerne diese Briefe mit Methoden der modernen Wissenschaft analysieren. Darauf er: Sehen Sie sich mal genauer den Künstler Walter Sickert an. Der war schon vorher in Zusammenhang mit den Morden auffällig geworden. Er malte sehr brutale, morbide Gemälde. Als ich die Original-Briefe von Jack the Ripper auf Leuchttischen untersuchte und einige wissenschaftliche Tests an ihnen durchführte, war es einfach unglaublich, was ich sah. Ich musste weitermachen und bin bis heute davon überzeugt, dass Walter Sickert Jack the Ripper war. Jedenfalls hat er zweifelsfrei einige dieser Briefe geschrieben. Die Wasserzeichen sprechen eine klare Sprache. Also entweder hat er für etwas die Verantwortung übernommen, das er nicht getan hat, oder er war der Mörder.

    Wenzel: Wer auch immer der Mörder, wer auch immer Jack the Ripper wirklich war - klar ist, er war unglaublich brutal. Ganz besonders beim Mord an Mary Kelly. Kann man allgemein sagen, dass männliche Mörder grausamer sind als weibliche?

    Cornwell: Nein, ich glaube nicht, dass männliche Mörder grausamer sind als weibliche. Grausamkeit kümmert sich nicht um Geschlechter. Die Art und Weise der Grausamkeit unterscheidet sich aber. Männliche gewaltsame Angreifer setzten eher auf ihre Körperlichkeit, weil sie einfach stärker und oft auch aggressiver sind als Frauen. Frauen sind dafür diabolischer. Ihre Grausamkeit ist oft psychologischer Natur oder sehr lange geplant, wenn sie zum Beispiel Gift verwenden. Sie lassen ihr Opfer oft viel mehr leiden. Aber ich stimme Ihnen in folgendem zu: Der Mord von Jack the Ripper an Mary Kelly ist der blutigste und grausamste, den ich je gesehen habe. Es sind nämlich zwei Fotos vom Tatort erhalten. Ich habe sie einem ärztlichen Leichenbeschauer gezeigt und gefragt: Haben Sie schon mal etwas derartiges gesehen? Er antwortete: Nein. Mary Kelly wurde bis auf die Knochen enthäutet. Es ist einfach schrecklich, dieses bösartige, von Wut geleitete Verbrechen.

    Wenzel: Sind Tote verlässlicher als Lebende?

    Cornwell: Tote lügen nicht. Auf sie kann man sich mehr verlassen als auf die Lebenden. Wenn die Lebenden die Wahrheit sagten, bräuchten wir keine Gerichtsprozesse. Die Menschen würden einfach sagen, was sie gemacht haben - und das wär's. Aber Menschen sagen nicht die Wahrheit. Tote können dagegen nicht lügen. Aber wir können interpretieren, was sie uns sagen wollen: durch ihre Verletzungen, ihre Spuren, ihre Kleidung. Dann bemühen wir uns wie der Rosettastein die Hieroglyphen zu übersetzen. Manchmal gelingt es und manchmal nicht.