Handtellergroß, aus durchsichtigem Plastik, 384 kleine runde Vertiefungen. Martin Elstner, Doktorand an der Universität Jena, hält eine Mikrotiterplatte in der Hand. In dem chemischen Computer, den er entwickelt, ist die Platte so etwas wie die Platine, auf der der Prozessor sitzt. In den einzelnen Vertiefungen befinden sich Flüssigkeitströpfchen, in denen chemische Reaktionen ablaufen. Im konkreten Fall die Reaktion von einem Leuchtfarbstoff und einem sogenannten Fluoreszenz-Löscher, der mit dem Farbstoff interagiert und das Leuchten abschaltet.
"Wenn wir dann noch einen Zucker dazugeben, zu diesem Komplex aus Farbstoff und Fluoreszenz-Löscher, dann stört dieser Zucker diese Verbindung von den beiden, die Fluoreszenz wird wieder eingeschaltet und wir sehen dann eben ein Signal in Form von Licht."
Ob das Lichtsignal an oder aus ist, hängt also davon ab, ob der Zucker zugegeben wurde oder nicht. Eine Kamera liest das Ergebnis automatisch aus.
"Das ist sozusagen wie in einem Computer. Wir haben entweder ein Signal in Form von Fluoreszenz oder kein Signal. Das ist Null-Eins und damit können wir eben Bits darstellen."
0 und 1 auf chemisch
Mit diesen Bits rechnet der Zuckercomputer. Ein spezieller Algorithmus, den die Jenaer Forscher entwickelt haben, verknüpft die einzelnen Signale. Er basiert auf klassischen logischen Operatoren wie „und" und „oder" und beschreibt, wie eine bestimmte Kombination verrechnet wird. Wenn beispielsweise in Vertiefung A ein Signal zu sehen ist, was der 1 entspricht, in Vertiefung B aber nicht, was als 0 codiert wird, ist das Ergebnis nach der vorgegebenen Logik ebenfalls 0. Gibt es in Vertiefung A kein Signal, Vertiefung B leuchtet aber, ist das Ergebnis 1. Solche Vorschriften gibt es für alle möglichen Lichtmuster, auch solche, bei denen mehr als zwei Signale verrechnet werden.
Die Rechnung findet direkt auf der Plastikplatte statt. Die Verknüpfung der ersten beiden Signale entscheidet, ob in die nächste Vertiefung Zucker zugegeben wird oder nicht. Die Information wird also in chemischer Form weitergegeben und nicht, wie in normalen Computern, über elektrischen Strom. Das Ergebnis jedes Rechenschritts wird als Leuchten oder Nicht-Leuchten sichtbar und liefert damit die Eingabe für den nächsten. Dieses Vorgehen wird sooft wiederholt, bis alle Schritte im Algorithmus abgearbeitet sind und ein Endergebnis vorliegt. Das Prinzip lässt sich für verschiedene Anwendungen anpassen.
"Über den Algorithmus, den wir verwenden, können wir ja sozusagen die Verdrahtung der einzelne Töpfchen jedes mal neu entscheiden. Die Chemie, die abläuft, ist genau dieselbe, aber dadurch, dass wir dann eine andere Verdrahtung nehmen, ansonsten alles gleich lassen, können wir eben völlig verschiedene Dinge machen."
Zuckercomputer für biochemische Analysen
Dass das Rechnen mit Zucker prinzipiell funktioniert, haben Martin Elstner und seine Kollegen gezeigt. Sie haben 10 und 15 addiert und ein Programm geschrieben, mit dem sie gegen den Computer Tic Tac Toe spielen können. Derart komplexe Aufgaben nehmen mit dem chemischen Computer allerdings vergleichsweise viel Zeit in Anspruch. Für herkömmliche Anwendungen ist er deshalb schlechter geeignet als ein elektrischer. Gut einsetzbar wäre er aber bei biochemischen Analysen, bei denen mehrere eindeutige Ja/Nein-Antworten mit einer einfachen Logik verrechnet werden sollen. Ein großer Vorteil ist dabei, dass ein chemischer Computer verschiedene Signale wie die Konzentration von Hormonen oder Metallionen interpretieren kann, ohne dass sie zuerst in elektrische Signale umgewandelt werden müssen.
"Man könnte zum Beispiel sich verschiedene Enzymlevel im menschlichen Blut anschauen. Also in einem Schwangerschaftstest schaut man sich ja nur ein Enzym an, aber wenn man vier oder fünf verknüpfen kann und sagen kann: Das eine Level ist hoch, das andere Level ist niedrig und wir das dann chemisch verknüpfen können und am Ende eine Ja/Nein-Diagnoseantwort bekommen, das wäre schon sehr attraktiv."
Eine solche Analyse könnte später auch automatisch ablaufen, ohne dass die Chemikalien von Hand auf die Platte pipettiert werden müssen. Die Jenaer Forscher wollen als nächstes nach geeigneten krankheitsrelevanten Markern im menschlichen Blut suchen, um eine erste medizinische Anwendung des chemischen Computers zu entwickeln.